Die Mobilisierung des Körpers. Prothetik seit dem Ersten Weltkrieg

Die Mobilisierung des Körpers. Prothetik seit dem Ersten Weltkrieg

Organisatoren
Verbundprojekt „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte“; Deutsches Hygiene-Museum Dresden; Technische Universität Berlin
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.03.2014 - 14.03.2014
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Von
Mathis Nolte, Abteilung Geschichtswissenchaften, Universität Bielefeld; Elena Gußmann, Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Technische Universität Berlin

Der Erste Weltkrieg und die mit ihm verbundenen extremen physischen und psychischen Belastungen hatten auf die kulturelle, intellektuelle und künstlerische Wahrnehmung menschlicher Körper ebenso wie auf die Entwicklung neuer Technologien der Wiederherstellung, Verbesserung und Steigerung körperlicher Eigenschaften und Fähigkeiten einen kaum zu überschätzenden Einfluss. Insbesondere in der Konfrontation mit den Erfahrungen der versehrten Soldaten aus den Materialschlachten des modernen Stellungskrieges wurde nicht nur die Verletzlichkeit von Körpern sichtbar gemacht, sondern gleichzeitig auch die Hoffnung ihrer technologischen Überwindung durch Prothetik geweckt.

Ausgehend vom Ersten Weltkrieg als paradigmatischem Ereignis verfolgten und hinterfragten Veranstalter, Referentinnen und Referenten die These einer fortschreitenden „Mobilisierung des Körpers“ durch Prothesen bis in die Gegenwart. Insgesamt fünf interdisziplinär angelegte Panels und ein öffentlicher Abendvortrag nahmen dabei aus verschiedenen Perspektiven in den Blick, wie mittels Objekten, Praktiken, Diskursen und Bildern die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine immer wieder neu konfiguriert wurde und wird.

Zum Auftakt der Tagung wurde im ersten Panel zunächst das Verbundprojekt „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte“ der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Hygiene-Museums Dresden vorgestellt, das seit August 2013 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in deren Förderinitiative „Die Sprache der Objekte“ gefördert wird. Prothesen, so machte CHRISTOPH ASMUTH (Berlin) deutlich, sind symbolisch hoch aufgeladene Objekte. Verstanden als technische Körperersatzteile sind sie einerseits eingebettet in Prozesse der Überwindung von Behinderung, Verletzung, Verkrüppelung und dokumentieren, verfestigen oder aktualisieren andererseits kulturelle und gesellschaftliche Leistungs- und Normierungserwartungen. Mit der wachsenden Fülle an Artefakten, die wir in und an uns tragen, werden die Körper, die wir sind und die wir haben, zunehmend modifiziert. Die Fragen, wie weit Ersatz, Erweiterung und Ermächtigung menschlicher Fähigkeiten gehen können, ohne dass das Humane im Menschen zerfällt, bzw. inwieweit sich der Mensch technisieren und/oder die Technik vermenschlichen lässt, weisen dabei längst über eine Prothetik im engeren medizintechnischen Sinne hinaus. Ziel des Verbundprojektes sei es daher zu erforschen, wie sich gesellschaftlicher und kultureller Wandel sowie Innovation und Interaktion von Mensch und Technik in konkreten Objekten ausdrücken. Erste Einblicke, welche Objekte dies sein könnten, gaben SUSANNE ROESSIGER und ANNIKA WELLMANN-STÜHRING (beide Dresden) anhand einer Vorführung des Sammlungsbereichs „Prothetik“ des Deutschen Hygiene-Museums, welcher die materielle Grundlage des Verbundprojekts bildet. Versammelt sind hier insgesamt etwa 1.000, vorrangig aus dem 20. und 21. Jahrhundert stammende Artefakte. Anhand ausgewählter Beispiele von Arm- und Beinprothesen über Herzschrittmacher und Brustimplantate bis hin zu prothesenbewehrten Spielzeugfiguren veranschaulichten Roeßiger und Wellmann-Stühring die Vielseitigkeit ihres Bestandes und hinterfragten, inwieweit Materialität, Form und Technik der Objekte sowie deren Rückprojektion in Gebrauchs- und Entstehungskontexte dazu beitragen könnten, gesellschaftliche und kulturelle Einschreibungen aufzuspüren.

Im zweiten Panel „Angepasst. Die Herstellung von Mensch-Maschine-Schnittstellen“ wurde eine Brücke von den historischen Bedingungen zu aktuellen Trends der Prothetik geschlagen. THOMAS SCHNALKE (Berlin) hinterfragte in seinem Beitrag sowohl die Vorstellung eines erfinderischen Genies wie auch die technische Machbarkeit als hauptverantwortliche Schrittmacher der Prothesenentwicklung. Vielmehr wurde die Frage nach der zeitlichen Schnittstelle in den Fokus gerückt. Anhand einiger exemplarischer medizinhistorischer Wendepunkte erläuterte Schnalke die Idee der „meeting points“, an denen Mensch und Prothese zueinanderfanden. Diese seien vor allem durch von medizinischen Innovationen veränderte Körperbilder terminiert, dadurch in hohem Maße kulturell und gesellschaftlich vermittelt und aus dieser Perspektive besonders fruchtbar erforschbar. Für eine Fokussierung auf nicht-technische Parameter sprach sich auch JAN SEIFFERT (Ludwigsburg) aus. Statt technikzentrierter Gestaltung vertrat Seiffert, selbst in der Entwicklung tätig, die Ausrichtung der Forschung auf die Bedürfnisse und Motivationen der Menschen. Mit der Darstellung aktueller Trends der Prothesenentwicklung, wie bspw. der Techniksteuerung mittels Gedanken, bereicherte er die Tagung vor allem durch die Bewusstmachung des im öffentlichen Diskurs oft nicht wahrgenommenen Hiatus zwischen visionären Ideen der Trendscouts und dem tatsächlichen Stand der Technik.

Das dritte Panel „Marktgängig. Werbung für Prothesen, Werbung mit Prothesen“ stellte diskursive und visuelle Inszenierungen von Prothesen und Prothesenträger_innen im öffentlichen Raum in den Mittelpunkt. So thematisierte SYBILLA NIKOLOW (Berlin) Kriegsfürsorgeausstellungen, Selbstdarstellungen von Lazarettschulen- und werkstätten sowie Vorführungen von „Vorzeigeinvaliden“ als Elemente eines nationalen Beruhigungsdiskurses – eines Diskurses, welcher die Schrecken des Ersten Weltkrieges durch die zur Schau gestellte Leistungsfähigkeit von Medizinern und Ingenieuren zu kompensieren versuchte, indem er immer wieder vor Augen führte, dass jeder Versehrte mit den entsprechenden Hilfsmitteln und durch Mobilisierung seiner eigenen Willenskraft wieder vollwertige Arbeitskraft erlangen und in die Nachkriegsgesellschaft integriert werden könne. Daran anschließend fragte SABINE KIENITZ (Hamburg) nach den sich wandelnden Logiken medialer Inszenierungen körperlicher Behinderungen und technischer Artefakte vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Gerade in den digitalen Medien, so Kienitz‘ Beobachtung, inszenieren sich Menschen mit Behinderungen dabei zunehmend als Vertreter_innen einer popkulturellen Technik-Avantgarde, welche die technische Erweiterung ihres Körpers als identitätsstiftend und als Zugewinn an Prestige und Aufmerksamkeit genießen. Ein Leben mit modernen Prothesen, so die Botschaft, ist nicht nur gut zu bewältigen, sondern kann stolz und selbstbestimmt geführt und als Lifestyle der Weltöffentlichkeit sichtbar gemacht werden.

„Robocops im Zombiekrieg. Verbesserte Menschen in verschlechterter Zeit“ hielten bei der öffentlichen Abendveranstaltung Einzug in den Tagungssaal. GEORG SEESSLEN (Berlin) und MARKUS METZ (München) konfrontierten das Publikum mittels einer Flut audiovisuell emphasierter Zitate aus populären Science-Fiction- und Horror-Fantasien mit kollektiven Transformationsängsten. Die aufgezeigten posthumanen Alternativen, den Menschen als mechanische Waffe oder erfahrungsunfähige organische Biomasse zu denken, füllten den Raum mit Unbehagen, das durch die Hoffnung, mit der Mechanisierung des Menschen würden vice versa die Maschinen humaner, kaum gemindert wurde.

Das vierte Panel „Fokus Objekt. Prothesen als Gebrauchsdinge und Kunstobjekte“ wurde durch einen Beitrag von MARION MARIA RUISINGER (Ingolstadt) eröffnet, der sich ganz auf ein einzelnes Objekt, nämlich die Sauerbruch-Prothese des Tegernseer Hutmachers Friedl Schätz, konzentrierte. Selbige wurde im Vortrag zum zentralen Dreh- und Angelpunkt, von dem ausgehend den Handschriften dreier Personen nachgespürt wurde, die sich in die Objekt-Biographie eingeschrieben und so der Prothese zu ihrer letztendlichen Form verholfen haben. Neben dem Prothesenträger Schätz, der seine Prothese immer wieder seinen beruflichen und privaten Bedürfnissen anpasste, bis Mensch und Objekt in den Erinnerungen der Familie zur Einheit verschmolzen, stellte Ruisinger so den Sauerbruch-Schüler Max Lebsche, ohne dessen chirurgisches Können die Prothese nicht an den Körper hätte gekoppelt werden können, und den Uhrmacher Jakob Hüfner vor, dem die Prothese ihren speziellen Mechanismus verdankte, welcher es ermöglichte, die künstliche Hand zu öffnen oder zu schließen. Den Fokus vom Alltagsgegenstand zum Kunstobjekt lenkend konzentrierte sich KARIN HARRASSER (Linz) in ihrem Beitrag auf die erste internationale Dada-Messe, die 1920 in Berlin stattfand. Als Generalthema der Ausstellung markierte sie den prothetisch präparierten Männer- und zugleich Volkskörper, der in seiner Logik der Ersetzbarkeit als politische Grenzfigur zwischen Abwesenheit und Verlustängsten oszillierte. Anhand von Werken von Otto Dix, George Grosz und Raoul Hausmann illustrierte Harrasser die durch Collagen oder collagenartige Zusammenschnitte oft kritisch und satirisch verarbeiteten Antworten der Avantgarde auf die versehrten und technisierten Körper.

Daran anschließend dem Verhältnis von Sprache und Objekt folgend ergänzte das fünfte Panel „Helden, Krüppel, Übermenschen. Prothetik in der Literatur“ die Diskussion um die literaturwissenschaftliche Perspektive. ROLAND INNERHOFER (Wien) kennzeichnete die Prothese und den Prothesenträger als einen neuralgischen Themenkomplex in der Poetik der Zwischenkriegszeit. Anhand zahlreicher Beispiele von Horváth über Toller und Roth bis Brecht wurde deutlich, wie produktiv sich die Prothese als hochsymbolisches Objekt zwischen Verlustängsten, Heldenträumen und Allmachtsphantasien zeigte und wie heterogen die Thematik verhandelt wurde – metaphorisch, phantastisch, satirisch. Der Beitrag von IRMELA KRÜGER-FÜRHOFF (Berlin) führte nicht nur von historischer zu zeitgenössischer Literatur, sondern lenkte zudem den Blick von der Prothese als Metapher kollektiver Verarbeitungsstrategien der Zwischenkriegszeit zu einer zwar weniger pathetischen, wenn auch nicht weniger politisch aufgeladenen, individualisierten literarischen Schreibstrategie im Umgang mit Körper-Ersatz- und Optimierungstechniken. Anhand dreier, teils autobiografischer, teils fiktionaler Fallgeschichten der Autoren David Wagner, Helmut Dubiel und Max Barry untersuchte Krüger-Fürhoff aktuelle populäre Narrative im Umgang mit Transplantaten, Neuroimplantaten und Prothesen. Dadurch machte sie neben den bekannten Polen natürlich/künstlich und sichtbar/unsichtbar auf eine Tendenz der Feminisierung des literarischen Prothesenkörpers im Bild der empfangenden Schnittstelle aufmerksam.

Als Auftaktveranstaltung des Verbundprojektes „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“ gelang es der Tagung, durch die Polyperspektivität sowohl ihrer Redner_innen als auch des anwesenden Publikums, eine erstaunlich breite Betrachtung der Thematik zu eröffnen. Die regen Diskussionen zeigten sich als wahrer Fragengenerator, dessen reichhaltige Impulse es nun (nicht nur) vom Verbundprojekt zu ordnen, zu dokumentieren aber auch zu selektieren gilt. Als eine zentrale, weiter zu beforschende und zu differenzierende Problematik erwies sich die Frage nach dem Objektwissen und dem adäquaten Forschungsdesign zur Befragung desselben. Prothesen, so zeigten die Beiträge, präsentieren sich einerseits als gesellschaftlich wie kulturell hochgradig symbolisch aufgeladene, durch vielfältige Ziele, Hoffnungen, Wünsche und Ängste befrachtete Massenprodukte und andererseits in der Anpassung an konkrete Körperlichkeit und Bedürfnisse ihrer Träger und Trägerinnen individualisierte Objekte. Die aufgeworfenen Fragen nach Ersatz, Erweiterung und Ermächtigung menschlicher Fähigkeiten und der Humanität der Technik erwiesen sich somit auch als ein möglicher Zugang für die weitere Erforschung sowohl kollektiver wie auch subjektiver Identitäten und Lebensentwürfe. In den Paneldiskussionen wurden diese Thematiken zunächst vor allem in der Hinterfragung eines geschlechtsspezifischen Umgangs mit Körper, Behinderung und Prothetik angesprochen, und es kann mit Spannung erwartet werden, wie diese Anregungen in kommenden Veranstaltungen aufgegriffen und angenommen werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Klaus Vogel (Dresden)

Panel 1: Einführung

Christoph Asmuth (Berlin), Menschliche Technik – technisierter Mensch. Fragen, Thesen, Aufgaben des Forschungsprojektes

Susanne Roeßiger (Dresden) / Annika Wellmann-Stühring (Dresden), Forschung im Ersatzteillager. Die Sammlung zur Prothetik im Deutschen Hygiene-Museum

Panel 2: Angepasst. Die Herstellung von Mensch-Maschine-Schnittstellen.

Thomas Schnalke (Berlin), Der Mensch als Schnittstelle. Zur Geschichtlichkeit der Prothese

Jan Seiffert (Ludwigsburg), Neuroprothetik: Bedürfnisorientierte statt technikzentrierte Gestaltung

Panel 3: Marktgängig. Werbung für Prothesen, Werbung mit Prothesen

Sybilla Nikolow (Berlin), „Es gibt kein Krüppeltum mehr, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden.“ Mobilisierung mit Prothesen im Ersten Weltkrieg

Sabine Kienitz (Hamburg), Prothesen-Körper. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Technik als Handlungs- und Deutungsraum

Panel 4: Öffentliche Abendveranstaltung

Georg Seeßlen (Berlin) / Markus Metz (München), Robocops im Zombiekrieg. Verbesserte Menschen in verschlechterter Zeit

Panel 5: Fokus Objekt. Prothesen als Gebrauchsdinge und Kunstobjekte

Marion Ruisinger (Ingolstadt), Einschreibungen. Die Sauerbruch-Prothese des Tegernseer Hutmachers

Karin Harrasser (Linz), Prothesen ausstellen. Partialobjekte und Zeugen der Objektivierung des Körpers

Panel 6: Helden, Krüppel, Übermenschen. Prothetik in der Literatur

Roland Innerhofer (Wien), Harte Fügung. Zur Poetik der Prothese in der Zwischenkriegszeit

Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Berlin), Transplantat – Neuroimplantat – Prothese. Literarische Reflexionen über das Leben mit biologischen und technischen „Ersatzteilen“

Tagungsfazit

Christoph Asmuth (Berlin) / Susanne Roeßiger (Dresden)


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