Zwischenräume. Grenznahe Beziehungen in Europa seit den 1970er Jahren

Zwischenräume. Grenznahe Beziehungen in Europa seit den 1970er Jahren

Organisatoren
Michael Kißener (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar, Abteilung 7 (Zeitgeschichte)); Anita Prettenthaler-Ziegerhofer (Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung)
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
17.09.2009 - 18.09.2009
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Von
Andreas Frings, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Tagung "Zwischenräume. Grenznahe Beziehungen in Europa seit den 1970er Jahren", die am 17. und 18. September am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Karl-Franzens-Universität Graz stattfand und vom Land Steiermark, dem österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und dem Zentrum für Interkulturelle Studien (Mainz) gefördert wurde, diente der vergleichenden Betrachtung und Diskussion dreier Grenzräume bzw. der dort zu beobachtenden grenznahen und grenzüberschreitenden Kooperationsformen. In den Blick genommen wurden die deutsch-französische (in der Region Oberrhein), die österreichisch-slowenische und die (DDR-)deutsch-polnische Grenze, alle jeweils im Zeitraum zwischen 1970 und heute. Im Fokus standen nicht nur grenzüberschreitende Kontakte von Regierungen, sondern auch grenzüberschreitende Formen der Kooperation in der Region, das heißt im grenznahen Raum. Dabei interessierten vor allem die institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit, aber auch die informellen Nutzungen des Potentials von Grenzräumen.

Eingeleitet wurde die Tagung mit einer Einbegleitung durch ANITA PRETTENTHALER-ZIEGERHOFER und MICHAEL KISSENER. Die erste Sektion galt den österreichisch-slowenischen Beziehungen. RENATE KICKER führte zunächst in die Gründungsgeschichte und die Entwicklung der Arbeitsgemeinschaft Alpe-Adria ein, die 1978 in Venedig gegründet worden war und der schon damals mit österreichischen Bundesländern (Burgenland, Kärnten, Oberösterreich und Steiermark), italienischen Regionen, ungarischen Verwaltungsbezirken und den jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien sowohl Regionen in blockfreien Ländern als auch des Ostblocks sowie westlich-demokratisch als auch sozialistisch regierte Regionen angehörten. STEFAN BÖRGER führte diese Darstellung bis in die Gegenwart fort und behandelte dann ausführlich die aktuellen Entwicklungsprobleme dieser regionalen Kooperation. Dabei stellte er auch die Option einer weiteren Vertiefung und Institutionalisierung der Kooperation vor. Genau diese Perspektive und die weitere Funktionalität der Arbeitsgemeinschaft Alpe-Adria insgesamt wurde dann von BOJKO BUCAR provokant in Frage gestellt, der der Arbeitsgemeinschaft insgesamt eine fehlende Nähe zu den Bedürfnissen der Bürger vor Ort vorwarf. EDUARD STAUDINGER setzte hier an und präsentierte Überlegungen zum Leben von Menschen an der österreichisch-slowenischen Grenze, die es ihm erlaubten, allgemeine Charakterisierungen von Grenzräumen zu entwickeln, in denen die Grenze nicht mehr als trennende Linie, sondern als Mittelpunkt eines Raumes betrachtet wird. Auch DUŠKA KNEŽEVIC-HOCEVAR konzentrierte sich auf die Menschen im Grenzraum, jedoch entlang der slowenisch-kroatischen Grenze. Sie spannte dabei den Bogen zurück zur Institutionalisierung von Kooperationsformen und fragte insbesondere nach dem Nutzen aktueller EU-Rahmenprogramme für die Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für die Menschen in jenen Teilregionen, die sie einige Jahre ethnologisch erforscht hatte.

Die zweite Sektion am folgenden Vormittag war der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Raum Oberrhein, das heißt im Zuständigkeitsbereich der Oberrheinkonferenz, gewidmet. SIMON LANG führte zunächst in die komplizierten, historisch gewachsenen Strukturen der grenzüberschreitenden Kooperationen am Oberrhein ein. Dabei zeigte sich eine im Vergleich zum österreichisch-slowenischen Grenzraum wesentlich dichtere Verflechtung unterschiedlichster Kooperationsformen und Governance-Strukturen. Diese Verflechtung ist zugleich durch die Mehrebenenproblematik einer Kooperation zwischen drei Staaten gekennzeichnet, die nur zum Teil der Europäischen Union angehören und deren Föderalisierungsgrad unterschiedlich ausgeprägt ist, was für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im grenznahen Raum besondere Probleme schafft. WOLFGANG NEUMANN kontrastierte diesen Blick auf die Governance-Strukturen mit einem Blick auf die Akzeptanz dieser Kooperationsformen durch die Menschen in der Region und auf die Kenntnisse, die die Menschen dort überhaupt von diesen Verflechtungen haben. Das Ergebnis war ernüchternd: Viele Formen der Zusammenarbeit sind wenig bekannt, und insgesamt werden sie nicht unbedingt als zielführend oder bürgernah wahrgenommen. PIA NORDBLOM und VERENA VON WICZLINSKI konnten diesen Befund im Hinblick auf die jeweiligen deutschen und französischen Sprachkenntnisse bestätigen; sie legten dar, an welchen Hürden auch die beiderseitigen Bemühungen um fremdsprachlichen Unterricht in der jeweiligen Nachbarsprache mitunter scheiterten. JÜRGEN ELVERT ergänzte diese Perspektiven schließlich um eine auf das staatliche Handeln konzentrierte Betrachtung der belgischen und niederländischen Interessen an einer europäischen Zusammenarbeit, die er aus den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts herleitete.

Von den beiden ersten Sektionen unterschied sich die deutsch-polnische Sektion, die am Nachmittag folgte, insofern, als es hier bis 1989/91 kaum eine Form der institutionalisierten Zusammenarbeit im grenznahen Raum gab, wohl aber unterschiedlichste Formen der grenzüberschreitenden Kontakte unterhalb der staatlichen Ebene. Welche Auswirkungen die Rahmenbedingungen staatlicher Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR hier auf informelle Kontakte hatten, etwa die Vereinbarung des visafreien Grenzverkehrs zwischen 1972 und 1980, stellten BURKHARD OLSCHOWSKY und DARIUSZ WOJTASZYN vor. Burkhard Olschowsky konzentrierte sich hierbei stärker auf die Perspektive der DDR und ihre Abgrenzung zur BRD, aber auch zur Volksrepublik Polen, während Dariusz Wojtaszyn vor allem die polnische Perspektive ansprach; die Aufkündigung des visafreien Grenzverkehrs 1980 durch die DDR war etwa von polnischer Seite nie nachvollzogen worden. JERZY KOCHANOWSKI präsentierte daran anschließend Ergebnisse eines Forschungsprojektes über „Schleichwege im Sozialismus“, wobei er hier vor allem informelle Kontakte an der Grenze zwischen der DDR und Polen ansprach und insbesondere Schmuggel und Schwarzmärkte thematisierte. Auffällig war, wie stark sich seit den Systemumbrüchen schon jetzt ein Narrativ über die Kontakte zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen etabliert hat.

In der abschließenden Diskussion wurde insbesondere die auch für europäische Programme interessante Frage aufgeworfen, wie viel institutionelle Förderung eine regionale Zusammenarbeit eigentlich braucht und was Menschen im grenznahen Raum im Grunde auch ohne Förderung immer schon, zumindest unter historisch nicht allzu ungünstigen Umständen, an grenzüberschreitender Zusammenarbeit pragmatisch initiieren. Als methodischer Zugriff wurde insbesondere das kollektivbiographische Arbeiten diskutiert, in dem aufeinander bezogene und gleichzeitig grenzüberschreitende Biographien in einen kohärenten historischen Zusammenhang gestellt werden könnten. Gleichzeitig zeigte sich eine gewisse Schwierigkeit, die drei betrachteten Regionen systematisch miteinander zu vergleichen, da es zum Beispiel entlang der DDR-polnischen Grenze keine der Arbeitsgemeinschaft Alpe-Adria oder der Oberrheinkooperationen vergleichbare regionale, institutionalisierte Zusammenarbeit gegeben hatte. Fruchtbar wäre jedoch möglicherweise, die grenzüberschreitenden Kooperationen entlang der deutsch-polnischen Grenze nach 1989/91 mit in die Betrachtung zu nehmen. In der Diskussion wurde schließlich auch deutlich, dass eine weitere Kooperation der Veranstalter der Tagung in diesem Bereich angestrebt wird und insbesondere ein größeres Forschungsprojekt zu institutionalisierten Formen der grenzüberschreitenden Kooperation vorbereitet werden wird.

Konferenzübersicht:

MICHAEL KISSENER, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz / ANITA PRETTENTHALER-ZIEGERHOFER, Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung, Karl Franzens-Universität: Begrüßung und Einbegleitung

SEKTION 1: ÖSTERREICH – SLOWENIEN

PANEL 1: Formell-administrative Formen der Zusammenarbeit
Moderation: Anita Prettenthaler-Ziegerhofer

RENATE KICKER, Institut für Völkerrecht, Universität Graz / STEFAN BÖRGER, Amt der Steiermärkischen Landesregierung-Fachabteilung Europa und Außenbeziehungen: Von der Arbeitsgemeinschaft Alpe-Adria über die Zukunftsregion zur Zusammenarbeit von Adria-Alpe-Pannonia in der Europäischen Union

BOJKO BUCAR, Leiter des Institutes für internationale Beziehungen, Universität Laibach: Is the Working Community Alps-Adria obsolete?

PANEL 2: Informelle Wege von Kooperation und Austausch
Moderation: Peter Pichler

EDUARD STAUDINGER, Institut für Zeitgeschichte, Universität Graz: Leben mit und an Grenzen. Am Beispiel der steirisch-slowenischen Grenze

DUŠKA KNEŽEVIC-HOCEVAR, Institute of Medical Science SRC SASA, Laibach: To plan cross-border cooperation through the development programme Slovenia-Croatia 2007-2013: Some dilemmas

SEKTION 2: DEUTSCHLAND – FRANKREICH

PANEL 1: Formell-administrative Formen der Zusammenarbeit

SIMON LANG, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer: Grenzüberschreitende Beziehungen am Oberrhein: Der politisch-administrative Rahmen

PANEL 2: Informelle Wege von Kooperation und Austausch
Moderation: Michael Kissener

WOLFGANG NEUMANN, Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg: Was Bürger wünschen – Grenzüberschreitende Beziehungen am Oberrhein im Urteil der Öffentlichkeit

VERENA VON WICZLINSKI / PIA NORDBLOM, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Die Sprache des Nachbarn - ein Bildungsauftrag für Marianne und Michel?

JÜRGEN ELVERT, Historisches Seminar II, Universität Köln: Die Benelux-Staaten zwischen Deutschland und Frankreich. Ein Laboratorium der europäischen Integration?

SEKTION 3: DEUTSCHLAND – POLEN

PANEL 1: Formell-administrative Formen der Zusammenarbeit
Moderation: Andreas Frings

BURKHARD OLSCHOWSKY, Bundesinstitut für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg: Kontakte und Nichtkontakte an der deutsch-polnischen Grenze.

DARIUSZ WOJTASZYN, Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien, Uniwersytet Wrocławski: Offizielle Kontakte zwischen der DDR und Polen in der Grenzregion.

PANEL 2: Informelle Wege von Kooperation und Austausch
Moderation: Jan Kusber

JERZY KOCHANOWSKI, Instytut Historyczny, Uniwersytet Warszawski: Schleichwege. Inoffizielle Begegnungen und Kontakte sozialistischer Staatsbürger zwischen Polen und der DDR 1956-1989.

Abschlussdiskussion


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