Freibeuter der Moderne: Politisch-militärische Akteure an den Rändern von Souveränität und Legitimität

Freibeuter der Moderne: Politisch-militärische Akteure an den Rändern von Souveränität und Legitimität

Organisatoren
Universität Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
20.10.2011 - 21.10.2011
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Von
Adrian Wettstein, Dozentur Strategische Studien, Militärakademie, ETH Zürich

Das internationale Kolloquium „Freibeuter der Moderne: Politisch-militärische Akteure an den Rändern von Souveränität und Legitimität“ fand, gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds, an der Universität Bern aus Anlass von Stig Försters 60. Geburtstag statt. Der gewählte Themenkomplex ergab sich aus den zwei hauptsächlichen Forschungsgebieten des Geehrten, der Militärgeschichte einerseits, der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus andererseits. Bei den Referenten handelte es sich um Freunde und Wegbegleiter sowie um Schüler von Stig Förster, wodurch mancher Vortrag auch eine freundschaftliche und anekdotische Note erhielt. Gewaltbasierte Umfelder des Krieges, des Nachkrieges und des Ausnahmezustandes, wie sie an den Randzonen und Grenzen nationaler und imperialer Macht bestanden, brachten stets auch besondere Akteurstypen hervor. Diese hatten einerseits das Privileg, weitgehend frei von Hierarchien, bürokratischer Kontrolle und rechtlicher Einschränkung zu handeln, waren andererseits aber auf sich gestellt und konnten nur beschränkt Schutz und Unterstützung des Souveräns im fernen Hintergrund beanspruchen. Diese Figur des Grenzüberschreiters entzieht sich auf den ersten Blick einer eindeutigen Klassifizierung. Zu nennen sind die klassischen men on the spot an der Peripherie von Imperien, Insurgenten, Spione, Missionare, Nachrichtenhändler, Interessenmakler sowie private Gewaltunternehmer.

DIERK WALTER (Hamburg) porträtierte mit Charles Gordon (1833-1885) einen ebenso exzentrischen wie widersprüchlichen Vertreter der men on the spot, dem Thema der ersten Sektion. Walter machte deutlich, wie Gordon sehr rasch versuchte, an die Grenzen (oder auch jenseits der Grenzen) des Britischen Empires versetzt zu werden, um sich damit aktiv den von ihm gewünschten Handlungsspielraum zu verschaffen. Für Gordon erwiesen sich die Medien als wichtige Machtmittel seinen Vorgesetzten gegenüber. Aufgrund seines Heldenstatus konnte er von der britischen Regierung Maßnahmen fordern, die weit über die eigentlichen Möglichkeiten seines Rangs hinausgingen. Die damit verbundene Fragestellung – wie Akteure an der Peripherie aufgrund der öffentlichen Meinung und der Medien ihre Vorgesetzten regelrecht erpressen konnten – ging leider im weiteren Verlauf der Tagung etwas unter.

TANJA BÜHRERs (London) Portrait des deutschen Offiziers Hermann von Wissmann (1853-1905) fokussierte auf den bewussten Versuch deutscher politischer und militärischer Führungsstellen, sich politischen Auswirkungen zu entziehen, indem Gewalt privatisiert wurde. Die leitenden Stellen entschieden sich sehr schnell für Wissmann, der zwar bereits durch notorische Disziplinlosigkeit im Militär aufgefallen war, aber als einziger Kandidat Afrikakenntnisse und militärische Ausbildung mitbrachte. Sein herrisches Auftreten und die Unfähigkeit sich einzuordnen wie auch die weitreichenden Befugnisse der Zentrale ließen aber die Situation in Deutsch-Ostafrika dermaßen eskalieren, dass Wissmann bei der Neuordnung der Kolonie keinen Platz mehr fand – seine Ernennung zum Kommandeur der Schutztruppen blieb ein Zwischenspiel.

ALEXANDER KEESE (Porto) ging anhand eines aussergewöhnlichen Quellenbestandes der Frage nach, wie die Mentalität von belgischen und französischen Söldnern beschaffen war, die während der Dekolonialisation insbesondere im subsaharischen Raum eine gewichtige Rolle spielten. In der Literatur werden die Männer entweder als Glücksritter oder als Exponenten des französischen Neo-Kolonialismus gedeutet. Insbesondere anhand von Bob Denard (1929-2007) konnte Keese aufzeigen, dass sich die Söldner eher als eine Elite verstanden, die an der Peripherie des Westens das Vordringen des Kommunismus stoppten. Erst in der Mitte der 1970er-Jahre wechselten die Motive deutlich ins Ökonomische hinein und die Gewinnmaximierung rückte ab diesem Zeitpunkt in den Vordergrund.

In der zweiten Sektion, deren Klammer Eurasien war, diskutierte DITTMAR DAHLMANN (Bonn) in seinem äußerst detailreichen Vortrag die russische „Eroberung“ Kamtschakas um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert durch Vladimir Atlasov mit einem Kontingent von weniger als hundert Mann. Dabei stellte Dahlmann klar, dass Atlasov auf eigene Faust und auf eigene Rechnung handelte, getrieben von der Hoffnung nach sozialem Aufstieg – oder wie es ein Beobachter formulierte: „aus roher Habsucht und edler Ruhmessucht“. Des Weiteren beleuchtete er die wenig bekannte Entwicklung der Kolonialisierung Kamtschakas, die mit einem massiven Schwund der einheimischen Bevölkerung infolge Gewalt, Krankheiten und Hunger einherging. Als roter Faden zog sich dabei ein Vergleich mit den spanischen Konquistadoren in Süd- und Mittelamerika durch, der die Ähnlichkeit des Selbstverständnisses und der Vorgehensweise der Akteure aufzeigte.

JÖRG BABEROWSKI (Berlin) wählte mit dem Terroristen Boris Savinkov (1879-1925) einen Mann, der zwar am Rande von Souveränität und Legitimität, aber territorial aus dem Innern heraus agierte. Baberowski bezeichnete Savinkov als einen „Techniker der Gewalt“, der selber nur plante und organisierte, nicht aber tötete. In dieser Rolle blühte er aber geradezu auf und wurde zu einem der maßgeblichen Mitglieder des bewaffneten Arms der Sozialrevolutionären Partei. Wie wenig Ideologie ihm bedeutete wird klar, wenn man die weitere Karriere Savinkovs betrachtet: Nach einem Exil kehrte er 1917 nach Russland zurück, wurde stellvertretender Kriegsminister in der Kerenski-Regierung und schloss sich im Bürgerkrieg den Weißen an. Gerade die Motivation und Mentalität Savinkovs, wie sie von Baberowski dargestellt wurde, zeigen die Grenzen einer auf strukturelle Erklärungen ausgerichteten Argumentationslinie auf.

Mit Olivier North (geb. 1943) stellte BERND GREINER (Hamburg) eine der Schlüsselfiguren der Iran-Contra-Affäre, die aber darüber hinaus auch in die Planungen der Invasion Grenadas, der US-Vergeltungsangriffe gegen Libyen und der Befreiung des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro involviert war. North agierte zwar sowohl räumlich als auch positionell innerhalb des Zentrums der US-Administration, Greiner machte jedoch deutlich, dass durch einzelne Exponenten der politischen Führung ganz bewusst innerhalb dieser Struktur Spielraum geschaffen worden war. Dabei ging es darum, dem Präsidenten außenpolitschen Handlungsspielraum am Kongress vorbei und ohne Verantwortlichkeit zu verschaffen, ähnlich wie es auch zuletzt in der Bush-Administration der Fall gewesen war. North nutzte die weitreichenden Freiheiten und operierte in der Iran-Contra-Affäre nicht nur am Kongress, sondern auch an der CIA vorbei, so Greiner. North verstand sich dabei als eine Art Prätorianer, der an der Peripherie die Vereinigten Staaten verteidigte.

Mit dem zur Krisenbewältigung nach Kuba entsandten Valeriano Weyler (1838-1930), von den zeitgenössischen Medien als „Schlächter“ und „dementer Dämon“ bezeichnet, griff ANDREAS STUCKI (Bern) einen der Prototypen des kolonialen „Gewaltfachmannes“ heraus. Weyler hatte sowohl in der Metropole als auch in verschiedenen spanischen Besitzungen Dienst bei der Niederschlagung von Aufständen geleistet und dabei Erfahrungen gesammelt, die ihn zur logischen Wahl für die Niederschlagung des kubanischen Aufstandes (1895-1898) machte. Seine brutale Strategie allerdings heizte den Konflikt zusätzlich an und führte letztlich zum Verlust der Insel.

JÖRG NAGLER (Jena) befasste sich in seinem Vortrag mit Allan Pinkerton (1819-1884). Auch bei diesem Mann stachen die Merkmale einer exzentrischen Persönlichkeit besonders hervor, wobei hier nur seine revolutionäre Gesinnung, die ihn zur Flucht aus Schottland zwang, seine Sympathie für John Brown und seine Engagement für die Underground Railroad erwähnt seien. Bei Kriegsausbruch wurde seine Detektei von Abraham Lincoln direkt mit nachrichtendienstlichen Aufgaben beauftragt, die sie allerdings nur bedingt erfüllen konnte. Hierbei ging Nagler auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit im amerikanischen Bürgerkrieg ein, die noch wenig erforscht ist. Deutlich wurde – wie auch schon im Vortrag von Greiner – die strukturelle Tendenz in den USA hervorgehoben, staatliche Aufgaben Privaten zu übertragen, was Grenzgänger wie North und Pinkerton förderte.

In seinem Vortrag zu Julius von Hartmann (1774-1856), einem der Exponenten der hannoveranischen King’s German Legion, ging JASPER HEINZEN (Bern) anhand des Konzepts der Liminalität von Victor Turner der Frage nach, welche Übergangsriten die Mentalität der Hannoveraner in englischen Diensten prägte. Heinzen zeichnete die Konfliktlinie zwischen daheimgeblieben, späteren Landwehroffizieren und der Elite der King’s German Legion nach, die durch die unterschiedlichen Übergangsriten entstanden waren und die Zeit nach den Napoleonischen Kriegen hinsichtlich der Postenverteilung im Hannoveranischen Heer prägten. Die damit verknüpfte Frage nach den Versuchen zur Reintegration von Grenzgängern respektive deren Wahrnehmung nach einer Krisensituation bedürfte einer vertieften Betrachtung.

DANIEL SEGESSER (Bern) befasste sich mit dem Wandel des Weltbildes von Gustave Rolin-Jaequemyns (1835-1902). Der belgische Völkerrechtler, der noch in der Kongo-Konferenz eine eurozentrische Sichtweise vertreten hatte, war aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit Frankreich in Siam zu einer sehr viel offeneren Position gelangt, die zudem deutlich gegen eine Kolonialisierung des Landes stand. Mit rechtlichen Reformen, die eine Vermischung lokaler Rechtstradition mit europäischen Normen vorsah, wollte er Siam zu einem Mitglied der zivilisierten Welt machen. Wichtige Ziele erreichte er hierbei mit dem Staatsbesuchen in Europa 1897 durch den siamesischen König Chulalongkorn sowie der Teilnahme Siams an der Haager Friedenskonferenz 1899.

Mit Colmar von der Goltz (1843-1916) und Oskar Ritter von Niedermayer (1885-1948) präsentierten ALEXANDER KRETHLOW (Bern) und MARKUS PÖHLMANN (Potsdam) zwei deutsche Offiziere, die durch ihre Karriere und Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich und Asien einerseits zu Außenseitern im Offizierskorps wurden, andererseits zu unverzichtbaren Spezialisten für den Kampf an dem vom Deutschen Reich als Peripherie wahrgenommen Nahen und Mittleren Osten. Dies führte auch dazu, dass beiden Offizieren für ihre weitreichenden Pläne nie ausreichende Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, wobei allerdings auch in beiden Fällen die Frage nach dem Realitätsgehalt dieser Pläne zu stellen bleibt. Während bei Krethlow die für einen deutschen Offizier des Kaiserreichs erstaunlich weitreichende Annäherung von der Goltz‘ an die osmanische Kultur im Vordergrund stand, betonte Pöhlmann bei Niedermayer dessen Fähigkeit zur ethnokulturellen Mimikri, die sich vor allem auch in der Niedermayer-Hentig-Expedition zeigte. Aufschlussreich für das Grenzgängertum des Letzteren war aber auch seine weitere militärische Karriere im Zweiten Weltkrieg, als er aufgrund seines wissenschaftlichen Werkes mit der Aufstellung von Freiwilligen-Verbänden aus Georgiern, Kaukasiern, Turkmenen und Armeniern beauftragt wurde, schließlich aber 1944 von der Gestapo wegen Regimekritik und Wehrkraftzersetzung verhaftet wurde.

Mit Oskar Dirlewanger (1895-1945) war auch der von SÖNKE NEITZEL (Mainz) vorgestellte Protagonist Teil einer größeren Organisation mit staatlichen Aufgaben, die aber selber als Ganzes an den Rändern von Souveränität und Legitimität agierte. Neitzel zeigte aber auf, dass Dirlewanger sich selbst innerhalb der SS einen Sonderstatus verschaffte. Dies gelang ihm mit Rückendeckung von seinem Freund Gottlob Berger, dem Leiter des SS-Hauptamtes, sowie unter Billigung von Heinrich Himmler. Gemäß Neitzel erkannten beide in Dirlewanger einen nahezu idealtypischen Kämpfer des nationalsozialistischen Kriegerbildes. Er war kein professioneller, dafür aber umso mehr ein politischer Soldat, hoch dekoriert und bereit seine Leute zu opfern, und zwar nicht zu einem militärischen Mehrwert, sondern um des Opfers willen. Dirlewanger war aber militärisch inkompetent und brutal, so Neitzel. Somit verkörperte er nicht nur im NS-Bild, sondern auch in der Realität die Eigenschaften der Waffen-SS.

Vermisst wurden bei dieser Tagung Frauen als Akteure, was nicht zuletzt auf den Ausfall von Bettina Greiner mit ihrem geplanten Vortrag zu Sacagawea zurückzuführen ist. Ebenfalls allzu knapp wurden die den Akteuren gegenüberstehenden Menschen – einzeln und kollektiv – behandelt. Die Diskussionen an der Tagung drehten sich angesichts des Themas stark um die Frage, wie sehr Persönlichkeiten und Strukturen in der Erklärung des Werdegangs und Handelns einzelner Akteure zu gewichten sind. Dabei wurde deutlich, dass nahezu alle der vorgestellten Personen ausgeprägte Exzentriker waren, wobei dieser Wesenszug teilweise ins Pathologische abdriftete. Andererseits ermöglichten erst die Strukturen – oder in einem gewissen Sinne das Fehlen derselben – diesen Protagonisten, in ihre Machtpositionen zu gelangen und derart Einfluss auf das jeweilige Geschehen zu nehmen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Markus Pöhlmann (Potsdam)

Einführung: Tanja Bührer (London)

„Men on the Spot“ als historische Archetypen
Chair: Hew Strachan (Oxford)

Dierk Walter (Hamburg): „I am in Honour Bound to the People“: Charles George Gordon, Kommandeur der „Immer Siegreichen Armee“ Chinas und Generalgouverneur des ägyptischen Sudan

Tanja Bührer (London): Herrmann Wissmann: Ein Condottieri als Notbehelf

Alexander Keese (Porto): Die letzte Gefechtslinie: Bob Denard, Entkolonialisierung und Söldnermentalität im subsaharischen Afrika, 1960–1975

Eroberung und Terror in Eurasien
Chair: Marina Cattaruzza (Bern)

Dittmar Dahlmann (Bonn): Der Pizarro Russlands: Vladimir Atlasov und die Eroberung Kamtschakas an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert

Jörg Baberowski (Berlin): Boris Savinkov und der russische Terrorismus

Into the Americas
Chair: Xosé Manoel Nuñez Seixas (Santiago de Compostela)

Jörg Nagler (Jena): Allan Pinkerton: Geschäft und Nachrichtendienst im Amerikanischen Bürgerkrieg

Andreas Stucki (Bern): Vom „Schlächter“ auf Cuba zum Minister in Spanien: Valeriano Weyler y Nicolau – eine Erfolgsstory?

Bernd Greiner (Hamburg): Oliver North: Guerillakämpfer an allen Fronten

Zwischen den Interessen der europäischen und der außereuropäischen Welt
Chair: Benedikt Stuchtey (London)

Jasper Heinzen (Bern): Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: General Sir Julius von Hartmann (1774-1856) als Prototyp des hannoverschen Söldners in englischen Diensten

Daniel Marc Segesser (Bern): Im Clinch zwischen belgischer Kongo-Politik und Engagement für die Zivilisation in Siam: Der belgische Diplomat und Völkerrechtler Gustave Rolin-Jaequemyns

An den Peripherien des Deutschen Reiches
Chair: Gerd Krumeich (Freiburg im Breisgau)

Carl Alexander Krethlow (Bern): Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz und der globale Krieg

Sönke Neitzel (Mainz): SS-Oberführer Oskar Dirlewanger: Ein Landsknecht und seine Methoden der Bekämpfung „slawischer Untermenschen“ während der Operation Barbarossa

Markus Pöhlmann (Potsdam): Krieg und Geographie: Oskar Ritter von Niedermayer im Herzland

Abschlusskommentar: Stig Förster (Bern)


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