Nach der Begrüßung und einer kurzen inhaltlichen Einführung durch die Organisatoren eröffnete BRITTA MISCHKE (Köln) die Tagung. Sie präsentierte die in Italien entstandene Rechtssammlung der Collectio Thuana, welche die Leges Langobardorum sowie fränkische Kapitularien enthält. Als besonders erwähnenswert hob sie die mangelhafte Textqualität der Handschrift hervor. Neben orthografischen Fehlern seien vor allem semantisch relevante Varianten zu beobachten. Mischke bewertete diese Abweichungen als außergewöhnlich, da sie teilweise sogar den Sinn des Textes ins Gegenteil des ursprünglich Intendierten verkehren. Es stelle sich also die Frage, ob der Schreiber unfähig war oder den Text eher bewusst verändern wollte. Darüber hinaus sprach Mischke über die Abhängigkeiten der Codices Paris, BnF, Lat. 4613 und Vatikan, BAV, Reg. Lat. 263 und schlug vor, dass das Fragment der Handschrift aus dem Vatikan ursprünglich zur Pariser Handschrift gehörte. Dafür sprächen ähnliche Kompilationstechniken wie das Zusammenfassen mehrerer, nicht zusammengehörender Kapitelverzeichnisse in Listen mit durchgehender Kapitelzählung sowie das Einschieben von Zusätzen. Der sinnvolle Zusammenhang dieser Zusätze lasse sich nicht immer sicher erkennen. Da sie aber zumindest teilweise thematisch passend scheinen, identifizierte Mischke sie als frühe Form der Rechtskommentierung. Diese Funktion spräche – anders als die sinnentstellenden Varianten – für die bewusste Bearbeitung des Textes durch den Schreiber.
Danach behandelte THOMAS GOBBITT (Wien) die Handschrift Vatikan, BAV, Vat. Lat. 5359. Er äußerte seine Überlegungen zu der Frage, wie viele Hände in der Handschrift zu identifizieren seien. Gobbitt wies darauf hin, dass die Frage nach der Anzahl der an der Handschrift beteiligten Hände in der Literatur oft nicht erörtert wurde, Diskrepanzen zwischen den postulierten Zahlen zu beobachten seien oder diese Frage ungenau beantwortet werde. Der Unsicherheit im Diskurs konnte Gobbitt zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einer klaren Antwort entgegentreten. Seine bisherigen Beobachtungen lassen ihn vermuten, dass es sich nicht um mehr als drei Schreiber handeln dürfte. Im Zuge dieser Überlegungen wurde eine weitere Perspektive auf die Bestimmung der Anzahl von Händen eröffnet, denn Gobbitt konstatierte, dass Veränderungen im Schriftbild nicht auch zwangsläufig ein Wechsel des Schreibers bedeuteten. Materielle Einschränkungen hätten zu Schreibpausen führen können und damit – bedingt durch den Tausch von Instrumenten und Material – zu veränderten Schreibbedingungen. Dadurch sei es möglich gewesen, dass ein einziger Schreiber signifikante Abweichungen in seiner Schrift hervorgebracht habe, die später als ein Wechsel der Hand identifiziert wurden.
MAGALI COUMERT (Tours) stellte die Excerpta de libris Romanorum et Francorum vor, eine Sammlung von Texten vornehmlich zivil- und strafrechtlichen Inhalts. Diese erscheinen in sechs Handschriften neben bretonischen und irischen Texten wie der Collectio Hibernensis. Die Excerpta wurden als Sammlung verschiedener Texte vermutlich auf dem Festland überliefert. Somit weisen sie Einflüsse von spätantiken sowie fränkischen Rechtstexten auf. Gleichwohl argumentierte Coumert, dass bretonische Glossen auf den Gebrauch im Nordwesten Europas verweisen; auch bretonische Schreibernamen seien überliefert. Vermutlich tauschte man innerhalb dieser Gemeinschaft die Texte und Handschriften aus und versuchte, sie durch Kommentare zur besseren Benutzung aufzubereiten. Dies führte zu tiefgreifenden Unterschieden zwischen den Handschriften. Coumert zog den Vergleich zum Rezeptionsprozess der Lex Salica, bei der die interpretatorischen Freiheiten der Schreiber ebenfalls zu verschiedenartigen Texten geführt hätten. Daher sah Coumert in den Excerpta eine Brücke zwischen insularer und kontinentaler Rechtspraxis.
Anschließend befasste sich DANIELA SCHULZ (Wolfenbüttel) mit der Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 50.2 Aug. 4°. Nach einem Überblick über den Inhalt des Codex beschäftigte sich Schulz mit dem auffälligen Sondergut dieser Handschrift. So umfasse das Titelverzeichnis der Lex Salica 71 Titel, wobei der 71. Titel De invictu stricto auch in verwandten Handschriften auftauche. Im Wolfenbütteler Codex habe er aber auffällige Zusätze. An anderen Stellen begegnen ebenfalls abweichende Lesarten, diese könne man allerdings nicht sicher in die Tradition einordnen und somit Abhängigkeiten herausarbeiten. Ferner habe der Codex deutliche Benutzungsspuren: An verschiedenen Stellen befinden sich Maniculae, deren Auftauchen jedoch nicht einem nachvollziehbaren System unterliege, sodass keine spezifische thematische Ausrichtung abzuleiten sei. Schulz dekonstruierte zudem überzeugend die lange postulierte Provenienz der Handschrift aus dem Kloster Weißenburg und wies stattdessen darauf hin, dass die Erwähnung dreier Namen auf fol. 37r möglicherweise weitere Hinweise geben könne, sofern sich die Namen alle einem einzigen Gebiet zuordnen ließen. Dies sei aber bislang noch nicht gelungen.
Der letzte Vortrag des ersten Tages beschäftigte sich mit der in der Handschrift Paris, BnF, Lat. 2123 überlieferten Formelsammlung aus Flavigny, deren systematische Zusammenstellung HORST LÖSSLEIN (Hamburg) und CHRISTOPH WALTHER (Hamburg) rekonstruierten. Die Intention der Sammlung sei eine Zusammenstellung mit für das Kloster relevanten Texten, die sowohl geltendes Recht als auch Texte zu Lehre und Disziplin enthalte. Dass diese Zusammenstellung ein Vorbild gehabt haben müsse, begründeten Lößlein und Walther mit dem zu Beginn stehenden Kapitelverzeichnis, welches Kapitel nennt, die in der nachfolgenden Sammlung fehlen. Die Vorlage müsse vollständig gewesen und möglicherweise aufgrund von Redundanzen gekürzt worden sein. Dabei handele es sich nicht um die einzige Redaktion aus Flavigny. Lößlein und Walther konstatierten eine Priorisierung des Materials, aus dem die Sammlung zusammengestellt wurde: Die Vorlage, eine erweiterte Marculf-Sammlung, sei um Exzerpte der Formelsammlung aus Tours sowie um eigene Formulae aus Flavigny ergänzt worden, wobei man bei Dopplungen das eigene Material vor den beiden anderen und Tours wiederum vor Marculf bevorzugte. So habe man auf der Inhaltsebene versucht, Redundanzen zu vermeiden. Die ursprüngliche Ordnung der Texte sei der Vorlage entsprechend beibehalten worden, nur in Ausnahmefällen wurde Material aus Flavigny an anderer Stelle platziert, um dessen Relevanz durch die Positionierung an prominenteren Stellen innerhalb der Sammlung hervorzuheben. Sie stellten somit einen neuen Typus einer Formulae-Sammlung vor, der bei der Redaktion ältere Texte sowie neue Formeln eingefügt, dabei allerdings weitgehend die ursprüngliche Anordnung beibehalten und nur in Ausnahmefällen eigenes Material priorisiert habe.
Im ersten Vortrag des zweiten Tages nahm HELENA GEITZ (Mainz) die Collectio Vetus Gallica in den Blick, eine im 7. Jahrhundert entstandene systematische Kirchenrechtssammlung. Geitz beleuchtete in ihrem Vortrag die sogenannte Corbie-Redaktion, eine Bearbeitung der Sammlung aus dem 8. Jahrhundert mit verschiedenen neu hinzugefügten Texten. Dabei handelt es sich um einige ergänzende Canones sowie ein gänzlich neues Kapitel zum Thema Buße. Besondere Beachtung erfuhr der Abschnitt zur Synode von Gregor II. aus dem Jahr 721, in dem einige Streichungen sowie textliche Neuschöpfungen vorgenommen wurden. Geitz verdeutlichte dies mit einigen von der Corbie-Redaktion abhängigen Handschriften, die diese Abweichungen ebenfalls enthalten. Die systematischen Bearbeitungen seien nicht zufällig erfolgt, sondern planvoll eingefügt worden. Fraglich bleibe, aus welchem Grund man jene Änderungen vorgenommen und nach welcher Systematik man die Zusätze ausgewählt habe. Dieses bewusste Verändern päpstlicher Dekrete werfe zudem einen kontroversen Diskurs auf: Möglicherweise wurde mutwillig versucht, die päpstliche Autorität zu untergraben. Abschließend wies Geitz darauf hin, dass die in Corbie unternommenen Bearbeitungen einzigartig seien und helfen könnten, weitere Fragen bezüglich der Abhängigkeiten zu weiteren Sammlungen zu klären.
BENEDIKT LEMKE (Köln) referierte über die Handschrift Paris, BnF, Lat. 4627, die er als lebendiges Rechtshandbuch zwischen Recht und Liturgie bezeichnete. Er datierte die Entstehung der Handschrift zwischen 818 und 825 und nannte Sens auf Basis seiner Untersuchungen als Herkunftsort. Hervorzuheben sind Lemkes Bemerkungen zu den deutlichen Gebrauchsspuren des Codex. Sie seien ein klarer Indikator für eine lange Nutzungsgeschichte, die das zeitgenössische Interesse für den Text verdeutliche. Über zwei Jahrhunderte sei die Handschrift in regelmäßigem Gebrauch gewesen. Die spätere Ergänzung von Gottesurteilen spreche für eine kontinuierliche praktische Nutzung. Der Codex könne daher als Vorlage für Urkunden und Briefe sowie als handlicher, normativer Leitfaden gedient haben. Ferner sah Lemke in der Handschrift mit dem Nebeneinanderstehen von rechtlichen und liturgischen Texten ein Zusammenwirken von Recht und Liturgie, von notarieller und klerikaler Praxis. Dies führte Lemke dazu, die Rolle des liturgischen Sonderguts der Handschrift zu diskutieren: Der Vorwurf der thematischen Inkohärenz sei anachronistisch, der Grenzbereich zwischen Recht und Liturgie fließend. Daher könnten liturgische Texte als formelhaft verstanden werden, sodass sie nicht getrennt von weltlichen Formulae betrachtet werden sollten.
SVEN MEEDER (Nijmegen) bezog sich in seinem Vortrag auf die Collectio Burgundiana, eine kleinere kanonistische Sammlung, die von der Frühmittelalter-Forschung oftmals als unstrukturiert und planlos zusammengestellt bewertet wurde. Die unikale Überlieferung in der Handschrift Brüssel, KBR, MS 8780–8793 aus dem späten 8. Jahrhundert weise zwar eine durch Initialen gegliederte, überschaubare Struktur auf. Aufgrund des Fehlens eines Kapitelverzeichnisses und Überschriften zu einzelnen Textabschnitten sowie der Vielfalt an aufgenommenen Texten stellte Meeder die Frage, ob diese Sammlung konzeptionell zusammengestellt wurde oder dynamisch beim Kopierprozess entstand. Die Handschrift umfasst sowohl Bußbücher als auch Kanones einiger gallischer Konzilien sowie dogmatische Texte. Da sie vor allem die Konzilstexte nur in ausgewählten Passagen ohne Titel tradiert und nicht den Konzilien entsprechend chronologisch angeordnet wurde, argumentierte Meeder für eine systematisch-thematische Sammlung als Beispiel für die frühen Anfänge des thematischen Bündelns von normativen Texten: Während der Schreiber zwar inhaltlich irrelevante Kanones strich, führte er keine Neuordnung oder Betitelung der Texte durch. Daher handelte es sich um eine thematische Ordnung, die vermutlich als Einführung an Priester des niederen Klerus gerichtet worden sei. Diese thematische Ordnung bestehe jedoch ab einem gewissen Punkt in der Handschrift nicht mehr; man kopierte Texte nun vollständig und ordnete sie chronologisch an. Für diesen Bruch verantwortete Meeder einen Schreiberwechsel: der zweite Schreiber habe die Intention des ersten nicht gekannt und somit nicht weiterverfolgen können. Er schlug vor, die Sammlung nicht als planlos, sondern als Ergebnis der zielgerichteten, teils thematischen, aber untereinander unkoordinierten Arbeit verschiedener Schreiber aufzufassen.
TILL STÜBER (Berlin) befasste sich mit der Collectio sancti Amandi, einer spätmerowingischen Konzilssammlung. Zunächst zeigte Stüber, dass die Sammlung die Konzilien chronologisch anordne und suchte zu erklären, welche Irrtümer vorkommende Abweichungen begründet haben. Zudem argumentierte er für die Herkunft der Sammlung aus Sens: Einerseits trage die Handschrift Paris, BnF, Lat. 1455 – die älteste Abschrift der Sammlung – in den Unterschriftenlisten Markierungen bei den Bischöfen von Sens, was auf die Entstehung der Handschrift ebendort hinweise. Andererseits weiche der Kompilator der Collectio sancti Amandi an einem Punkt von seiner Vorlage ab und nehme einen anderen Konzilsbeschluss auf. Stüber interpretierte diesen als wichtigen Hinweis auf den Entstehungsort der Sammlung, da der Beschluss die Durchsetzungskraft des Bischofs von Sens innerhalb der gesamten Diözese bestärke. Zugleich konnte Stüber wichtige Erkenntnisse für die Frage nach den Abhängigkeiten der Sammlung von Saint-Amand festhalten. Er identifizierte die Collectio Remensis als Vorlage, da eine Abschrift der Collectio sancti Amandi (Berlin, SB, Ham. 132) in Unterschriftenlisten parallel zur Überlieferung der Reimser Sammlung Lücken enthalte. Zudem weise die älteste Abschrift der Collectio sancti Amandi Beziehungen zur Collectio Remensis auf, die spätere Codices nicht mehr enthalten, was Stüber mit der Annäherung der Handschrift an die Collectio Hispana Gallica Augustodunensis begründete. Ferner postulierte er, dass Rechtssammlungen nicht isoliert betrachtet werden sollten, da sie erst durch den wechselseitigen Vergleich erschließbar seien.
Den Abschluss bildete ein Exkurs in die Byzantinistik. ZACHARY CHITWOOD (Mainz) bot einen einführenden Überblick zur Forschungssituation von Rechtshandschriften aus dem byzantinischen Reich. Er thematisierte die Schwierigkeit, an Handschriften zu gelangen. Dies sei der fehlenden Kontinuität einer bewahrenden Infrastruktur durch die Zäsur der osmanischen Eroberung zuzuschreiben. Eine Ausnahme bilde die orthodoxe Mönchsrepublik Athos, welche Chitwood ausführlich vorstellte. Diese autonome Region ist im Besitz von zahlreichen dezentral aufbewahrten Codices. Besonders relevant seien private Rechtsdokumente wie z.B. Testamente, da diese einen Einblick in die Rechtspraxis gäben. Im Falle der Region Athos verweisen diese Testamente beispielsweise auf den Privatbesitz von Mönchen, die in den Dokumenten eher wie Privatpersonen wirkten. Der Grund dafür sei der geringere Einfluss von Augustinus im byzantinischen im Gegensatz zum weströmischen Reich. Neben normativen Rechtsquellen seien solche Quellen wichtig, um die Dimensionen des byzantinischen Rechts zwischen Norm und Praxis vollständig verstehen zu können.
KARL UBL (Köln) fasste die Ergebnisse der Tagung zusammen und ordnete sie in einen weiteren Kontext ein. Die Tagung habe gezeigt, dass die Rechtsgeschichte stark vom „codicological turn“ geprägt sei, da zunehmend einzelne Handschriften und deren spezifische Inhalte erfasst werden. In diesem mikroskopischen Zugang sah Ubl einen produktiven Weg für die frühmittelalterliche Rechtsgeschichte. Ferner betonte er das breite Spektrum von Gebrauch und Funktion der Handschriften sowie die durchaus divergierende Bildung der Schreiber:innen der Codices, die teilweise über ein solides Rechtsverständnis verfügten.
Konferenzübersicht:
Dominik Leyendecker (Köln) / Dominik Trump (Köln): Begrüßung und Einführung
Britta Mischke (Köln): Zerpflückt und durch einen „skrupellosen Transmitter“ entstellt: Die Fragmente der italienischen „Collectio Thuana“
Thomas Gobbitt (Wien): Scribal Hands or Scribal Stints: Vatican, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Vat. Lat. 5359
Magali Coumert (Tours): Producing Norms in Carolingian Brittany
Daniela Schulz (Wolfenbüttel): Never Judge a Book by its Cover. Some Observations on Cod. Guelf. 50.2 Aug. 4
Horst Lößlein (Hamburg) / Christoph Walther (Hamburg): Eine Formelsammlung aus Flavigny und die „Rechtshandschrift“ Paris, BnF, Lat. 2123 – Die Genese der Sammlung und ihr Überlieferungskontext
Helena Geitz (Mainz): Päpstliches Recht vs. eigene Initiative: Die Synode von 721 im Rahmen der Corbie-Redaktion der Collectio Vetus Gallica
Benedikt Lemke (Köln): Paris, BnF, Lat. 4627 – Ein lebendiges Rechtshandbuch zwischen Recht und Liturgie
Sven Meeder (Nijmegen): Mehr als die Summe seiner Teile: Kirchenrecht in praktischen Handbüchern
Till Stüber (Berlin): Die Collectio sancti Amandi und ihre pseudoisidorischen Ergänzungen (Berlin, Ham. 132 und Paris, BnF, Lat. 1455)
Zachary Chitwood (Mainz): Imperial Imprimatur: The Byzantine State, the Earliest Athonite Legal Documents and Legal Pluralism, 9th–10th Centuries
Karl Ubl (Köln): Zusammenfassung und Ausblick