HT 2008: Soziologische Ungleichheitstheorien und die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit

HT 2008: Soziologische Ungleichheitstheorien und die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Barbara Stollberg-Rilinger, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Marian Füssel, Georg-August-Universität Göttingen; Thomas Weller, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Köhler, Leibniz-Projekt "Vormoderne Verfahren", Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Trotz zahlreicher theoretischer Bezüge in neueren Forschungen sei man heute weiter denn je von einer Theorie sozialer Ungleichheit in der ständischen Gesellschaft entfernt, so THOMAS WELLER (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) in seiner Einleitung zur Sektion "Soziologische Ungleichheitstheorien und die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit". Ausgehend von dieser Diagnose und den Forschungen des Münsteraner SFB-Projekts "Zur symbolischen Konstituierung von Stand und Rang in der Frühen Neuzeit"1, an dem die drei Veranstalter beteiligt waren oder sind, sollte in dieser Sektion nach dem Erkenntnisgewinn gefragt werden, den soziologische Theorien der sozialen Ungleichheit für die Erforschung der ständischen Gesellschaft versprechen. Dazu wurden vier Theorien bzw. Theoriestränge überwiegend des späten 20. Jahrhunderts in den Blick genommen.

Weller benannte zunächst einige grundsätzliche Unterschiede zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart in Bezug auf soziale Ungleichheit. Während heute Ungleichheit nur als legitim erlebt werden könne, wenn sie mit sozialer Mobilität verbunden sei, sei soziale Ordnung in der ständischen Gesellschaft für die Zeitgenossen überhaupt nur als Hierarchie vorstellbar gewesen – wenngleich auch die ständische Gesellschaft faktisch ein hohes Maß an Mobilität aufgewiesen habe. Die verhältnismäßig starke Konturierung sozialer Ungleichheit durch soziale Ehre im Gegensatz zu ökonomischen Unterschieden sei ein weiteres besonderes Merkmal der ständischen Gesellschaft, das diese im Übrigen wohl deutlicher kennzeichne als ihre vermeintliche Statik. Schließlich wiesen Phänomene wie Rangstreitigkeiten und Kleiderordnungen auf einen hohen Bedarf an Symbolisierung sozialer Ungleichheit in der ständischen Gesellschaft hin.

Dass Theoriebezug von Einzelforschungen zu sozialer Ungleichheit und die theoretische Erfassung der ständischen Gesellschaft bislang keineswegs Hand in Hand gegangen seien, habe mehrere Gründe: Eine generelle Wendung gegen Großtheorien, die Probleme vieler soziologischer Theorien mit sozialem Wandel und ihre Fixierung auf die Moderne, den verbreiteten Eklektizismus in der Theorieanwendung unter Historikern, schließlich die wohlfeile Praxis, Theorien am eigenen Einzelfall zu "falsifizieren". In dieser Lage bestehe durchaus Anlass, am Bezug zwischen Einzelforschungen und Theorie zu arbeiten und zu fragen, welchen Beitrag soziologische Ungleichheitstheorien zur Erforschung der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit leisten könnten. Obwohl man keine neue Theorie der ständischen Gesellschaft anstrebe, sei doch zu fragen, ob nicht gerade in der spezifischen Form sozialer Ungleichheit eine Art Epochensignatur der Frühen Neuzeit liege, die auf diese Weise deutlicher herausgearbeitet werden könne.

Es konnte natürlich nur eine enge Auswahl an Theorien herangezogen werden. Für Weber habe, so Weller, seine klassische Differenzierung von Stand und Klasse gesprochen, die für die Untersuchung der ständischen Gesellschaft grundlegend gewesen sei. Bourdieus Habitustheorie sei ein wichtiges und vielgenutztes Angebot und binde mit Marx auch einen weiteren Klassiker der Ungleichheitsforschung ein. Luhmann biete zwar nicht in erster Linie eine Theorie sozialer Ungleichheit, mache aber mit der Unterscheidung zwischen funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung ein interessantes Angebot, um den Wandel von ständischer zu moderner Gesellschaft zu fassen. Um einen möglichen blinden Fleck der Theorien der "großen Männer" sichtbar zu machen, sei ein Vortrag zu Gender als Kategorie sozialer Ungleichheit vorgesehen.

Die Einleitung abschließend wies Weller auf weitere potentielle blinde Flecken hin, auf die in Bezug auf die herkömmliche Forschung zur ständischen Gesellschaft und die Angebote der Sektion besonders zu achten sei. So sei nach „Rasse“, Ethnie und Religion als Elementen sozialer Ungleichheit zu fragen, nach dem Raumbezug von Ungleichheit und ihrem Verhältnis zu Netzwerken, nach Veränderungen innerhalb der ständischen Gesellschaft und gegenüber dem Mittelalter, schließlich nach der noch nicht befriedigend gelösten Reintegration "harter" und "weicher" Faktoren sozialer Ungleichheit.

Als erster Theoretiker wurde Max Weber von JUTTA NOWOSADTKO (Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr Hamburg) unter die Lupe genommen. Sie ging zunächst auf Webers kompliziertes Verhältnis zur Geschichtswissenschaft ein, das sie auf seine Sonderstellung zwischen Geschichte und Soziologie zurückführte. Vier Aspekte von Webers Werk hätten für die Geschichtswissenschaft besondere Bedeutung erlangt: Zunächst seine methodische Abgrenzung der verstehenden Soziologie von der hermeneutisch operierenden Geschichtswissenschaft seiner Zeit; dann der genuin historische Charakter seiner Forschungsfelder; in Bezug auf diese besonders die These von der okzidentalen Rationalisierung, die schon früh – angefangen mit Otto Hintze – von Historikern rezipiert worden sei; schließlich die sowohl methodischen wie inhaltlichen Anregungen, die er der historischen Sozialwissenschaft geliefert habe, die gerade mit der Frage nach der Einmaligkeit der Moderne an Weber anschließen konnte.

Webers Beitrag zur Erforschung der ständischen Gesellschaft könne, so Nowosadtko, nicht ohne Bezug auf seine methodischen Grundsätze bewertet werden. Sie beschrieb deshalb zunächst die idealtypische Methode als die für Weber spezifische Form der Abstraktion in den Sozialwissenschaften, die die Konstruktion "historischer Individuen" erlaube – gemeint seien Strukturmomente und Konfigurationen jeweils spezifischer Gesellschaften, nicht Personen. Diese Methode führe zu einem Bild von Entwicklung als Stufenfolge, wobei die Stufen sich mit Hilfe abstrakter Begriffe klar abgrenzen ließen, die Beschreibung von Übergängen sich aber als problematisch erweise.

Die Hauptthesen Webers zur sozialen Ungleichheit seien von Wehler in den 1970er-Jahren klar herausgearbeitet worden. Grundsätzlich habe von den drei Weberschen Dimensionen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der ständischen Gesellschaft die Kultur eine höhere Bedeutung für soziale Ungleichheit als in späteren Gesellschaftsformationen. Nowosadtko arbeitete darauf die bekannte Unterscheidung von Klassenlage und ständischer Lage heraus – erstere durch Marktchancen bestimmt, letztere grundlegend durch Sozialprestige und Konsumption. Die Definition von Stand bei Weber beinhalte, so Nowosadtko, ausdrücklich nicht politische Standschaft.

Wenn sich auch die tatsächliche Ständegesellschaft als sehr viel komplizierter erweise als Webers Begriffe, so sei zu berücksichtigen, dass diese auf Abstraktion ausgelegt und gerade wegen der daraus folgenden Klarheit noch heute vielfach in Gebrauch seien. Dennoch stellten sich einige grundlegende Probleme. So hätten Forschungen zu vormodernen Ehrbegriffen ergeben, dass diese sich besser mit Bourdieu erfassen ließen, was sehr problematisch sei, da es sich um ein zentrales Element von Webers Begriff von Stand handele. Zudem sei aus postmoderner Perspektive zu fragen, welche Bedeutung die in Webers Theorie angelegte Auffassung von der Einmaligkeit der Moderne für den Umgang mit seinen Begriffen habe.

MARIAN FÜSSEL (Georg-August-Universität Göttingen) beschäftigte sich mit der Theorie Pierre Bourdieus als einer kulturtheoretischen Erweiterung klassischer Ansätze der Forschung zur sozialen Ungleichheit. Sie habe der Frühneuzeitforschung wichtige Impulse vermittelt. Im Vortrag wollte Füssel mit der Frage nach dem Verhältnis von Statik und Dynamik einen verbreiteten Kritikpunkt an Bourdieus Konzeption aufgreifen und zudem die auch in den anderen Vorträgen zentrale Kategorie der Ehre besonders berücksichtigen.

Füssel kennzeichnete als zentrale Elemente von Bourdieus Theorie die Aufhebung der Unterschiede von Klasse und Stand, die vermittelnde Position zwischen Objektivismus und Subjektivismus, den Begriff des praktischen Sinns und die differenztheoretische Reformulierung des Machtbegriffs. Bourdieu könne mittlerweile als moderner Klassiker gelten. Insbesondere die Begriffe des symbolischen Kapitals und des Habitus seien auch weit über den Kreis seiner Leser hinaus eingebürgert. In der Geschichtswissenschaft sei er besonders intensiv in den 1990er-Jahren im Kontext der Bürgertumsforschung und der Debatte um eine erneuerte Sozialgeschichte rezipiert worden.

Um Bourdieus Theorie für die Analyse der ständischen Gesellschaft anwendbar zu machen, müsse die eher auf Klassen ausgerichtete Begrifflichkeit in einiger Hinsicht neu justiert werden. Dabei sei etwa die Dominanz relationaler gegenüber distributiven Ressourcen in der ständischen Gesellschaft zu berücksichtigen. Dann ließe sich allerdings mit Bourdieu relativ einleuchtend beschreiben, wie individuelle Distinktionspraktiken an der Herstellung kultureller Hegemonie und der Produktion und Reproduktion von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern beteiligt waren, die ihrerseits für die Herstellung ständischer Ungleichheit als "Objektivität zweiter Ordnung" konstitutiv waren. Dabei würden weitere Eigenarten der ständischen Gesellschaft sichtbar, nämlich dass die Ungleichheiten herstellende und legitimierende Prestigeordnung mit der Ungleichheiten zusätzlich absichernden Rechtsordnung in gewisser Hinsicht in eins fiele und dass – auch deshalb – explizite Zugehörigkeitsbehauptungen der Akteure konstitutiv für die ständische Ordnung seien. Auch Bourdieus Theorie der unterschiedlichen Kapitalsorten sei gut auf die ständische Gesellschaft anwendbar, insbesondere in Bezug auf die Analyse von Ehre als symbolischem Kapital. Unverzichtbar in diesem Zusammenhang sei auch der Begriff des Feldes als eines Raums, in dem soziales Handeln auf spezifische Weise geregelt ist. Da unterschiedliche Felder, anders als Luhmannsche Systeme, nicht isoliert nebeneinander stünden, sei dieses Konzept für die ständische Gesellschaft besonders anschlussfähig.

Erster Ansatzpunkt für Kritik sei das Konzept des Habitus gewesen, der manchen zu rational, den meisten umgekehrt zu deterministisch und akteursfeindlich sei. Zudem stelle sich die Frage, ob eine Theorie, die für das 19. Jahrhundert ausgesprochen produktiv sei, um sich von der Perspektive der Akteure zu lösen, nicht für die ständische Gesellschaft weniger Nutzen verspreche, da hier die von Bourdieu aufgedeckten Distinktionsstrategien weitaus weniger subtil verliefen. Wenn die scheinbar zu hohe Statik kritisiert werde, sei zu berücksichtigen, dass Bourdieus Frage sei, wie überhaupt Ordnungen stabilisiert werden könnten. Dennoch ergäben sich hier Probleme für eine Kulturgeschichte, die gerade die Dynamik innerhalb vermeintlich stabiler Normen aufdecken wolle – und auch für die Erfassung eines grundlegenden Wandels von der ständischen Gesellschaft zu den nachfolgenden Formationen.

Gleichwohl biete Bourdieu wichtige Anregungen für die Untersuchung von Ungleichheiten in der ständischen Gesellschaft. So könne seine Theorie mit ihrer Betonung der Bedeutung des ökonomischen Kapitals in seinen Verhältnissen zu den anderen Kapitalsorten als Gegenmittel zur Überkulturalisierung sozialer Ungleichheit dienen. Das Konzept symbolischer Macht lenke den Blick auf die alltägliche Reproduktion von Ungleichheit. Die Theorie biete die Möglichkeit, die Erforschung sozialer Ungleichheit mit einer handlungsbezogenen Fokussierung auf die Akteure zu verbinden. Schließlich biete der Begriff des Habitus Möglichkeiten zum Einbezug von Geschlecht und Körper in die Erforschung sozialer Ungleichheit. Insgesamt ermöglichten die Konzepte der Theorie, die Rationalität der ständischen Vergesellschaftung zu erkennen, sie mithin nicht nur im Sinne des "noch-nicht" zu beschreiben.

RUDOLF SCHLÖGL (Universität Konstanz) versuchte am intensivsten von allen Vortragenden, eine Theorie anzuwenden, um ein umfassendes Bild der Struktur sozialer Ungleichheit in der ständischen Gesellschaft zu entwerfen – vielleicht auch deshalb, weil der seinem Vortrag zu Grunde liegenden Systemtheorie Luhmanns der Ruf theoretischer Hermetik vorauseilt. Dabei ging Schlögl zunächst von allgemeinen systemtheoretischen Konzepten aus: Aufbau und Erhalt sozialer Ordnungsmuster sei unwahrscheinlich. Gesellschaft nutze dazu drei Muster sozialer Differenzierung, nämlich segmentäre, stratifikatorische und funktionale. Grundlegend für jede gesellschaftliche Ordnungsleistung sei Kommunikation, die durch Medien ("Verbreitungsmedien" wie Buchdruck und "Erfolgsmedien" wie Geld) gesteuert werde. Das Problem sozialer Ungleichheit finde sich nun in der Systemtheorie wieder als die Frage der Adressierbarkeit von Personen in der Gesellschaft, das sich als das Problem ihrer Inklusion und Exklusion in soziale Systeme stelle. In stratifizierten Gesellschaften seien Personen, die in erster Linie über ihre Herkunftsfamilie definiert seien, über Gruppenzugehörigkeit an der Gesellschaft beteiligt und diese Gruppen zueinander in Oben-Unten-Verhältnisse gesetzt. In- und Exklusion wirkten strukturbildend. In funktional differenzierten Gesellschaften werde dagegen gesellschaftliche Strukturbildung durch die jeweils eigene Logik nebeneinander stehender Funktionssysteme geleistet, die auch In- und Exklusion steuere.

In der Frühen Neuzeit vollziehe sich Vergesellschaftung grundsätzlich im Rahmen von Kommunikation unter Anwesenden. Im Laufe der Frühen Neuzeit werde allerdings Kommunikation durch Schrift und Drucktechnik transformiert, was schließlich zur Ausbildung einer funktional differenzierten Gesellschaft führe. Für die Steuerung der Kommunikation unter Anwesenden sei Ehre von besonderer Bedeutung. Diese lasse sich überzeugender als Kommunikationsmedium fassen denn als symbolisches Kapital: Nur so lasse sich die Instabilität und das Konfliktpotential dieser Form von Kommunikation angemessen erfassen – welches wiederum die Möglichkeiten der Gesellschaft zum Umgang mit Verschiedenheit entscheidend beschränkt habe. Für den Umgang mit den Problemen von Kommunikation unter Anwesenden im Medium der Ehre hätten prinzipiell drei Strategien zur Verfügung gestanden: Erstens zeremonielle Kommunikation, die Kommunikation unter Anwesenden und ihre schriftliche Beobachtung kombinierte; zweitens die Bildung kommunikativer Enklaven (Wissenschaft); schließlich die Verrechtlichung der Ehrkonflikte – wobei auf lange Sicht alle drei Strategien In- und Exklusionsansprüche aufgrund von Funktion nicht aufhalten konnten.

In Bezug auf den primären Differenzierungsmodus seien für die ständische Gesellschaft gerade die Spannungen zwischen stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung charakteristisch. Hierarchie müsse mit hoher kommunikativer Energie gegen Erfolgsmedien wie Geld und Distanzkommunikation, die neben die Kommunikation unter Anwesenden träten, behauptet und aufrecht erhalten werden. Dazu würden das Medium Herrschaft in den Dienst der Reproduktion der Hierarchie gestellt und Formen abgestufter Kommunikation geschaffen (etwa bestimmte Räume, die andernfalls ausgeschlossene Kommunikation erlaubten) – was aber ebenfalls keine dauerhafte Stabilisierung gegen funktionsbasierte In- und Exklusion erlaubte. Wo sich symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Geld, Liebe, Recht etc.) gegenüber Kommunikation unter Anwesenden durchsetzten, brächen sie schließlich die ständisch-stratifikatorische Ordnung endgültig auf.

Der Blick auf die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft richte sich aus systemtheoretischer Perspektive darauf, wie sie gegen notwendige Paradoxien immunisiert würden. Erst am Ende der Frühen Neuzeit werde dabei klar, dass der Versuch, mit Talent und Funktion nicht nur Differenzen, sondern eine Hierarchie zu begründen, diese zersetze, auch wenn man von ihrer Notwendigkeit überzeugt sei.

Während die übrigen Vorträge sich jeweils mit einem Theoretiker befassten, stand CLAUDIA ULBRICH (Freie Universität Berlin) vor der Aufgabe, 20 Jahre feministische Theoriediskussion auf ihre Bezüge zur ständischen Gesellschaft zu hinterfragen. Sie betonte, eine angemessene Beschreibung sozialer Ungleichheit dürfe die Kategorie Geschlecht nicht nur additiv und als Sonderfall behandeln. Die Dekonstruktion der Vorstellung der Natürlichkeit von Geschlecht ziehe die Frage nach der Rolle der Kategorie Geschlecht bei der Erzeugung sozialer Ungleichheit unmittelbar nach sich.

Im Anschluss an Joan Scott beschrieb sie Gender als ein auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern aufbauendes, konstitutives Element sozialer (Macht-) Beziehungen. Damit ergäben sich Fragen nach dem Verhältnis von Gender zu anderen Kategorien sozialer Ungleichheit, wie sie sich etwa in der Debatte um das Verhältnis von Gender zu "Race" und "Class" niedergeschlagen habe. Ob diese drei "Achsen" sozialer Ungleichheit auch für die Frühneuzeitforschung Verwendung finden könnten, sei zumindest fraglich; unstrittiges Ergebnis der Debatte sei dagegen, dass Gender als eine unter mehreren mehrfach relationalen Kategorien von Ungleichheit gedacht werden müsse. Allerdings stelle sich dann die Frage, wie sich Eigenständigkeit und Abhängigkeit der Kategorien schlüssig kombinieren ließen. Für die vormoderne Gesellschaft hielt sie die Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden für geeigneter, um nicht etwa fixe Grenzen zwischen Geschlechtern aus dem 19. Jahrhundert zu importieren.

Schließlich thematisierte Ulbrich ausgehend von Judith Butler das Konzept der Performativität von Geschlechteridentitäten. Ulbrich sah hier bei aller Kritik wichtige Anregungen, um die Einbeziehung des Körpers in die Geschichte der Ständegesellschaft zu leisten – zumal der Körper eben nicht nur geschlechtlich, sondern auch durch andere Kategorien definiert sei.

Ulbrich schloss mit einem Plädoyer, die Kategorie Geschlecht nicht nur stärker in die Geschichte sozialer Ungleichheit, sondern in alle anderen Bereiche der Geschichte einzubeziehen. Ein Austausch von Konzepten zwischen Gender Studies und Kulturwissenschaften sei zwar nicht ausreichend, aber immerhin ein Anfang.

REINHARD KRECKEL (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) zeigte sich in seinem Kommentar zunächst zufrieden mit der Auswahl der Theorieangebote, die allerdings einen bestehenden sehr deutsch geprägten Diskurs fortschreibe. Zudem betonte er ausdrücklich seine Sympathie für einen eklektizistischen Theoriegebrauch.

Anschließend beschäftigte er sich mit den Gründen, die überhaupt für eine Anwendung soziologischer Theorien auf ihnen vermeintlich fremde historische Verhältnisse sprächen. Zunächst seien Theorien ein Mittel, soziale Ungleichheiten auch dort zu thematisieren, wo die Zeitgenossen sie nicht als solche beschrieben, etwa in Bezug auf die Kategorie Geschlecht, die von den Akteuren regelmäßig naturalisiert werde. Wenn die Theorien auch an anderen Verhältnissen entwickelt worden seien, spreche zudem vieles dafür, ausreichende Gemeinsamkeiten des Gegenstands zu unterstellen, die die Anwendung von Theorien mit hinreichendem Abstraktionsgrad sinnvoll mache: So sei insbesondere anzunehmen, dass, so lange unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen existierten, Strukturen und Prozesse zu finden seien, die diese Unterschiede stabilisierten. Schließlich ging Kreckel auf die einzelnen Vorträge ein: Er wies unter anderem auf den Zusammenhang der These der Dominanz relationaler Ungleichheiten mit dem Konzept der Kommunikation unter Anwesenden hin. Die unterschiedlichen Kategorien von Ungleichheit, die im Gender-Vortrag angesprochen waren, hielt er für noch erweiterbar.

In der Diskussion sah Marian Füssel ebenfalls Chancen, die Ergebnisse, die im Rahmen der Theorien Luhmanns und Bourdieus erzielt wurden, für einander nutzbar zu machen. Rudolf Schlögl wies allerdings darauf hin, dass es einen grundlegenden Unterschied bedeute, ob man Ehre als Medium oder als Kapital betrachte. Nachdem in den Vorträgen vor allem die Epochengrenze zur Moderne im Mittelpunkt stand, wurde nach der Abgrenzung der behandelten Epoche im Verhältnis zum Mittelalter gefragt. Die Beteiligten beriefen sich – in unterschiedlicher Akzentuierung – auf den Aufstieg von Schriftmedien, Differenzierungsprozesse, Verrechtlichung und die Multiplikation von Rollen innerhalb einer hierarchischen Gesellschaft.

Der Anspruch, vier Theoriestränge in einer Sektion vorzustellen und anzuwenden, produzierte herausfordernde, aber auch sehr dichte Vorträge. Nicht zuletzt deshalb wäre es wohl eher unproduktiv, an dieser Stelle vermisste Themen und Theorien zu beklagen, eine Praxis, die ein Historikertag natürlich schon aus seiner Anlage heraus hervorzubringen tendiert. Die Sektion stellte präzise und aufschlussreich die unterschiedlichen Ansätze vor, durch die Struktur der Sektion aber zunächst nebeneinander. Damit wurde das analytische Potential der einzelnen Ansätze vor Augen geführt. Da aber eventuelle Grenzen des Eklektizismus und die Frage einer Epochensignatur ausdrücklich angesprochen waren, stellt sich auch die Frage nach den synthetischen Potentialen der Theorien und die Anschlussfrage, inwiefern diese nicht stärker als Einzelresultate an den jeweiligen theoretischen Rahmen gebunden sind – Fragen, bei denen das Mitdenken der Zuhörer gefragt war. Die Diskussion bot immerhin Aussichten auf die Kompatibilität mancher Ergebnisse, die sich aus den Vorträgen zu Bourdieu und Luhmann ergaben, wobei diese ohnehin am stärksten auf aktuelle Forschungsprobleme zur ständischen Gesellschaft ausgerichtet waren. Über epochenspezifische Elemente sozialer Ungleichheit konnte somit durchaus ein gewisser Konsens erzielt werden, der in manchen über Bekanntes hinausging. Hier wäre aber neben der Sektions- sicher auch noch die weitere Diskussion gefragt.

Sektionsübersicht:

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Moderation

Jutta Nowosadtko (Hamburg): Max Weber in der Frühneuzeithistorie

Marian Füssel (Göttingen): Die feinen Unterschiede in der Ständegesellschaft. Der praxeologische Ansatz Pierre Bourdieus

Rudolf Schlögl (Konstanz): Hierarchie und Funktion. Zur Transformation der stratifikatorischen Ordnung in der Frühen Neuzeit

Claudia Ulbrich (Berlin): Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung

Reinhard Kreckel (Halle-Wittenberg): Kommentar aus soziologischer Perspektive

Anmerkung:
1 <http://www.uni-muenster.de/SFB496/projekte/c1-abstract-d.html> (04.11.2008)