Ludwigstein: Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert. Archivtagung im Archiv der deutschen Jugendbewegung

Ludwigstein: Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert. Archivtagung im Archiv der deutschen Jugendbewegung

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb)
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.10.2014 - 25.10.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Maria Daldrup, DFG-Projekt „Julius Groß“ im Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen

E-Mail: maria.daldrup@burgludwigstein.de Die Jahrestagungen im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) widmen sich thematisch stets Aspekten von Jugend und Jugendbewegung im 20. Jahrhundert. In diesem Jahr stand erstmals der Tagungsort selbst, die Jugendburg Ludwigstein, im Fokus. Seit im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Wandervogel-Gruppen die renovierungsbedürftige Burg im Werratal als Fahrtenziel entdeckt und eine zu diesem Zweck gegründete „Vereinigung“ 1920 das alte Gemäuer vom preußischen Staat erworben hatte, schrieb sich der Ludwigstein gleich auf doppelte Weise in die Geschichte der deutschen Jugendbewegung ein: als eine bis heute lebendige, überregionale Begegnungsstätte und als Erinnerungsort mit Sitz des AdJb. Dennoch ist eine Geschichte der Burg insbesondere für die Zeit nach 1945 ein Forschungsdesiderat. Auf der Archivtagung 2014 sollten deshalb grobe Linien abgesteckt werden, entlang welcher Fragestellungen eine Burggeschichte erarbeitet werden könnte, um so einen Ausgangspunkt für eine differenziertere Auseinandersetzung mit der (Selbst-)Historisierung der Jugendbewegung in den Nachkriegsjahrzehnten zu schaffen.

In den Begrüßungsworten der Leiterin des AdJb, SUSANNE RAPPE-WEBER (Witzenhausen), sowie der Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats, BARBARA STAMBOLIS (Paderborn), wurde die enge Verflechtung von Burg- und Jugendbewegungsgeschichte nochmal gesondert hervorgehoben. So bot die Jugendburg Ludwigstein ab 1945 einen Sammlungspunkt für einstige WeggefährtInnen aus der Jugendbewegung, an dem über politische und/oder religiöse Differenzen hinaus eine gegenseitige Selbstvergewisserung zur Identitätsbildung beitrug. Die Zuschreibungen des Ludwigsteins als einem Erinnerungsort, unter anderem für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Wandervögel, verfestigten sich jedoch derartig, dass für die Jahrzehnte nach 1945 geradezu von einem „Erinnerungshort“ gesprochen werden könne.

In seinem Abendvortrag betonte ECKART CONZE (Marburg) den experimentellen Ansatz, den das diesjährige Oberthema mit sich bringe. Diverse Ebenen müssten in einer „Burggeschichte in der Erweiterung“ integriert und kritisch beleuchtet werden: so die Burggeschichte als Teil der Wirkungsgeschichte der Jugendbewegung, als Jugendherberge und Treffpunkt für (über)bündische Gruppierungen, als Bau-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte sowie als Sitz des AdJb. Die bereits in den Begrüßungsworten angedeutete „Erinnerungsarbeit“ von älteren, um 1900 geborenen Bündischen und Historikern aus den eigenen Reihen prägte über Jahrzehnte die Binnen- und Außenwahrnehmung der Jugendburg Ludwigstein. Dabei unterlagen insbesondere Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus einer „gezielten Vergesslichkeit“ (Arno Klönne). Der Pathos der Anfangsjahre ebenso wie der Nachkriegszeit, die verklärenden Erinnerungen und idealisierenden Geschichtskonstruktionen schlugen sich vielmehr in einem Verständnis der Burg Ludwigstein als einem positiv konnotierten Erinnerungs- und Gedächtnisort nieder. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Burg eröffne, so Conze, gleich einer Sonde den Blick auch auf Parallelen und Verbindungslinien zu einer allgemeineren bundesrepublikanischen Geschichte.

Den Einstieg in eine Geschichte nicht nur der Burg Ludwigstein, sondern auch ihrer unmittelbaren geographischen Umgebung machte der Historiker WERNER TROSSBACH (Witzenhausen), indem er sich einem Überfall auf den Jung-jüdischen Wanderbund Brith Haolim widmete, der sich in Wendershausen in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1931 ereignet hatte. Einige Mitglieder des Wanderbundes hatten, unterwegs zu einem Reichslager nahe der Burg Ludwigstein, in einer Scheune eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden und wurden von einer Gruppe bestehend aus Schülern der Kolonialschule Witzenhausen sowie der lokalen SA tätlich angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Trossbach analysierte diesen Akt der Gewalt aus verschiedenen Perspektiven und vermochte es, Details zu den Tätern, ihrer organisatorischen Einbindung bis hin zu ihren mitgeführten Waffen zu rekonstruieren. Einige der Angreifer wurden für die Tat in einem Prozess vor dem Reichsgericht im Oktober 1932 zu Haftstrafen verurteilt, kamen aber nur wenige Monate später im Rahmen einer allgemeinen Amnestie für politisch motivierte Straftaten wieder frei. Am Beispiel dieses „brutalen Terroraktes“, wie es in der Gerichtsakte hieß, zeigte Trossbach Verflechtungen von Konflikten im jugendbewegten Milieu mit medialer Öffentlichkeit, juristischer Auseinandersetzung und politischen Wandlungsprozessen.

ULLRICH KOCKEL (Edinburgh) beleuchtete den 1951 auf der Burg Ludwigstein gegründeten Dachverband aller Jugendverbände der aus Mittel- und Osteuropa vertriebenen, deportierten und geflohenen Deutschen, die Deutsche Jugend des Ostens (DJO). Bewusst hatte sich der schnell wachsende Verband wegen der Nähe vieler seiner führenden Mitglieder zur bündischen Jugend und der symbolischen Lage in Sichtweite des „Eisernen Vorhangs“ für die Burg als Gründungsort entschieden. Kockel identifizierte wesentliche Zäsuren von der Gründung bis zu sukzessiven Veränderungen des Bundes, die im Kern mit der Frage nach dem Status einer europäischen Identität, dem Konfliktverhältnis zwischen einem variierenden Verständnis von Heimat und dem Wunsch nach einer deutschen Wiedervereinigung zusammenhingen. In den 1970er-Jahren mündeten diese Diskussionen in einem Bekenntnis zu Europa und einer Umbenennung der DJO in djo – Deutsche Jugend in Europa.

Der Biographie des Volkskundlers und Siedlungsplaners Erich Kulke (1908-1997), der zwischen 1959 und 1963 in der Nachfolge von Hermann Schafft und Karl Vogt Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein war, widmete sich CLAUDIA SELHEIM (Nürnberg). Wie viele seiner Zeitgenossen hatte sich Kulke in hohem Grade mit der nationalsozialistischen Ideologie identifiziert. Nicht zuletzt begründete sich dies auch in seiner Mitgliedschaft im völkisch orientierten Wandervogel deutscher Bund in Frankfurt an der Oder in seinen Jugendjahren. Kulkes Forschungsfokus lag auf Siedlungs- und Grenzlandfragen, insbesondere mit Blick auf den ländlichen Raum. Landromantik gepaart mit einem regulierenden Anspruch, wie er ihn in seiner Anleitung für eine optimale architektonische Gestaltung für „(d)as schöne Dorf“ entwarf, entsprachen durchaus der zeitgenössischen Suche nach Natur und Harmonie. Nach 1945 machte sich Kulke einen Namen durch sein Engagement für die Erhaltung niedersächsischer Bauernhäuser. Zugleich blieb er bis ins hohe Alter der Idee eines „deutschbetonten Lebens“ treu, wie Selheim in ihren detailreichen, aber noch als Spurensuche zu verstehenden Ausführungen verdeutlichte.

Der Zeithistoriker JÜRGEN REULECKE (Essen) stellte drei frühe Treffen des Freideutschen Kreises und ihre Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 in den Fokus seines Vortrages. Die erste Zusammenkunft zu Pfingsten 1947 im Kloster Altenberg (bei Wetzlar) sei durch das Bedürfnis einer gegenseitigen Entlastungsbeichte über die eigene Verflechtung und die explizite Formulierung von Schuld geprägt gewesen. Doch bereits beim zweiten Treffen, nur wenige Monate später im Oktober 1947 auf der Burg Ludwigstein, trat dieser Anspruch deutlich in den Hintergrund. Vielmehr standen angesichts einer steigenden Zahl von Mitgliedern nun, und auch beim dritten Treffen zu Pfingsten 1948 in Altenburg bei Köln, Fragen der Institutionalisierung des Kreises stärker im Vordergrund. Nach und nach wurde der Freideutsche Kreis zu einem stabilen Netzwerk und Hort der Selbstvergewisserung ehemals Jugendbewegter. Die frühen und mit einer kathartischen Wirkung verbundenen, möglichst schonungslosen Rechenschaftsberichte mündeten schließlich in einer jahrzehntelang funktionierenden, kollektiven Erzählung eines 'Hineinschlitterns' in den Nationalsozialismus, die erst in den 1990er-Jahren mit der selbstkritischen Einschätzung einer fehlenden Trauerarbeit und der Diagnose einer moralischen Schuld durchbrochen werden konnte. Am 4. Juni 2000 trafen sich die mittlerweile über 90jährigen Männer und Frauen ein letztes Mal im Kloster Altenberg. Ein, wie Reulecke eindrucksvoll zu beschreiben vermochte, emotional bewegendes Abschlusskonvent.

Als zentrale Figur sowohl für den Freideutschen Kreis als auch für die Burg Ludwigstein galt Hermann Schafft, dessen Wirken zwischen 1945 und 1956 LUKAS MÖLLER (Kassel) erörterte. Hineingeboren 1883 in eine Pfarrerfamilie, war Schafft in jungen Jahren Mitglied des Neuwerk-Kreises. 1947, in einer Zeit der Zukunftsungewissheit und daraus resultierenden Überlegungen, den gesamten Burgbetrieb einzustellen, übernahm er den Vorsitz in der Leitung der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein. Schafft, so arbeitete Möller heraus, war aufgrund seiner Distanz zum nationalsozialistischen System ein geeignetes Aushängeschild, gleichwohl er durch seine hauptberufliche Tätigkeit als Regierungsdirektor in Kassel nur wenig Zeit für die Angelegenheiten der Burg hatte. Sein erklärtes Ziel war es, auf der Burg „allen einen Platz zu bieten“. Dies bedeutete aber auch, zu Schaffts Empörung, dass sich vermehrt völkisch-nationalistische Gruppierungen auf der Burg sammelten, deren Liedgut ihm doch allzu einfältig auf Volk und Vaterland bezogen erschien.

Das Themenspektrum der Archivtagung erweiterte schließlich WOLFGANG HERTLE (Hamburg), der sich mit Friedensinitiativen auf der Burg Ludwigstein befasste. Pazifistische Strömungen hatten in der Jugendbewegung durchaus ihren Platz, so erinnerte Hertle mit Verweis auf Heinz Kraschutzki und Hans Paasche. 1951 fand so auch das internationale Grenzland-Treffen der War Resisters International auf der Burg Ludwigstein statt. Als symbolischer Akt zur Unterstreichung der Abrüstungsforderungen überquerten während dieser Zusammenkunft einige Mitglieder die Werra, um ihre Ansichten persönlich im „Osten“ kundzutun. An diesem Beispiel wurde noch einmal die Bedeutung der Burg Ludwigstein nicht nur in Bezug auf die deutsche Jugendbewegung, sondern auch als geographischer und symbolischer Ort im unmittelbaren Grenzbereich zur DDR deutlich.

In der Abschlussdiskussion wurden wesentliche Punkte dieser vielfältigen ersten Annäherungen an eine Geschichte der Burg Ludwigstein noch einmal aufgegriffen, Leerstellen benannt und Akzente gesetzt, die weiteren Forschungen Vorschub leisten und auf der Archivtagung 2016 vertiefend diskutiert werden sollen. Der Ludwigstein, so der Tenor, sei ein Mikrokosmos, innerhalb dessen verschiedenste Wertvorstellungen, Traditionen und Erneuerungen, aber auch handfeste Fragen nach Wirtschaftlichkeit oder der Bedeutung der Burg als Gedenkstätte und Herberge verhandelt wurden und werden.

Konferenzübersicht:

Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen)/Barbara Stambolis (Paderborn), Begrüßung

Eckart Conze (Marburg), Ludwigstein – Annäherung an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert (Abendvortrag)

Werner Trossbach (Witzenhausen), Der Überfall auf den Jung-jüdischen Wanderbund / Brith Haolim in Wendershausen am 4./5. August 1931

Ullrich Kockel (Edinburgh), Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951-1975)

Claudia Selheim (Nürnberg), Zur Biographie des Wandervogels, Volkskundlers, Siedlungsplaners und VJL-Vorsitzenden Erich Kulke (1908-1997)

Jürgen Reulecke (Essen), Das Treffen des Freideutschen Kreises auf dem Ludwigstein 1947

Lukas Möller (Kassel), „Komm und reihe Dich ein!“ – Die Jugendburg Ludwigstein von 1945 bis 1956 aus der Perspektive Hermann Schaffts

Wolfgang Hertle (Hamburg), Friedensinitiativen auf Burg Ludwigstein: Grenzüberschreitungen und das Grenzland-Treffen der War Resisters‘ International 1951

Abschlussdiskussion


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