Die Beiträge der Sektion „Neue Zeiten, andere Ordnungen. Zur Neuordnung der Vergangenheit in politischen Umbrüchen“ setzten sich mit Vergangenheitserzählungen von Akteur:innen in Mittel- und Osteuropa nach politischen Umbrüchen auseinander. Die Referenten und Referentin nahmen insbesondere Herrschaftswechsel der Neueren und Neuesten Geschichte in den Blick und behandelten die Umformung juristischer, sozialer und politischer Ordnungen im Raum zwischen Oder und Weichsel. Die diskutierten Fallbeispiele beleuchteten, wie französische Revolutionäre, polnische Eliten und die Warschauer Stadtbevölkerung, preußische Besatzer, zivile und militärische Akteur:innen in Posen sowie Historiker:innen im poststalinistischen Polen auf neu politische Rahmenbedingungen reagierten. Dabei lag der Fokus auf zeitgenössischen Neubewertungen der Vergangenheit im Strudel politischer Neuordnungen. In sogenannten ‚Zeitenwenden‘, so die allen Beiträgen gemeinsame These, suchen Akteur:innen ihr Material für die Legitimation oder Delegitimierung von Herrschaft in der Vergangenheit. Sie nutzen Vergangenheit daher als narratives Material und bewerten historische Tatsachen nach aktuellen Gesichtspunkten, um auch wiederum richtungsweisende Entscheidungen zu treffen. Die Sektion verortete sich im Themenfeld des Historikertags 2023, indem sie die Fragilität von Fakten anhand von Beispielen der Neuordnung historischen Wissens illustrierte.
CHRISTIAN DIETRICH (Halle-Wittenberg / Frankfurt an der Oder) fragte ausgehend von der Beobachtung, dass neue Vergangenheitsinterpretationen oft auf einen Erwartungsbruch in der Gegenwart reagieren, danach, wie die Vergangenheit als Material für politische Neubewertungen und Herrschaftslegitimationen im langen 19. Jahrhundert verwandt wurde. Zentraler Begriff seiner Ausführungen war der Denkmalsturz. Dietrich begann seine Ausführungen mit dem beispielhaften Ereignis, das das lange 19. Jahrhundert einleitete: der Sturm auf die Bastille. Der richtete sich stärker gegen das Herrschaftssymbol als gegen die funktionierende Herrschaftsinstitution und bildete den Auftakt einer langen Auseinandersetzung mit monarchistischen Denkmälern. Noch in den Revolutionsjahren habe sich eine Diskussion über kulturelles Erbe und politischen Neubeginn entsponnen, in deren Verlauf sich der Gedanke, Objekte müssten kommentiert statt zerstören werden, durchsetzte.
Dietrich griff damit auf Ausführungen von Winfried Speitkamp zurück. Dessen Typologie des Denkmalsturzes erweiterte er um „subversive kulturelle Praxen“. Die von Dietrich präsentierten historischen Fallbeispiele plausibilisierten, dass bei der Etablierungsphase neuer Herrschaftsformen, eine Neuausrichtung symbolischer Ordnungen stattfinde, die sich aber weiterhin an alten Ordnungen orientiere und mit ihr korrespondiere. Dietrich resümierte, dass im Umgang mit der Vergangenheit, auch eine Zukunft skizziert werden könne und dies zumeist in einem Moment geschieht, in dem Zeitgenossen zwar einen Erwartungsbruch feststellen können, jedoch nicht wüssten, wie die zukünftige Ordnung aussehen und welche Legitimationsquellen sie nutzen werde.
CLAUDIA KRAFT (Wien) widmete sich in ihrem Vortrag den Reaktionen polnischer Eliten auf die Einführung des Code Civil, den daraus resultierenden Selbstentwürfen und neuen Vorstellungen von Staatlichkeit und Gesellschaft. Die Gültigkeit des Zivilgesetzbuchs war nach dem Ende der polnischen Adelsrepublik 1795, in den Jahren des Napoleonischen Satellitenstaats zwischen 1806 und 1815 von kurzer Dauer. Die Referentin fragte danach, wie Recht als eine transformative Ressource fungierte und beschrieb, wie das neue Zivilgesetzbuch im Herzogtum Warschau von den polnischen Eliten genutzt wurde, um gesellschaftlichen Rang zu legitimieren.
Ausgehend von der Annahme, dass sich erlebte und betrachtete Geschichte immer im Spannungsfeld von Faktizität und Fiktionalität bewege, verwies die Historikerin zu Beginn ihres Vortrages darauf, dass der polnische Adel entscheidender Akteur der Neubewertung gewesen sei. Ihm ging es vor allem um staatliche Souveränität und weniger um Nationalitätsfragen. Kraft beschrieb an Fallbeispielen, wie die Akteure Rechtsdiskurse nutzten, um in politischen Machtpositionen zu bleiben oder gar in neue zu gelangen; wie sie die Sprache des Rechts einsetzten, um ihre politischen Anliegen zu formulieren.
Die Einführung des Code Civil setzte der Gleichsetzung von Staat und Adel und damit einer bestimmten Herrschaftsbeziehung ein Ende. Vor den Teilungen stand der Adel für den Staat. Das habe sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts geändert. Die polnischen Eliten modifizierten nach der Einführung des Code Civil ihre Legitimationsbegründungen, um ihre Herrschaft und den Machterhalt zu begründen. Zu den genutzten Narrativen gehörte die Beschwörung von Effizienz. Die Figur des adeligen Experten, der als Rechtexperte über spezifisches Spezialwissen verfügte und dadurch seine gesellschaftlichen Positionen rechtfertigte, erlebte Konjunktur. Daneben verwies die Referentin auf Rechtskulturen, die Recht als eine transformative Ressource sichtbar machten. So war auch eine affirmative Annahme des Code Civil möglich, um sich selbst zum Schützer der Rechtsordnung aufzuschwingen und die eigene Herrschaftsfunktion zu legitimieren. Die gewählten Beispiele unterstrichen, dass Recht zum Gegenstand von Umbruchserzählungen werden kann.
Der dritte Vortrag nahm ebenfalls Warschau, jedoch während des vorausgehenden Zeitraums in den Blick – die Stadt war infolge der dritten Teilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik preußisches Besatzungsgebiet geworden. MARKUS NESSELRODT (Frankfurt an der Oder) untersuchte in seinem Beitrag preußische Deutungsversuche und ihre Wirkmächtigkeit auf die nicht-preußische Stadtbevölkerung.
Die symbolische Aneignung der Stadt erfolgte mit einer doppelten Zielrichtung, so Nesselrodt. Zum Einen sollte die polnische Bevölkerung zu Untertanen gemacht, zum Anderen das neue Regime als positiv für die einheimischen Bürger:innen gedeutet werden. Das Ziel der preußischen Monarchie war die Integration des polnisch besiedelten Gebiets in den bestehenden Herrschaftsapparat. Der preußische Minister von Hoym empfahl dem Monarchen Friedrich Wilhelm III., die Regierung solle sich auf Finanzpolitik und Bildung konzentrieren, um die polnische Bevölkerung zur Loyalität zu bewegen. Die Quellen, führte Nesselrodt aus, offenbarten einen patriarchalischen Blick und Konzepte einer zivilisatorischen Mission, die mit einer Gegenüberstellung von „Wilden“ und „Zivilen“ einherging. Gekoppelt war dies mit dem Narrativ eines Wegs der Zivilisierung – mit dem Glaube an eine teleologische Entwicklung preußischer und neu besetzter Gebiete. Dabei enthielt der missionarische Imperativ, so Nesselrodt, die Idee, dass sich die lokale Bevölkerung in eroberten Gebieten an den Rändern von Imperien angleichen würde. Zeitgenossen sahen sich in der Tradition der Aufklärung. Tatsächlich aber wurde die polnische Bevölkerung von den preußischen Eroberern nicht nach ihrer Meinung gefragt.
Ausgehend von den Vorhaben der preußischen Politik, widmete sich der Vortrag im zweiten Teil der Frage nach der Umsetzung dieser Zivilisationsmission im Alltag. In Warschau waren die Soldaten die sichtbaren preußischen Repräsentanten. In der Wahrnehmung polnischer Zeitgenossen ging die Besatzung jedoch mit einem Bedeutungsverlust einher, denn die Stadt war zur Provinzstadt geworden und stand unter fremder Herrschaft. Dem entgegen standen preußische Versuche, die polnische Vergangenheit zu überschreiben. Wie Nesselrodt analysierte, handelte es sich dabei nicht um ein umfassendes Programm, sondern um situative Praktiken und symbolische Handlungen, die einen Umbruch sichtbar machten. Eine öffentliche Rede legte beispielsweise den polnischen Zeitgenossen die Huldigung des preußischen Königs nahe, in dem es die polnisch-litauische Adelsrepublik als „failed state“ beschrieb. Der Eindruck eines preußischen Zeitgenossen war jedoch, dass bei der Zeremonie keine Feierstimmung aufkam, sondern angesichts dieser Umdeutung der Vergangenheit traurige Stille dominierte. Begeisterung habe weder in den Ständen noch in der Stadtbevölkerung geherrscht.
SEBASTIAN ELSBACH (Jena) thematisierte ebenfalls Geschichtsbilder, die zur Legitimierung von Herrschaftsansprüchen genutzt wurden. In seinem Vortrag widmete sich Elsbach dem Posener Aufstand um 1918/19. Elsbach steckte zunächst die historischen Rahmenbedingungen ab: Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde auch mit deutschem Einverständnis ein polnischer Staat geschaffen. Nach dessen Gründung im November 1918 war absehbar, dass sich Posen angliedern würde. Das mehrheitlich polnisch-sprachige Gebiet sollte jedoch völkerrechtlich erst auf den Pariser Friedenskonferenzen an Polen fallen. Lokale Akteure drängten hingegen auf einen sofortigen Anschluss. Elsbach beschrieb eine Dynamik, deren Motor der Nationalismus und dessen Ziel eine „Repolonisierung“ war. Bei dem am 27. Dezember 1918 beginnenden Posener Aufstand handelte es sich zunächst um eine spontane Erhebung, so Elsbach. Dies führte zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation und einer starken Militarisierung beider Seiten in Reaktion auf die Straßengewalt. Auf politischer Ebene führte der Aufstand dazu, dass schon ab Januar 1919 mit dem Aufbau einer westpolnischen Staatlichkeit begonnen werden konnte. Eine eingesetzte Kommission zur „Wiederherstellung des polnischen Aussehens Posens“ initiierte im Folgemonat Denkmalstürze, die auch kulturelle Repräsentanten Deutschlands betraf. Sie machten, so der Historiker, einen radikalen Wandel sichtbar, der sich in dieser Form in keiner Region des Deutschen Reiches wiederholte. Nach der offiziellen Angliederung Posens war jedoch eine Umkehr der polnischen Toleranzversprechen zu beobachten. Ein Bevölkerungsaustausch fand statt, der die deutschsprachige Bevölkerung betraf. Der Machtanspruch der lokalen polnisch-sprachigen Akteure, schlussfolgerte Elsbach, gründete auf einer national-katholischen Leidensgeschichte. Ihr demokratisches Selbstverständnis stand in keinem grundsätzlichen Widerspruch zu der Zwangsmigration, denn das Demokratieversprechen bezogen sie ausschließlich auf die „eigenen“ Landsleute. Der Referent resümierte, dass der Erfolg des Aufstandes zweifelhaft sei, denn der Anschluss der mehrheitlich polnisch-sprachigen Gebiete war bereits beschlossen. Die Zeitenwende für die neue Staatlichkeit und territoriale Ordnung ging ihm bereits voraus.
Den Poststalinismus in den 1950er- und 1960er-Jahren identifizierte STEPHAN STACH (Leipzig) im letzten Vortrag der Sektion als eine Übergangsphase, in der sich das Verhältnis zwischen Partei und Gesellschaft sowie die Parteiherrschaft veränderte. Das zeige sich an dem Umgang mit Vergangenem. Für die Mehrheit der Bevölkerung verband sich mit dem Tod Stalins die Hoffnung auf Veränderungen, die auch die Rolle der Geschichte betraf. Diese verlief nun nicht mehr zielgerichtet auf die Vollendung des Kommunismus zu, sondern wurde wieder stärker als offener Prozess wahrgenommen. Im Bestreben, eine kommunistische Utopie zu verwirklichen, wurde auch die Vergangenheit nach Fehlern und Legitimität befragt. Stach untersuchte die Motive, aus denen sich Akteur:innen mit dem Holocaust beschäftigten und auch einer Neubewertung von Fakten.
Im Spätstalinismus wurden Unterscheidungen zwischen verschiedenen Opfergruppen weitgehend unterbunden. Alle sollten als „Opfer des Faschismus“ wahrgenommen werden. In der Volksrepublik Polen, wo die jüdische Bevölkerung als nationale Minderheit anerkannt war, wurde dieses Prinzip jedoch weniger konsequent umgesetzt. In Warschau entstand mit dem Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny) eine Institution, die sich seit 1947 mit dem deutschen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung befasste. Dabei konnte es sich unter anderem auf Dokumente des vom Historiker Emanuel Ringelblum initiierten Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos stützen. Während des Stalinismus verfasste Publikationen waren, Stach zufolge, zwar stark politisch überformt. Dennoch schufen sie eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, da sie Jüdinnen und Juden als Opfergruppe benannten. Im Poststalinismus weitete sich der Rahmen des Sagbaren und auch in anderen sozialistischen Staaten konnten jüdische Opfer offener als solche benannt werden, solange dies in einem antifaschistischen Narrativ geschah. Dadurch erfüllte es auch eine Funktion für die Gegenwart, etwa um unter Verweis auf BRD-Entscheidungsträger mit Nazivergangenheit als besseres System zu präsentieren. Dies zeigen gerade deutschsprachige Veröffentlichungen des Jüdischen Historischen Instituts, die eingebettet in den Antifaschismusdiskurs erschienen und zugleich breit rezipiert wurden. Sie offenbaren, resümierte Stach, eine Sichtbarmachung jüdischer Opfer die nicht von oben angeordnet, sondern von Publizist:innen selbst initiiert war.1
Sektionsübersicht
Sektionsleitung: Christian Dietrich (Halle-Wittenberg / Frankfurt an der Oder)
Christian Dietrich (Halle-Wittenberg / Frankfurt an der Oder): Kontinuitätsversprechen als Herrschaftslegitimation. Geschichte als Gegenstand symbolischer (Neu)Ordnung
Claudia Kraft (Wien): Rechtskulturen im Herzogtum Warschau (1807-1815): Der Code Civil als transformative Ressource
Markus Nesselrodt (Frankfurt an der Oder): Plötzlich preußisch: Die symbolische Aneignung der fremden Stadt Warschau (1795-1806)
§Sebastian Elsbach (Jena): Die „Repolonisierung“ Großpolens. Geschichtsbilder als Mittel des Herrschaftsaufbaus in der ehemaligen preußischen Provinz Posen (1918/1919)
Stephan Stach (Leipzig): Angetaute Erinnerung. Repräsentationen des Holocaust im ostmitteleuropäischen Poststalinismus
Anmerkung:
1 Zum Beispiel Bernard Mark, Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf. Berlin 1957; ders., Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Berlin 1958; Faschismus, Getto, Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs. Berlin 1960.