Osteuropa nach der Transformation

Osteuropa nach der Transformation

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Zweigstelle Hannover & Verein für Geschichte des Weltsystems
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.01.2006 -
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Von
Hans-Heinrich Nolte

Die Zweigstelle Hannover der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und der Verein für Geschichte des Weltsystems organisierten am 28. Januar in Hannover eine Tagung zum Stand der Entwicklungen in Osteuropa und Zentralasien nach dem Ende des sowjetischen Systems. Die Tagung knüpfte an frühere Vorträge an, in denen die Mühen des Alltags im heutigen Russland eindringlich beschrieben1und die Osterweiterung der EU als Kolonisierung Osteuropas interpretiert2 wurden.

Die Veranstaltung wurde von Hans-Heinrich Nolte (Hannover/Wien) mit einer historisch-politischen Ortsbestimmung eingeleitet, die an Ivan Berends Titel3 anschloss und die anderswo publizierten Daten4 dahin interpretierte, dass Osteuropa seinen halbperipheren Charakter über die sowjetische Zeit hinweg behalten und auch nach der Transformationsperiode nicht verlassen habe. Politisch entscheidend seien aber nicht auswärtige Mächte, sondern die Eliten insbesondere der UdSSR. Das Besondere an der russischen Entwicklung sei, dass die neue/alte Elite zwischen 1992 und 1998 ca. 150Milliarden Dollar aus Russland ausgeführt und sich so als Teil der globalen Reichen etabliert habe. (Sie hat in einem gewiss überraschenden Sinn – überträgt man Bourdieus Konzepte von seinem Beispiel Frankreich auf Osteuropa – politisches in ökonomisches Kapital verwandelt und dabei sowohl auf der nationalen wie auf der globalen Ebene gehandelt.)

Burkhard Breslauer (Hannover) führte zu dem historischen Moment, in dem Gorbatschow mit seinem Versuch, den sowjetischen Sozialismus durch Reform und Beschleunigung zu retten, das Ende der sowjetischen Gesellschaft verschuldete bzw. ermöglichte, je nach der eigenen Perspektive. Er verglich die Planwirtschaft mit einem Großunternehmen des Kapitalismus und stellte heraus, wie viel gröber und unflexibler die Planung der Fünfjahrespläne war – und welcher Zeiträume es bedurft hätte, um eine Veränderung in Richtung auf eine effiziente Verselbständigung der Betriebe zu erreichen.

Die Hauptvorträge der Tagung betrafen die nationalen Beispiele Polen, Ukraine und Kirgisien. Dariusz Adamczyk (Hannover) betonte gegenüber allen Vorstellungen von einer Kolonialisierung Polens nach dem Beitritt zur EU die ökonomischen und sozialen Fortschritte des Landes in den letzten Jahren5 – das Brutto-Inlands-Produkt stieg zwischen 1990=100 und 2001 auf 142,2 ; auch die realen Bruttoeinkommen wuchsen zwischen 1992=100 und 2001 auf 130,4 und die Lebenserwartung der Männer stieg zwischen 1990 66,5 Jahre und 2001 auf 70,2 – die der Frauen im gleichen Zeitraum von 75,5 auf 78,2 Jahre. Der Markt erwies sich in Polen als wirkungsmächtig, allerdings wurden seine Wirkungen durch massive Staatsintervention abgefedert (wobei der Staat hier die EU war) – 2,5 Prozent des polnischen Bruttoinlandsprodukts stammen aus Brüsseler Töpfen. Folgt man weiter der klassischen Theorie, dass eine ausgewogene Eigentumsverteilung Voraussetzung für Wirtschaftswachstum ist, kann Polen weiteren Aufstieg erwarten – die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen nur 7,8 mal so viel Güter wie die ärmsten 10 Prozent, während die Quote in Deutschland 1:14.1 beträgt. Auch im zunehmenden Selbstbewusstsein der polnischen Intelligenz spiegelt sich der ökonomische Aufstieg.

Mit zwei aufeinander aufbauenden Vorträgen bildete die Ukraine das eigentliche Zentrum der Tagung. Christophe von Werdt (Zürich) interpretierte die Heterogenität der Ukraine als Chance für eine größere Stabilität der Demokratie in dem Land.6 Entgegen den Vermutungen vieler Beobachter haben die zahlreichen Bruchlinien innerhalb des Landes sich nicht als Ausgangspunkt für eine Spaltung oder einen Zerfall herausgestellt, sondern als Grund für eine große Stabilität der demokratischen Institutionen, während Russland unter Putin immer mehr in Richtung auf eine autoritäre Struktur treibt. Von Werdt beschrieb die Bruchlinien des Landes – die Wirtschaftskraft ist im Osten konzentriert (Donbas, Dnjepropetrovsk und Kiew erwirtschaften die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes); je weiter nach Westen desto dörflicher wird es. Ethnisch-linguistisch spricht die Mehrheit der Bevölkerung im Osten russisch, im Westen dagegen ukrainisch – auch wenn es besonders viele gemischte ethnische Identitäten gibt und der Anteil der Russen gesunken ist. Die konfessionellen Differenzen zwischen unierter, autokephal ukrainischer und Moskauer Patriarchatskirche sind politisch prägend. Die Bruchlinien der Ukraine führte von Werdt vor allem auf die unterschiedlich lange Erfolgs-Dauer des polnischen „Drangs nach Osten“ bzw. des russischen „Drangs nach Westen“ zurück, also die unterschiedlich lange Zugehörigkeit einer historischen Landschaft zu der einen oder der anderen Macht.

Gerhard Simon (Köln) – einer der ersten deutschen Wissenschaftler, welcher nach dem Zweiten Weltkrieg über die nationale Frage in der UdSSR7 gearbeitet hat – stellte die Bedeutung der „Orangenen Revolution“ für die Ukraine8 heraus – eine friedliche Erhebung der Gesellschaft gegen ein Regime, das sich mit Wahlfälschungen an der Macht halten wollte. Die Revolution stärkte das Bewusstsein, Ukrainer zu sein und sich von den Russen zu unterscheiden, gerade auch durch die Gewaltlosigkeit. Zwar konnte man nicht alle Ziele verwirklichen – der angestrebte Kaderwechsel scheiterte auf der mittleren Ebene und es erwies sich als kaum möglich, die „Raubprivatisierungen“ der vorangegangenen Jahre anzufechten. Investitionsrate und Zuwachs des Brutto-Inlands-Produkts sanken. Die „orangene Mannschaft“ wurde gespalten. Presse und Meinungsfreiheit blieben jedoch bestehen, der „Gaskrieg“ einte die Ukrainer und auch außenpolitisch trat die Ukraine immer mehr aus dem Schatten Russlands hinaus und wurde zum Anführer der „Gemeinschaft der demokratischen Wahl“, welche neun aus dem ehemaligen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) entstandene Staaten ohne Beteiligung Russlands gebildet haben.

Die geringsten Veränderungen gab es nach Beate Eschment (Halle)9 im zentralasiatischen Kirgisien, das sie den Zuhörern erst einmal mit Skizzen und Bildern aus ihrer Zeit als Dozentin in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek vorstellte. In Kirgisien habe große Heterogenität demokratische Prozesse nicht gefördert. Eine Transformation im Sinne von Demokratisierung auf lange Sicht habe nicht stattgefunden, vielmehr sei die Regierung unter Askar Akaev immer autoritärer geworden. Die „Tulpenrevolution“ vom September 2005, die Akaevs Sturz und die Einsetzung Kumanbek Bakievs als neuer Präsident bewirkte, hat schnell dazu geführt, dass Akaevs Leute in der Regierung durch Bakievs Clan ersetzt wurde, die aber keines der vielen Probleme des Landes lösen konnten. Zunehmend greift die Bevölkerung zu Selbsthilfe und Gewalt, ein Bürgerkrieg droht.

Die Tagung machte die Spannbreite deutlich, welche die Transformationen nach dem Ende von Sowjetunion und RGW kennzeichnet – Polen konnte auch einige seiner wirtschaftlichen Probleme lösen, nicht zuletzt mit Hilfe der EU. Die Ukraine entschied sich für eine tiefgehende Demokratisierung; ohne nahe Aussicht auf Hilfe durch die EU möchte sie jedoch nach wie vor Erdöl und Erdgas aus Russland unter Weltmarktpreis beziehen und bleibt damit erpressbar. Kirgisien kam über eine autoritäres, auf Clans gestütztes System nicht hinaus und ist nach dem Sturz des bisherigen Machthabers eher auf dem Weg in einen Bürgerkrieg und nicht in eine stabile Demokratie.

Es ist geplant, die Ergebnisse der Tagung zu publizieren.10

Anmerkungen:
1 Vgl. Carsten Goehrke, Russischer Alltag, hier Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch, Zürich 2005.
2 Vgl. Hannes Hofbauer, Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2003.
3 Ivan Berend, Central and Eastern Europe 1944 – 1993. Detour from the Periphery to the Periphery. Cambridge 1996.
4 Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, Reclam, Stuttgart 2003.
5 Vgl. Dariusz Adamczyk, EU-Osterweiterung versus Rekolonialisierung, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 6.2 (2006).
6 Vgl. Christophe von Werdt, Heterogenität als Chance, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. April 2005.
7 Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986.
8 Vgl. Gerhard Simon, Die neue Ukraine. Gesellschaft – Wirtschaft –Politik (1991 – 2000), Köln 2002; Ders., Revolution in Orange. Der ukrainische Weg zur Demokratie, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 2005, Heft 1.
9 Beate Eschment, Kirgistan unter neuer Führung, in: SWP – Aktuell 45 (Oktober 2005).
10 In der Reihe Klaus Kremb, Hans-Heinrich Nolte Hg., Studien zur Weltgeschichte im Wochenschau-Verlag (Bd.1 = Geschichte der USA I, erschien Schwalbach 2006).


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