Moments of Exclusion in The Middle Ages

Moments of Exclusion in The Middle Ages

Organisatoren
Thomas Ertl / Milan Pajic, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2023 - 30.09.2023
Von
Christian Hoffarth, Abteilung Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Christoph Mauntel, Historisches Seminar - Mittelalterliche Geschichte, Universität Osnabrück

Spätestens seit Geraldine Hengs Monographie über die „Invention of Race in the European Middle Ages“ (2018)1 ist die Frage nach historischen Formen des Rassismus auch in der deutschsprachigen Mittelalterforschung angekommen. Der von Heng bewusst breit gefasste Rassismusbegriff ist dabei eher kritisch aufgenommen worden.2 Umso mehr aber stellt sich die Frage, wie vormoderne/mittelalterliche Formen von Ausgrenzung funktioniert haben und auf welchen Parametern sie beruhten. Die Frage nach religiösen, ökonomischen, sozialen und politischen Formen der Exklusion stand denn auch im Mittelpunkt eines internationalen Workshops. Ziel war es dabei ausdrücklich, Momente der individuellen oder kollektiven Stigmatisierung aus ihrem sozio-ökonomischen Kontext heraus zu deuten: Ausgrenzungen erscheinen so nicht zwangsweise als Ausdruck permanenter, stabiler Konfliktlinien, sondern als Reaktion auf sehr spezifische Umstände. Entsprechend gingen die Fallstudien von konkreten Phänomenen oder Ereignissen aus, um daran die Fragen nach Formen und Funktionsweisen von Ausgrenzung zu erörtern. Die Frage, ob es sich bei den jeweiligen Fällen um Momente des Rassismus oder rassistischen Denkens handelte, auch wenn es entsprechende Worte noch nicht gab, wurde von Ertl und Pajic schon in der Einleitung aufgeworfen und in den Vorträgen und Diskussionen stets mitgedacht.

HELMUT REIMITZ (Princeton) betonte in seinem einführenden Vortrag die Differenzen zwischen der europäischen und US-amerikanischen Forschung. Während in Europa, vor allem aber in den deutschsprachigen Ländern, das Denken in Kategorien von ‚Rasse‘ nach dem Nationalsozialismus ein Ende gefunden habe, sei dies in den USA vor dem Hintergrund der Sklaverei und Segregation jedoch umso relevanter. Den US-amerikanischen Ansätzen der „critical race theory“ stellte er die stark europäisch geprägten Forschungen zu Fragen der Ethnizität und Ethnogenese gegenüber. Möglicherweise ließen sich Wortfügungen wie ‚rassistisches Denken‘ eher für die Vormoderne nutzbar machen als der konzeptionell stark verdichtete Begriff des ‚Rassismus‘.

In der anschließenden Diskussion wurde als Merkmal von race hervorgehoben, dass sie an nicht ablegbare Charakteristiken geknüpft sei, als Ausgrenzungsmerkmal also stabil sei. Andersherum, so wurde festgestellt, sei jedoch nicht jedes nicht wandelbare Merkmal sofort ein Bestandteil einer rassistischen Ausgrenzung.

GERDA HEYDEMANN (Berlin) nahm in ihrer Fallstudie die exegetische Ausdeutung der biblischen Verfluchung Chams (bzw. dessen Nachkommen) durch Noah in den Blick (Gen 9). Sie stellte dabei heraus, dass Cham und seine Nachkommen aufgrund der biblischen Textgrundlage zwar durchgängig negativ konnotiert waren, die gedachten Konsequenzen jedoch variiert haben: Mal stand moralisch fehlerhaftes Verhalten im Vordergrund, mal religiöse Devianz (wenn etwa jüdische Gemeinschaften auf Cham zurückgeführt wurden). Dass Chams Nachkommen als Zeichen ihres Fluchs eine dunkle Haut hatten, sei nur eine von vielen Deutungen, die zudem eher als moralisches Urteil denn als biologische Feststellung zu deuten sei – negativ war sie jedoch auf jeden Fall. Die exegetischen Deutungen von Gen 9 weisen also deutliches Potential für Ausgrenzungen auf, bräuchten aber jeweils konkrete Umstände, um auch aktiviert zu werden (so etwa in der späteren Legitimierung der Sklaverei).

In ihrem Kommentar hob SUMI SHIMAHARA (Paris) hervor, dass es der frühchristlichen Exegese vor allem um eine positive Hervorhebung des noch jungen Christentums gegangen sei: Das Judentum sei als gens gesehen und konstruiert worden und sei in dieser (christlichen) Sicht dem Christentum voraus gewesen.

CLARA AMAGRO VIDAL (Madrid) stellte die Lage der Muslime vor, die auf der Iberischen Halbinsel in von Ritterorden regierten Territorien lebten. Ausgrenzung, d.h. die Verweigerung der Teilnahme an Aktivitäten oder des Zutritts zu Orten sei hier auf zahlreichen Ebenen und in breiter Varianz fassbar, etwa wenn Juden und Muslime während christlicher Prozessionen ihre Häuser nicht verlassen durften (wie der Santiago-Orden 1492 festlegte). Gleichzeitig betonte sie, dass die Trennung religiöser Gruppen auch in Form von Sonderrechten zu beobachten sei, etwa wenn Muslimen 1233 in Cervera erlaubt wurde, ihr Viertel selbst zu bewachen und den Einlass zu regeln (und ihn Christen zu untersagen).

JÖRN R. CHRISTOPHERSEN (Berlin) hob kommentierend hervor, dass Formen des Aufmerksamkeits-Managements entscheidend für Fragen der (Un-)Sichtbarkeit und Ausgrenzung seien; eine Mehrheitskultur könne so selbst mit dem Argument des Schutzes einer Minderheit den eigenen Vorrang betonen.

Nach den Beiträgen wurde diskutiert, inwiefern die Zugehörigkeit zum Islam ein wandelbarer Zustand sei: Einerseits wurden Konversionen zum Christentum gefördert, andererseits macht das Aufkommen der Kategorie der ‚Morisken‘ (konvertierte Muslime) deutlich, dass doch Vorbehalte bestehen blieben. Der Begriff der race aber wurde hier für nicht hilfreich befunden.

NORA BEREND (Cambridge) thematisierte in ihrem Vortrag Formen der Exklusion im mittelalterlichen Ungarn, insbesondere in Momenten des Wandels (meist zum Schlechteren). Zum einen sei die muslimische Minderheit konsequent ausgegrenzt und zur Konversion gedrängt worden, wobei gleichzeitig die Angst vor nur äußerlich Konvertierten bestehen blieb. Berend deutete dies als Sorge des sich selbst erst noch festigenden ungarischen Christentums. Jüdische Gemeinden dagegen seien stärker segregiert und seit dem 13. Jahrhundert zunehmend verfolgt worden. Ausbrüche von Gewalt aber hätten zumeist eher ökonomische Auslöser gehabt. Mit dem Mord an Königin Gertrude 1213 durch opponierende Barone kamen abschließend anti-deutsche Ressentiments in den Blick, wobei dies eher als Einzeltat zu deuten sei und daher kaum als Beleg für eine verbreitete xenophobe Ideologie tauge, so Berend.

JULIA BURKHARDT (München) betonte in ihrem Kommentar die Vielgestaltigkeit der im heterogenen Ungarn fassbaren Formen der Exklusion und Differenzmarkierung. Solche Marker könnten zu Ausgrenzung führen, müssten dies aber nicht zwangsweise. Vielmehr würden sie in spezifischen Kontexten zur Legitimation herangezogen. Sinnvoll sei also eine Unterscheidung zwischen Formen der Differenzierung und Formen der Ausgrenzung.

BART LAMBERT (Brüssel) und JOSHUA RAVENHILL (London) stellten in ihrem gemeinsamen Vortrag Forschungen zu diskriminierender Beschimpfung im England des 15. Jahrhunderts vor. Fassbar seien vor allem beleidigende Äußerungen zu Flamen, Lombarden und Schotten, deren Nachweisbarkeit in Gerichtsakten in den meisten Fällen mit Momenten ökonomischer oder politischer Krisen zusammenfalle (Wirtschaftskrisen oder Kriege im Norden). Auffallend sei auch, dass derartige Beleidigungen relativ häufig von Frauen kamen, die andersherum aber auch gezielt Opfer entsprechender Vorwürfe wurden. Benennungen als ‚Flame‘ oder ‚Schotte‘ seien in einzelnen Fällen schon alleinig als Klagegrund empfunden worden; zumeist aber seien ethnische Zuschreibungen durch weitere stark negative Attribute verstärkt worden. Entsprechende Beschimpfungen seien jedoch nicht rassistisch, weil sie sich nicht auf die Abstammung beziehen würden, sondern auf sprachliche und kulturelle Eigenheiten – anders verhalte es sich mit Beleidigungen von Juden als „Kinder Moses“, so die Referenten.

TANJA SKAMBRAKS (Graz) betonte Ähnlichkeiten zu Dresdener Forschungen im Bereich der Invektivität (SFB 1285) und regte an, auf breiterer Quellengrundlage nach entsprechenden Praktiken der Ausgrenzung zu suchen, wobei die Nähe von Rechtsquellen zum alltäglichen Leben bemerkenswert sei.

CORDELIA HESS (Greifswald) verglich die Christianisierung Norwegens mit der zeitlich parallel erfolgenden Expansion (9.-11. Jhd.) und beleuchtete dabei die auf Kultur und Sprache fußende Ausgrenzung der Saami und Inuit durch christliche Autoren – dies sei ein Fall zeitgenössischer rassistischer Diskriminierung, auch wenn er sich einem Abgleich mit modernen Definitionen entziehe. Die Christianisierung Nordskandinaviens (Sapmi) sei seit dem späten 11. Jahrhundert vorangeschritten und habe vor allem auf lokalen Akteuren beruht, weniger auf bischöflichen oder königlichen Initiativen. Die norwegische Besiedlung Grönlands sei mit dem Schlagwort des Kolonialismus fassbar und ebenfalls wenig klerikal durchwirkt gewesen, so Heß; ein Bistum habe es hier erst seit 1126 gegeben. Formen der Ressourcenausbeutung und Landnahme hätten sich dann v.a. um 1300 intensiviert. Dem Votum von G. Heng, dies als Ausprägung von „white Christian supremacy“-Gedanken zu fassen, wollte Heß sich nicht vorbehaltslos anschließen, betonte aber die Präsenz rassistischer Beschreibungstopoi der Inuit und Saami.

Kommentierend hob CHRISTIAN HOFFARTH (Kiel) das komplexe Verhältnis zwischen ideologischen Konzeptionen und beobachtbaren Praktiken hervor, das sowohl in Heß‘ Fallstudien als auch in ganz anderen Kontexten fassbar sei, etwa wenn Manuskripte des Textes von Marco Polo mit Bildern monströser Gestalten ausgemalt würden, von denen der Text explizit nicht berichte – die aber späterhin die Erwartungen und Wahrnehmungen europäischer Reisender beeinflussten.

Die abschließende Roundtable-Diskussion war der Auseinandersetzung mit dem Werk des französischen Frühneuzeithistorikers JEAN-FRÉDÉRIC SCHAUB (Paris) gewidmet, der seit mehreren Jahrzehnten mit vielzähligen einflussreichen Publikationen zur Geschichte des Rassismus in der westlichen Welt hervorgetreten ist.3 Schaub versteht, wie Thomas Ertl in seiner Einführung in das Werk des Ehrengastes unterstrich, das späte 15. Jahrhundert als Scharnierstelle in der Geschichte des modernen Rassismus. Auf der iberischen Halbinsel als religiöser Kontaktzone hätten sich zu jener Zeit endgültig jene rassistischen Mechanismen herausgebildet, die dann von Spanien aus in die Kolonien der Neuen Welt übertragen worden seien. Schaub selbst betonte allerdings, dass die Suche nach einem definitiven Ursprung des Rassismus wenig sinnvoll sei und letzthin als hermeneutische Falle gelten müsse. Zur Frage nach der Abgrenzung rassistischer von anderen Exklusionsmechanismen schlug Schaub vor, nur dann von Rassismus zu sprechen, wenn Ideen der generationellen Übertragung rechtlicher, religiöser und körperlicher Merkmale vorlägen und diese ideologisiert und politisch institutionalisiert würden.

Um zu größerer Klarheit über das Potential des Rassismuskonzepts für die Mittelalterforschung zu gelangen, flankierten DANIEL ALLEMANN (Luzern), THOMAS ERTL und KARL UBL (Köln) Schaubs Ausführungen mit drei kurzen mediävistischen Fallstudien respektive Kommentaren.

Allemann stellte terminologische und methodologische Überlegungen an und verwies insbesondere auf die Spannung, die dadurch entstünde, dass die historische Forschung Rassismus einerseits als eine analytische Kategorie, andererseits als historisches Phänomen behandle. Verstünde man Rassismus weniger als ein sich kohärent entwickelndes Denk- und Handlungsmuster mit zusammenhängender Geschichte und mehr als eine Reihe weithin unverbundener Episoden des „Race-Makings“, so könne das Konzept möglicherweise unabhängig von räumlichen und epochalen Konstellationen als nützliche analytische Kategorie dienen – ähnlich etwa dem Begriff der „Klasse“, der wie „Rasse“ ein Konstrukt ohne Referenz in der Wirklichkeit sei. Thomas Ertl stellte seine Untersuchungen zum Ausschluss der Slawen aus den Zünften im Ostseeraum des Spätmittelalters vor und warf die Frage auf, inwiefern jenem ein rassistischer Hintergrund zugerechnet werden könne. Die Begründungen, die sich aus den Quellen der städtischen Überlieferung für die Exklusion der Slawen rekonstruieren ließen, fußten auf religiösen, genealogischen und rechtlichen Zuschreibungen, was Ertl zu dem Urteil führte, dass die Zunftmitglieder rassistisch dachten und handelten, die Slawen mithin zu einer Rasse machten und somit in diesem Fall tatsächlich von Rassismus die Rede sein könne. Karl Ubl hingegen konnte in seinem Panoramablick auf das Karolingische Reich keine Konstellationen ausmachen, die seines Erachtens sinnhaft als rassistisch angesprochen werden könnten. Aufgrund der Überlappung von Natur und Kultur vor dem „great divide“ (Philippe Descola) in der Moderne zeigte sich Ubl eher skeptisch gegenüber der Tauglichkeit des Rassismusbegriffs für die Erforschung der von ihm anvisierten Epoche.4

In der Abschlussdiskussion wurde betont, dass zur weiteren Durchdringung der Mechanismen und Konzepte der Exklusion im Mittelalter – und so auch zur Erhellung der Frage nach einem möglichen mediävistischen Mehrwert des Rassismusbegriffs ‒ zunächst noch eine größere Zahl an Fallstudien nötig sei, um ein vollständigeres Bild zu erlangen. Plädiert wurde auch dafür, über die terminologischen Debatten hinauszugehen und sich nicht durch die letzthin unfruchtbare Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz von Rassismus in einer bestimmten Epoche in der konkreten Erforschung von Konzepten und Praktiken des Ausschlusses hemmen zu lassen. Insgesamt leistete der Workshop einen bedeutenden Beitrag dazu, nun auch für die historische Mittelalterforschung in Europa die Problemstellungen sichtbar zu machen, an denen es sich in den kommenden Jahren in Hinblick auf Formen systematischer Diskriminierung abzuarbeiten gelten wird. Letztlich geht es auch darum, welcher Platz den mittelalterlichen Jahrhunderten in einer übergreifenden Geschichte der Diskriminierung und des Rassismus zugewiesen werden kann.

Konferenzübersicht:

Thomas Ertl (Berlin) /Milan Pajic (Berlin): Welcome and Introduction

Helmut Reimitz (Princeton): The Danger of Binaries: the Study of Race and Ethnicity in Europe and the US

Morning Session
Chair: Klaus Oschema (Paris)

Gerda Heydemann (Berlin): The Curse of Ham: Race and Biblical Exegesis (Response: Sumi Shimahara)

Clara Almagro Vidal (Madrid): Drawing Lines of Demarcation: Inclusion and Exclusion among Muslims under the Rule of Military Orders in Medieval Iberia (Response Jörn R. Christophersen)

Nora Berend (Cambridge): Triggers of Exclusion in Medieval Hungary (Response Julia Burkhardt)

Afternoon Session
Chair: Roy Flechner

Bart Lambert (Brussels) / Joshua Ravenhill (London): Bawd, Traitor, Fleming, Thief and Other Horrible Names: Immigration and Ethnic Slander in Late Medieval and Early Tudor London (Response Tanja Skambraks)

Cordelia Heß (Greifswald): Meeting in the Margins. Constructions of Race and Religion in Greenland and Sápmi before 1550 (Response Christian Hoffarth)

Jean-Frédéric Schaub on the History of Race and Racism: Round Table with Statements by Thomas Ertl (Berlin) / Karl Ubl (Köln) / Daniel Allemann (Luzern)

Final Discussion

Anmerkungen:
1 Geraldine Heng, The Invention of Race in the European Middle Ages, Cambridge/New York 2018.
2 Juliane Schiel, Rezension zu: Heng, Geraldine: The Invention of Race in the European Middle Ages Cambridge 2018 , ISBN 978-1-108-42278-9, In: H-Soz-Kult, 22.01.2020, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27963>; Christoph Mauntel, Rezension zu: Geraldine Heng, The Invention of Race in the European Middle Ages, Cambridge 2018, In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 38 (2019), S. 352-353, https://www.recensio-regio.net/r/82ac8da81b674a1a961e69840691a854 (06.11.2023)
3 Zuletzt: Jean-Frédéric Schaub, Race is about Politics. Lessons from History, Princeton 2019.
4 Vgl. hierzu auch: Karl Ubl, Rasse und Rassismus im Mittelalter. Potential und Grenzen eines aktuellen Forschungsparadigmas, In: Historische Zeitschrift 316, 2023, S. 306–341.