Wie können globalhistorische Perspektiven in Lehrplänen, Lehrer:innenausbildung und in Schulbüchern nachhaltig verankert werden? Welche Möglichkeiten bieten dabei die globalhistorische Perspektivierung (Susanne Popp) von „klassischen“ Themen der (immer noch) nationalhistorisch orientierten Curricula?1 Wie Globalgeschichte behandeln, ohne binäre Narrative vom „West and the Rest“ fortzuschreiben oder lediglich als Hintergrundfolie für die eigene Nationalgeschichte bzw. die Entstehung europäischer Werte zu beschreiben? Diesen Fragen gingen vom 29.02.-01.03.2024 zahlreiche Geschichtsdidaktiker:innen, Fachhistoriker:innen und Expert:innen für Bildungsmedien auf einer Tagung des AK Welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht (KGD), der Arbeitsgruppe Weltregionale und Globale Geschichte (AKWGG) des VHD am Leibniz-Institut für Bildungsmedien, Georg-Eckert-Institut (GEI) in Braunschweig nach.
Ziel der Tagung war den Dialog zwischen fachwissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer bzw. unterrichtspraktischer Expertise zu eröffnen, um quellenbasierte Unterrichtsbeispiele zu klassischen Themen des Geschichtsunterrichts verschiedener Epochen zu erkunden. Im Call for Papers zur Tagung waren hierbei insbesondere Themen benannt, die im deutschsprachigen Raum in der Sekundarstufe I aller Schulformen unterrichtet werden.2 Viele davon wurden auf der Konferenz kritisch ausgeleuchtet, von der Neolithischen Revolution (Stefan Suhrbier) über das Zeitalter der Industrialisierung (Friedrich Huneke), den Ersten (Daniel Schumacher, Veruschka Wagner) und Zweiten Weltkrieg (Dennis Röder), bis hin zum Ost-West-Konflikt (Moritz Pöllath). Entsprechend umfasste das Tagungsprogramm einen breit gefächerten Mix aus fachwissenschaftlichen Vorträgen zu globalhistorischen Themen mit Blick auf eine mögliche Behandlung im Unterricht, Einführung in Quellenkorpora sowie Lehr- und Lernmaterialien und Vorstellung konkreter Unterrichtsbeispiele mit Erfahrungsberichten.
So berichteten JUSTINE BURKHALTER (Aarau) und DOMINIC STUDER (Aarau) über die Erfahrungen, die sie im Rahmen der Durchführung einer Lehreinheit zur globalhistorischen Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer Schokolade sammeln konnten. Die Unterrichtseinheit startete mit einer gemeinsamen Verkostung, wechselte über zur Reflexion auf Master-Narrative über die „Schweizer Schoggi“, welche die Kolonialgeschichte des Produkts aber auch der Schweiz insgesamt verschleiert, bis hin zur Herstellung des Gegenwartsbezugs (Stichwort Kinderarbeit). Die anschließende Reflexion auf die Lehreinheit, so die Vortragenden, zeigte einerseits, dass Schüler:innen den Bezug zur Gegenwart und die Erweiterung des nationalen Geschichtsnarrativs besonders schätzten und erkennbar ein kritisches Bewusstsein für den Wert des Faches Geschichte entwickelten. Lehrer:innen berichteten andererseits von dem hohen, zusätzlichen Aufwand in Vorbereitung und Durchführung dieses komplexen Themas. Zu ähnlichen Einschätzungen kamen auch andere Betragende, die sich mit der didaktischen Umsetzung globalhistorischer Fragestellungen beschäftigten. So etwa JOHANNES GRADEL (Tübingen) mit Blick auf die Geschichte Westafrikas vom 16.-18. Jahrhundert und DANIEL SCHUMACHER (Konstanz) in Auseinandersetzung mit der globalhistorischen Dimension der Versailler Verträge am Ende des Ersten Weltkrieges am Beispiel Chinas.3 Ein deutliches Desideratum an die Fachwissenschaft – Historiker:innen und Regionalwissenschaftler:innen – bleibt also die Verfügbarmachung von Quellenmaterial in kommentierten, möglichst gut zugänglichen (open access bzw. als open educational resources) Editionen.
Gleichzeitig stellt die zunehmende Verfügbarkeit von Quellenmaterial, das für globalhistorische Fragestellungen nutzbar gemacht werden könnte, Lehrer:innen vor immer größere Herausforderungen. Ein deutliches Beispiel hierfür sind die von VERUSCHKA WAGNER (Bonn/Istanbul) vorgestellten Digitalisate osmanisch-türkischer Satirezeitschriften.4 In diesen finden sich zahlreiche Beispiele von Karikaturen, welche das Bild der sog. „Neuen Frau“ der 1920er-Jahre thematisieren und, ähnlich wie in westeuropäischen Ländern, sowohl positiv wie auch negativ präsentieren. Im traditionellen Geschichtsunterricht wird das Thema lediglich mit Blick auf die Weimarer Republik behandelt. Die Einbindung dieses Bildmaterials, so argumentierte die Referentin überzeugend, unterläuft diese inhärent eurozentrische Perspektive und öffnet den Blick auf eine vergleichende Geschichte der Geschlechterbeziehungen. Angesichts der Virulenz dieses Themas in der Alltagswelt heutiger Schüler:innen kann die Bedeutung einer solchen globalhistorischen Perspektivierung nicht unterschätzt werden. Gleichzeitig erfordert ein solches Vorgehen eine Sprach- und Sachkompetenz, die nicht vorausgesetzt werden kann.
Bildmaterial nimmt aufgrund der besonderen didaktischen Eignung und zugleich der noch immer fachwissenschaftlichen Unterbelichtung von Visual Cultures einen besondere Stellung ein. Ohne eine Kontextualisierung von verwendetem Bildmaterial stellt auch die Arbeit mit Bildmaterial grundsätzlich eine besondere Schwierigkeit dar, wie auch GEORG MARSCHNIG (Wien) in seinem Bericht zur Umsetzung globalhistorischer Perspektiven im Schulbuch bestätigte. In der Diskussion plädierte er darüber hinaus für die Vermeidung einer rein illustrativen Nutzung von Bildmaterial im Schulbuch – insbesondere im Kontext der Thematisierung kolonialer Machtstrukturen. Dies wurde als wichtige Botschaft an Schulbuchverlage und -autor:innen aufgenommen.
Die Schwierigkeiten mit denen Lehrende in der praktischen Umsetzung globalhistorischer Fragestellungen zu kämpfen haben, so konnte DENNIS RÖDER (Stade/Hamburg) in einem Bericht aus der Referendariatsausbildung zeigen, sind auch bei zentralen Themen des Curriculums erheblich. Das von ihm gewählte Beispiel, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, zeigt dies besonders deutlich. Das Thema ist äußerst umfangreich und es gibt (zumindest im niedersächsischen Lehrplan, der dem Vortragenden als Orientierung diente) keine konkreten Hilfestellungen, wie die verschiedenen Aspekte gewichtet oder miteinander verbunden werden könnten. In der Praxis liegt der Fokus dann häufig ausschließlich auf der deutschen Geschichte, ohne den globalen Kontext zu berücksichtigen. Dadurch werden der Verlauf des Weltkriegs und der Holocaust oft getrennt behandelt und sogar der Begriff „Weltkrieg“ bleibt unreflektiert. Angesichts der Bedeutung des Konflikts für die Geschichte des 20. Jahrhunderts (und sogar unserer Gegenwart) besteht die dringliche Notwendigkeit, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, der die Vielschichtigkeit und globale Tragweite und Verflechtung dieses Konflikts angemessen würdigt. Gleichzeitig bietet die Forschung jedoch nur wenig Orientierung, da genuin globalhistorische Darstellungen bislang rar gesät sind.5 Im Anschluss an diesen Problemaufriss schlug Röder eine dreischrittige, didaktische Pragmatik vor, die erstens durch die Verwendung von Kartenmaterial sowie von Struktur- und Legetechniken den Blick weitet („Big Picture“), zweitens mit Hilfe von Quellenmaterial die globalhistorische Komplexität aufzeigt und drittens gemeinsam mit den Schüler:innen überlegt, wie aus globalhistorischer Sicht an den Zweiten Weltkrieg erinnert werden könnte.
Insgesamt betrachtet demonstrierten alle Vortragenden eindrucksvoll, dass es nicht notwendig neuer Curricula bedarf, um Globalgeschichte zu vermitteln, sondern dass auch eine globalhistorische Perspektivierung bereits verankerter Themen ein sehr erfolgreiches Instrument sein kann. Dabei wurden Lehrplanreformen, die globalgeschichtliche Themen und außereuropäische Perspektiven ausdrücklich fordern – so etwa in Berlin, Baden-Württemberg und Niedersachsen – ambivalent beurteilt. Einerseits wurden diese kritisch gesehen, weil sie zuweilen eher als politisch orientiert und nicht den aktuellen Forschungsstand widerspiegelnd wahrgenommen wurden. Andererseits wurden die Reformen als wichtige Meilensteine diskutiert, die einen Aufbruch traditionell chronologisch-thematischer Durchgänge durch die deutsch-europäische Geschichte ermöglichen.
Eine ausreichende und tiefgehende Auseinandersetzung mit globalgeschichtlichen Narrativen kann – so wurde aus den unterrichtspraktischen Beispielen und Redebeiträgen diverser Schulbuchautor:innen und Verlagsvertreter:innen deutlich – nicht ausschließlich in kleinen Exkursen („Fenstern zur Welt“) erfolgen. Ganz im Geiste des Namensgebers des die Tagung beherbergenden Instituts, Georg Eckert, der im Nachkriegsdeutschland neue Lehrpläne entwickelte und neue Quellensammlungen zusammenstellte, wurden bei der am ersten Konferenztag durchgeführten Podiumsdiskussion daher die Notwendigkeit struktureller Veränderungen diskutiert. Hier diskutierten PHILIPP BERNHARD (Regensburg) als Vertreter des AK mit Repräsentantinnen der niedersächsischen Bildungspolitik, LENA NZUME (Hannover) und INGA NEUHAUS (Hildesheim) die Frage „Wie kommen globalgeschichtliche Perspektiven in den Geschichtsunterricht?“ Grundlage der Diskussion war das Positionspapier „Globalhistorische Perspektiven in die Geschichtslehrpläne!“ des AK Welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht, das auf dem Historikertag 2023 in Leipzig öffentlich vorgestellt worden war.6 Gezielter Veränderungen bedarf es, darüber waren sich die Diskussionsteilnehmenden einig, im Bereich Studium und Ausbildung sowie der Bereitstellung von Angeboten zur Fortbildung bereits tätiger Lehrer:innen. Deutlich wurde jedoch auch, dass die Aktualität und der politische Wille zur Berücksichtigung von Rufen nach dekolonialen und anti-rassistischen Perspektiven leicht zu einer Verengung des Anliegens der Arbeitskreise auf die Thematisierung von Entwicklungen im Zeitalter des Kolonialismus führen kann. Die Relevanz der Dekonstruktion kolonialer Narrative steht außer Frage und spiegelt sich in der Häufung entsprechender Tagungsbeiträge wider. Dennoch wurde in der Diskussion der besondere Beitrag des Faches Geschichte und die Grundsätzlichkeit und Breite des Anliegens der Arbeitskreise betont: globalgeschichtliche Perspektiven in allen Bereichen des Geschichtsunterrichts mitzudenken bleibt eine Mammutaufgabe, der sich die Ur- und Frühgeschichte ebenso verpflichtet fühlt wie Vertreter:innen der Neueren und Neuesten Geschichte.
In der von den beiden Konferenzorganisatoren, Philipp Bernhard und Jan Seifert, geleiteten Abschlussdiskussion bekräftigen die Teilnehmer:innen der Konferenz die Notwendigkeit, angehenden und bereits im Beruf stehenden Lehrer:innen in der Erarbeitung und der didaktischen Aufbereitung globalhistorischer Inhalte zu unterstützen. Ziel muss es sein, darin stimmten alle Teilnehmer:innen überein, dass sowohl Referendar:innen als auch bereits langjährig tätige Lehrer:innen globalhistorische Fragestellungen erarbeiten und daraus eigenständig entsprechende Sequenzen für den Unterricht entwickeln können. Dazu bedarf es jedoch nicht nur der Verbesserung von Aus- und Fortbildung, sondern auch eines qualitativ geprüften Fundus an Darstellungen und Quellen, die den Lehrenden (ohne Bezahlschranken) zur Verfügung stehen.7 Im Sinne einer wirklich multiperspektivischen Globalgeschichte, die nicht einfach nur traditionelle Narrative im neuen, bunteren Kleidern, erzählt, bedarf es aber darüber hinaus auch eines Perspektivwechsels, der bislang unterrepräsentierte, nicht-europäische Akteur:innen berücksichtigt.
Konferenzübersicht:
Steffen Sammler (Braunschweig): Begrüßung
Philipp Bernhard (Regensburg) / Jan Siefert (Duisburg-Essen): Einführung
Panel 1
Moderation: Sebastian Dorsch (Hamburg)
Justine Burkhalter (Aarau) / Dominic Studer (Aarau): „Schweizer Schoggi global perspektiviert“. Erkenntnisse aus einer Unterrichtseinheit mit globalgeschichtlicher Perspektive aus Schüler:innen- und Lehrerinnensicht
Georg Marschnig (Wien): Denk anders! Globalgeschichtliche Perspektiven im österreichischen Schulgeschichtsbuch „Denkmal“
Panel 2
Moderation: Nicole Schwabe (Aachen)
Stefan Suhrbier (Köln): Die Anfänge der Nahrungsmittelproduzierenden Wirtschaftsweise aus globaler Perspektive
Susanne Popp (Augsburg): Das Beispiel Silber: Der Columbian Exchange in globalhistorischer Perspektive
Panel 3
Moderation: Steffen Sammler (Braunschweig)
Johannes Gradel (Tübingen): Die vernachlässigte Seite des Atlantiks. Quellen und Methoden zu Westafrika im „Zeitalter der Entdeckungen“
Friedrich Huneke (Hannover): „Wer Industrielle Revolution sagt, sagt Baumwolle“. Geschichte eines globalen Produkts
Podiumsdiskussion: Wie kommen globalgeschichtliche Perspektiven in den Geschichtsunterricht? Bildungspolitik und Wissenschaft im Gespräch.
Diskutant:innen: Lena Nzume (Hannover), Inga Niehaus (Hildesheim), Philipp Bernhard (Regensburg)
Panel 4
Moderation: Eva Bischoff (Trier)
Veruschka Wagner (Bonn/Istanbul): Globalgeschichte in Bildern – Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit in spät- und post-osmanischen Karikaturen
Daniel Schumacher (Konstanz): Globales 1919: Versailles und Vierter Mai im Geschichtsunterricht
Panel 5
Moderation: Jan Siefert (Duisburg-Essen)
Dennis Röder (Stade/Hamburg): Wie den „Klassiker“ Zweiter Weltkrieg welt- und globalgeschichtlich thematisieren? Didaktische und methodische Überlegungen für den Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I und für die Seminardidaktik in der Lehrkraftausbildung
Moritz Pöllath (München): Globalität und globale Verflechtungen im Geschichtsunterricht: Der Ost-West-Konflikt aus einer pazifischen Perspektive
Abschlussdiskussion
Internes Treffen des Arbeitskreises Welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht (Bericht, Planung, Diskussion)
Anmerkungen:
1 Susanne Popp, Globalgeschichte und Geschichtsunterricht. Das Konzept der globalgeschichtlichen Perspektivierung, in: Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte, Berlin 2022, S. 159–176, https://doi.org/10.1515/9783110743067-009 (17.04.2024).
2 Klassische Themen des Geschichtsunterrichts globalgeschichtlich perspektiviert, in: H-Soz-Kult, 05.02.2024, https://www.hsozkult.de/event/id/event-141809 (08.09.2024).
3 Die von Daniel Schumacher zusammengestellten Quellen sowie Hintergrundinformationen zu denselben sind auf der Plattform der China-Schul-Akademie zu finden: https://www.china-schul-akademie.de/lernmodule/wusi/ (08.04.2024).
4 Die digitalisierten Zeitschriften finden sich hier: https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/topic/view/3085779 (04.04.2024); eine Projektbeschreibung hier: https://caricatures.hypotheses.org/ (08.04.2024).
5 Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin. Rom. Tokio, München 2021; Gerhard Weinberg, A World at Arms. A Global History of World War II, Cambridge 1994; Richard Overy, Blood and Ruins. The Great Imperial War, 1931-1945, London 2021; Andrew Buchanan, World War II in Global Perspektive, 1931-1953. A Short History, Hoboken, NJ 2019.
6 Das Positionspapier wurde im Rahmen mehrere Online Workshops 2021/22 erarbeitet und auf dem Historikertag 2023 in Leipzig im Rahmen der Sektion „Globalhistorische Perspektiven in den Geschichtsunterricht! Zwischen Fachwissenschaft, Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis“ vorgestellt. Siehe: https://www.historicum.net/fileadmin/user_upload/5_disziplinen/6_didaktik/1_kgd/1_pdfs/news/2023/07-12-23_Positionspapier_AK_Initiative_Globalhistorische_Perspektiven_in_die_Geschichtslehrplaene.pdf (08.04.2024).
7 Als best-practice Beispiele wurden in der Diskussion das Projekt „Zwischentöne. Materialien für Vielfalt im Klassenzimmer“, das seit 2016 vom GEI getragen wird, sowie die Plattform der China-Schul-Akademie genannt. Siehe: https://www.zwischentoene.info/themen, https://www.china-schul-akademie.de (08.04.2024). Als Möglichkeiten zur Bereitstellung von Quellen und komplexen Lernmodulen wurden zudem die Plattformen segu Geschichte (https://segu-geschichte.de) und offene Geschichte (https://offene-geschichte.de) diskutiert (beide 08.04.2024).