Anthologische Nationalpoesie. Der Beitrag von Lyrikanthologien zur Herausbildung von Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit

Anthologische Nationalpoesie. Der Beitrag von Lyrikanthologien zur Herausbildung von Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit

Organizer(s)
Dirk Rose, Institut für Germanistik, Innsbruck; Isabella Walser-Bürgler, Ludwig-Boltzmann-Institut für Neulateinische Studien, Innsbruck; Nicolas Detering, Institut für Germanistik, Bern
ZIP
6020
Location
Innsbruck
Country
Austria
Took place
In Attendance
From - Until
24.11.2022 - 25.11.2022
By
Katharina Worms, Germanistisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

An Anthologien lassen sich verschiedene Entwicklungen der Literaturgeschichte besonders gut studieren wie etwa Rezeptions- und Traditionsverhalten, die Konstituierung von europäischen Nationalliteraturen und das Verhältnis von Nationalliteratur und Latinität. Dies skizzierten auch ELISABETH DE FELIP-JAUD, Studienbeauftragte des Instituts für Germanistik der Universität Innsbruck, und FLORIAN SCHAFFENRATH, Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien, zur Eröffnung der von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten internationalen und interdisziplinären Tagung.

DIRK ROSE (Innsbruck) verwies in seiner Einführung auf die zunächst lange Zeit vorherrschende negative Sicht auf Anthologien als „Museen der Literatur“, in denen ein bestimmter Kanon an Literatur festgeschrieben sei. Vor allem die Überblicksanthologien des 19. Jahrhunderts prägten dieses Bild. Dagegen erkennt eine neuere Perspektive auf Anthologien diese als Ausdruck und Gestalter kultureller Werte, die gerade für unbekannte Dichterinnen und Dichter ein Forum für erste Veröffentlichungen boten und bieten. Insbesondere in der Frühen Neuzeit sind Anthologien Ausweis aktueller volkssprachlicher Dichtung und gehören somit zum kulturellen Gedächtnis einer Literaturepoche. Die Tagung sollte daher auch der Vorbereitung eines europäischen Forschungsnetzwerks von Lyrikanthologien im Zeitraum 1500–1800 dienen und knüpfte an eine erste Anthologie-Tagung aus dem Jahr 2015 an, aus der der Sammelband Gesammlet und ans Licht gestellet (Hildesheim u.a. 2019) hervorgegangen war.

ISABELLA WALSER-BÜRGLER (Innsbruck) gab aus der Perspektive der Neulateinischen Poesie eine Einführung in das Tagungsthema. Die Fülle an neulateinischen Anthologien der letzten Jahre, worin Ansätze zu modernen Kanonisierungsversuchen der neulateinischen Lyrik zu erkennen seien, knüpften letztlich an die frühneuzeitlichen Versuche an wie die bekannteste, neunbändige Anthologie von Janus Gruter, die auch Thema einiger der folgenden Vorträge wurde. Walser-Bürgler verwies auf die relevante Frage nach den Kontexten, in denen die neulateinischen Sammlungen entstehen, sei es aus politischen Motiven, begünstigt durch regionale Zirkel und Gesellschaften oder begünstigt durch Mäzenatentum. Walser-Bürgler adressierte die Unterscheidungsschwierigkeit von Anthologien, Kollektaneen, Sammlungen und Florilegien in der Hoffnung, neue Impulse aus der Untersuchung von Formen und Funktionen von Sammelliteratur zu gewinnen. Die begriffliche Unschärfe von Anthologien und anderer Sammlungsliteratur durchzog die gesamte Tagung, ohne dass eine Differenzierung in allen Fällen vorgenommen werden konnte.

Auf den komparatistischen Zugang der Tagung verwies NICOLAS DETERING (Bern) in seiner Einführung. Anthologien stellten Texte verschiedener Provenienz zusammen. So seien sie einerseits selektiv, beanspruchten andererseits jedoch eine gewisse Mustergültigkeit. Was also sind die Prinzipien ihrer Auswahl? Den Texten in Anthologien eigne eine gewisse Affordanz, das heißt, sie laden dazu ein, die in ihnen enthaltenen Texte zu vergleichen. Insofern bieten Anthologien eine Komparatistik zweiter Ordnung.

ANNA KATHRIN BLEULER (Salzburg) stellte in ihrem Beitrag die Kanonisierungsprozesse der mittelhochdeutschen Lyrik dar, an denen auch ihre Anthologisierung in der Frühen Neuzeit beteiligt war – etwa durch Johann Jakob Bodmers Anthologie Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts (1748) –, und die insgesamt zu dem Bild führten, das wir heute von mittelhochdeutscher Lyrik haben. Dieses beruht maßgeblich auf der Auswahledition von Karl Lachmann in Des Minnesangs Frühling. Lachmann nahm nur noch 21 Autoren der ursprünglich 140 des Codex Manesse (auch Große Heidelberger Liederhandschrift, Zürich 1300–1340) und der 81 Autoren in Bodmers Anthologie auf, und zwar nur solche deutsch-deutscher Herkunft, vereinnahmte sie also nationalideologisch. Durch die zahlreichen Neuauflagen der Edition Lachmanns und ihren Eingang in den universitären Lehrkanon der Mediävistik bleiben zahlreiche Autoren der ursprünglichen Überlieferung bis heute weitgehend unerforscht.

STEFANIE LETHBRIDGE (Freiburg) stellte in ihrem Vortrag über „Tottel’s Miscellany“ die Gedichtsammlung Songes and Sonnettes (London 1557) des Druckers Richard Tottel vor. Hierbei handelte es sich um eine Art Handbuch für zukünftige Dichter mit Modellen der mittelalterlichen Dichtungstradition wie auch englischen Adaptionen des petrarkistischen Modells und vernakularen Versexperimenten zur Beförderung der englischen Dichtungssprache. Die Sammlung ist somit ein Phänomen des Übergangs von internationalen, spätmittelalterlich geprägten poetischen Formen, zum Teil auf Latein, hin zu nationalen Vorstellungen von literarischer Praxis, die auf die „neue Poesie“ frühneuzeitlicher englischer Autoren vorausweisen. Tatsächlich gingen zwar die meisten Gedichte der Sammlung nicht in den nationalen Kanon über; andererseits finden sich einige daraus noch in Anthologien der Gegenwart wieder. Lethbridge setzte sich insbesondere mit den Spannungen und Interaktionen zwischen Volkssprache und Konstruktion einer kontinentalen, literarischen Vergangenheit in der Sammlung auseinander.

VALÉRIE LEYH (Namur) ging in ihrem Vortrag über Michael Hubers Anthologie Choix de poésies allemandes (1766) den Fragen nach, inwiefern auf Französisch verfasste Anthologien deutscher Dichtung zur Entwicklung der deutschen Nationalpoesie beitrugen. Michael Hubers vierbändige Anthologie entstand zu einer Zeit deutscher Mode in Frankreich. Ziel Hubers war es, einem französischen Publikum die deutsche Literatur näher zu bringen. So beginnt seine Anthologie mit einem Abriss der deutschen Literaturgeschichte. Die Rezeption der Anthologie zeigt die Reziprozität des Kulturtransfers zwischen Deutschland und Frankreich. So wirkt das Bild einer deutschen Literatur im Ausland durch diese (und andere) Anthologien auf die Kanonbildung im deutschsprachigen Raum zurück.

FRANCESCO LUCIOLI (Rom) behandelte in seinem Vortrag die zweibändige Anthologie Delitiæ CC Italorum poetarum (1608) von Janus Gruterus, die Texte von mehr als zweihundert italienischen Autoren versammelt. Jan Gruter wollte mit diesem Projekt einen Kanon der neulateinischen Poesie des 16. Jahrhunderts in Italien festschreiben und griff hierzu auf die Anthologie von Giovanni Matteo Toscano zurück, der zwischen 1576 und 1577 die Carmina illustrium poetarum italorum veröffentlichte. Gruter nutzte für die Zusammenstellung der Delitiæ andere Nationalanthologien europäischer Länder mit neulateinischen Texten und weitere Sammlungen. Im Vergleich von Toscanos und Gruters Anthologie wurde deutlich, dass Gruter neben den lateinischen Texten auch vernakulare Texte mit einer neulateinischen Übersetzung aufnahm.

LUCIE STORCHOVÁ (Prag) referierte zu lateinischen Anthologien im Verhältnis zu vernakularen in den böhmischen Ländern. Erste lateinische Anthologien erschienen in den böhmischen Ländern in den späten 1540er- und frühen 1550er-Jahren. Böhmische Studenten adaptierten Poesie, die sie in Wittenberg kennen gelernt hatten, an die neuen kulturellen und konfessionellen Kontexte in Prag. Die Gelegenheitsdichtung wurde zu einem weit verbreiteten Mittel der gelehrten Kommunikation, Patronage zu aquirieren, ein gelehrtes Netzwerk zu etablieren und die Gemeinschaft böhmischer neulateinischer Dichter zu repräsentieren. Eine der ältesten Sammlungen etwa ist das Carmen de sponsalibus Nicolai a Rubra Aquila (Wittenberg 1544) des Humanisten Matthaeus Collinus. Mit dieser Dominanz der neulateinischen Dichtung stellen die böhmischen Länder aber auch ein Gegenmodel zu den anderen europäischen Ländern dar, da es hier kaum Versuche der Gelegenheitsdichtung in den Volkssprachen (Tschechisch oder Deutsch) gab.

MARC LAUREYS (Bonn) fragte in seinem Vortrag über Janus Gruterus’ eigene Dichtungen in seinen Delitiae poetarum Belgicorum (1614) nach den Selektionsprinzipien der einzelnen Gedichte in den auf 15 Bände aufgeteilten Delitiae-Sammlungen: nach ihrer Anordnung und Klassifizierung, dem Verhältnis ihrer jeweiligen Textfassung zu früheren Ausgaben sowie den genauen Zielen und Ambitionen des Vorhabens. Laureys stellte dar, wie sehr das Projekt der Delitiae-Sammlungen einer gewissen Spannung zwischen europäischer Weitsicht (Dichtung in der lingua franca Latein) und nationaler Fokussierung (Darstellung der Fülle einer „eigenen“ nationalen neulateinischen Dichtung) unterlag, was Laureys unter dem Schlagwort „national internationalism“ fasste. Im zweiten Band der Delitiae C. poetarum Belgicorum, die eine Auswahl der Poeten aus den alten Niederlanden bieten, band Gruterus große Teile seiner eigenen Dichtung mit ein, die er dadurch gleichfalls als mustergültig ausgeben konnte. Allerdings ging es Gruterus wohl nicht so sehr um einen Dichterkanon, sondern darum, die internationale lateinsprachige Dichterlandschaft vorzustellen, zu dokumentieren und wohl auch zu bewahren, da die Vernakularsprachen sich zunehmend durchzusetzen begannen.

JÖRG ROBERT (Tübingen) sprach über das Florilegium variorum epigrammatum (1639) des Martin Opitz. Opitz’ letztes literarisches Werk, dessen moderne kommentierte Edition nun erstmals im Rahmen der Tübinger/Wolffenbütteler Hybridedition vorbereitet wird, folgt dem Formprinzip der humanistisch-neulateinischen Anthologie in der Nachfolge der Anthologia Graeca (z.B. Janus Gruter, Elias Cüchler). Opitz übersetzte für die zweibändige Sammlung griechische und lateinische bzw. neulateinische Epigramme ins Deutsche. Ihm kommt somit nur eine partielle oder eine multiple Autorschaft neben seiner Herausgeberschaft zu. Das dreisprachige Florilegium wurde intensiv rezipiert und durch Opitz’ Schüler Wenzel Scherffer von Scherffenstein um einen dritten Teil ergänzt. Das Spezifische an Opitz’ Arbeitsweise war, dass er erstmals die serielle Komposition neulateinischer Anthologien ins Deutsche übertrug und fortsetzte. Die historische Revue und serielle Anordnung deuten auf Opitz’ Selbstverständnis als Literaturhistoriker hin. Das Florilegium ist mithin eine kleine Literaturgeschichte qua Anthologie und hatte Einfluss auf die deutsche Epigrammatik bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.

BEATRICE GRÜNDLER (Berlin) stellte die illustrierte Fabelsammlung Kalīla wa-Dimna vor. Etwa um 300 v.Chr. zusammengestellt und ursprünglich auf Mittelpersisch (Palahvi) verfasst, wurde der Text seit dem Mittelalter nach und nach in beinahe jede europäische Sprache übertragen. Im Zuge der zahllosen Übersetzungen entstand jeweils eine etwas andere Adaption von Kalīla wa-Dimna. Die längste und umfangreichste der späteren Adaptionen im arabischen Raum machte Kalīla wa-Dimna zu einer Anthologie, die für ein breites Publikum ethische und praktische Ratschläge vermittelt. Eine wesentliche Aufgabe der Strukturierung des Textes übernehmen die Incipits, die Zusammenfassungen, kurze Abstracts oder auch Inhaltsverzeichnisse bieten. Der Text wird so zerlegt und in einzelnen, voneinander unabhängigen Teilen rezipierbar. Über die Incipits erfolgt also eine Art nachträgliche Anthologisierung des Textes, so die These Gründlers.

DIRK NIEFANGER (Erlangen-Nürnberg) befasste sich mit Julius Wilhelm Zincgrefs Anhang seiner nicht-autorisierten Martin-Opitz-Ausgabe der Teutschen Pöemata (1624), der ersten Anthologie deutschsprachiger Poesie. Zincgref verfolgte mit seiner Sammlung auch einen kulturpatriotischen Anspruch, er wollte die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Dichtung im europäischen Kontext unterstreichen und gleichzeitig ihre Vielgestaltigkeit aufzeigen. Viele Gedichte weichen nämlich von den Vorgaben der Opitzschen Literaturreform ab. Vorbild Zincgrefs könnten die Anthologien Jan Gruters gewesen sein. Die Wirkung von Zincgrefs Anthologie war jedoch im Vergleich zu Opitz’ Literaturreform marginal und stellt eher eine freundschaftliche Ergänzung dar als ein Konkurrenzunternehmen.

TOMASZ JABŁECKI (Breslau) untersuchte die Vorreden von Julius Wilhelm Zincgref, Benjamin Neukirch, Christian Friedrich Hunold und Christian Friedrich Weichmann zu ihren jeweiligen Anthologien sowie ihre programmatische Funktion für die Herausbildung der deutschen Nationalliteratur seit Opitz. Dabei legte Jabłecki den Schwerpunkt auf die sogenannte Neukirch’sche Sammlung: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte (Leipzig 1695–1727). Neukirchs Vorrede beginnt (wie auch diejenige Zincgrefs) mit einer kritischen Bestandsaufnahme der deutschen Dichtersprache und Literatur, die auch in Vergleich und Konkurrenz zu anderen europäischen Ländern bestehen solle. Antike sowie zeitgenössische ausländische und deutsche Dichter werden als Vorbild für die künftige Dichtergeneration genannt. Hunold und Weichmann wiederum kritisierten Neukirchs Vorrede und den galanten Stil, sie distanzierten sich von der Neurkirch’schen Sammlung, die so zu einem Fixpunkt der literarhistorischen Debatte bis hin zu Johann Christoph Gottsched wurde.

NORA RAMTKE (Bochum) thematisierte die Neukirch-Ausgabe von Johann Christoph Gottsched aus dem Jahr 1744 und verband dies mit Überlegungen zum Übergang von anthologischer Kanonisierung zu autorzentrierter Werkausgabe. In seiner Vorrede zur Neukirch-Ausgabe nimmt Gottsched eine kritische Gegenwartsdiagnose vor und verweist auf das „goldene Zeitalter“ der deutschen Poesie um 1700, das für ihn neben Neukirch selbst Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz und Johann von Besser repräsentieren, während Barockdichter wie Lohenstein oder Hoffmannswaldau als zu schwülstig kritisiert werden. Gottscheds Herausgeberschaft ist ebenso werkstrategisch wie literaturgeschichtlich motiviert. Ramtke stellte zur Diskussion, wie sich anthologische und autorzentrierte Sammlungslogiken auf die Herausbildung einer Nationalpoesie auswirken.

ENRICO ZUCCHI (Padua) sprach über Dichtungsanthologien in der italienischen Renaissance, die Petrarca als ein starkes volkssprachliches Modell für die Dichtung propagierten und Nachahmungen dieses Modells (Petrarkismus) zum Kanon erhoben, was wiederum parodistische Reaktionen in Anthologieform provozierte, die Rime piacevoli. Diese volkssprachlichen Anthologien nahmen in ironischer Weise Bezug auf zeitgenössische Gedichtanthologien und richteten sich in der Regel an die gleichen Rezipienten wie die übliche petrarkistische Dichtung. Zucchi untersuchte die Interaktion dieser Rime-piacevoli-Anthologien mit den petrarkistischen Gedichtanthologien und kam dabei auch auf Aspekte des Buchmarktes für Anthologien in der Frühen Neuzeit zu sprechen.

Die These des amerikanischen Historikers Larry Wolff, die er mit seinem Buch The Idea of Galicia (2010) aufstellte, Galizien sei zuerst Idee gewesen, bevor es Wirklichkeit wurde, lässt sich auch anhand von Anthologien verfolgen, so die These des Vortrags von ALOIS WOLDAN (Wien). Anthologien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ukrainische und polnische Folklore unter dem Sammelbegriff „Lieder des galizischen Volkes“ zusammenstellten, trugen dazu bei, das heterogene Gebilde Galizien, das 1772 bei der ersten Teilung Polens entstand, zu einer politischen und sozialen Einheit werden zu lassen. Nationalkulturelle Prägungen traten dabei gegenüber regionalen Eigenheiten in den Hintergrund.

JOHANN OOSTERMAN (Nimwegen) sprach über das Sammeln von Liedern Anfang des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden. Das bekannteste und umfangreichste Liederbuch der Niederlande, das im Druck erschien, ist das Antwerpener Liedboek („Antwerpener Liederbuch“) von 1544. Doch auch in den östlichen Regionen gab es eine reiche Liedkultur, wie das Zutphener Liederbuch (1537/38) und das Venloer-Geldrische Hausbuch (16. Jahrhundert) belegen. Während das Zutphener Liederbuch 48 Lieder und dutzende Sprüche versammelt, enthält das Venloer-Geldrische Hausbuch Sprüche, komische Texte, Kalendergedichte, Marienlob, und Liebeslieder. Daraus ergaben sich Fragen nach den Zentren der niederländischen Liedkultur im frühen 16. Jahrhundert, nach der Interaktion zwischen den verschiedenen Regionen und den Motiven der Sammler sowie nach dem Zusammenhang von gedruckten Sammlungen (wie dem „Antwerpener Liederbuch“) und handschriftlich kursierenden Anthologien, die der Vortrag von Oosterman diskutierte.

ADELINE LIONETTO (Paris) sprach über Anthologien im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, insbesondere über diejenigen, die bei Toussain du Bray verlegt wurden. In der Anthologie Le Recueil des plus excellents ballets de ce temps sind nur zeitgenössische Ballets aufgenommen, die unmittelbare Beziehungen zum Hof und zur politischen Situation in Frankreich hatten. Die zum Teil grotesken Produktionen sollten einerseits auf die politischen Konflikte hinweisen; andererseits distribuierten sie mit der Gattung des Ballets ein höfisch-hegemoniales Modell französischer Nationalkultur.

In der Abschlussdiskussion wurde noch einmal auf Anthologien als Phänomen in unterschiedlichen europäischen Kontexten hingewiesen, dessen Bandbreite die Vorträge sowie die vorgestellten Anthologien aufgezeigt hätten. Dabei fungiere die Anthologie sowohl als Medium für Tradition und Kanonbildung als auch für Innovation und Neuerungen. Frühneuzeitliche Anthologien wollten auf der Grundlage der Überlieferung die Poesie von heute und/oder morgen zeigen, fasste Dirk Rose zusammen. Offene Fragen in der Anthologieforschung betreffen die sprachen- und länderübergreifende Rezeption sowie die medialen Aspekte der Produktion, Distribution und Rezeption von Anthologien. Hier müsste auch der musikalische Bereich noch stärker mit einbezogen werden. Um diese und weitere Themen frühneuzeitlicher Anthologien in einem internationalen und interdisziplinären Austausch weiter verfolgen zu können, soll die Gründung eines europäischen Forschungsnetzwerks zum Thema „Anthologien in der Frühen Neuzeit“ sondiert werden, zu dem neben den Teilnehmer:innen der Tagung weitere Wissenschaftler:innen eingeladen werden sollen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Florian Schaffenrath (Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien), Elisabeth De Felip-Jaud (Studienbeauftragte, Institut für Germanistik)

Einführung – Introduction

Dirk Rose (Innsbruck), Isabella Walser-Bürgler (Innsbruck), Nicolas Detering (Bern)

Poetik und Programmatik
Moderation: Florian Schaffenrath

Anna Kathrin Bleuler (Salzburg): Vom „Codex Manesse“ zu „Des Minnesangs Frühling“: Nationalästhetische Kanonbildung der mittelhochdeutschen Lyrik

Stefanie Lethbridge (Freiburg): „Tottel’s Miscellany“: Between Tradition, Memory and the New Poetry

Valérie Leyh (Namur): Nationalpoesie durch Übersetzung. Michael Hubers Anthologie „Choix de poésies allemandes“ (1766) und ihre Rolle im deutsch-französischen Literaturtransfer

Transfers – Neulateinische und volkssprachige Anthologien
Moderation: Isabella Walser-Bürgler

Francesco Lucioli (Rom): Sources and Models of the „Delitiæ CC Italorum poetarum“ (1608) edited by Janus Gruterus

Lucie Storchová (Prag): Writing Latin and Vernacular Poetry in the Czech Lands (1550–1630): Dis/Continuities, Models and Social Functions

Marc Laureys (Bonn): Zwischen Anthologisierung und Eigenwerbung: Gruterus’ Dichtungen in seinen „Delitiae poetarum Belgicorum“ (1614)

Jörg Robert (Tübingen): Das „Florilegium variorum epigrammatum“ (1639) des Martin Opitz und die Tradition der Anthologie

Abendvortrag

Beatrice Gründler (Berlin): Eine uneigentliche Anthologie: „Kalila und Dimna“ als philosophisches Hausbuch

Literaturpolitik und Kanonbildung
Moderation: Nicolas Detering

Dirk Niefanger (Erlangen-Nürnberg): „Zu einem Muster und Fürbilde“. Zincgrefs „Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten“ von 1624

Tomasz Jabłecki (Wrocław): Von Opitz bis Hunold – programmatische Ansätze zur Etablierung der deutschen Nationalliteratur in Lyrikanthologien

Nora Ramtke (Bochum): Auserlesene Gedichte: Gottsched, Neukirch und „das güldene Alter unserer Poesie“

Enrico Zucchi (Padua): Beyond the Canon: the authoritative role of poetry anthologies challenged by the Italian tradition of the „Rime piacevoli“

Alois Woldan (Wien): The Idea of Galicia – der Beitrag von Anthologien zur Bildung einer galizischen Identität

Text, Musik, Repräsentation
Moderation: Dirk Rose

Johann Oosterman (Nijmegen): Antwerpen, Zutphen, Venlo und Geldern. Das Sammeln von Liedern in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts

Adeline Lionetto (Sorbonne Paris): Une entreprise audacieuse: „Le Recueil des plus excellents ballets de ce temps“ (Toussaint du Bray, 1612)

Abschluss

Dirk Rose (Innsbruck), Isabella Walser-Bürgler (Innsbruck), Nicolas Detering (Bern): Schlussdiskussion und Ausblick auf ein europäisches Forschungsnetzwerk Anthologien 1500–1800

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