HT 2018: Verblasst-verdrängt-vergessen? Vergangenheitsverlust als Forschungsproblem

HT 2018: Verblasst-verdrängt-vergessen? Vergangenheitsverlust als Forschungsproblem

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Janine Funke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Jedermann weiß, dass keine Erinnerung ohne gleichzeitiges Vergessen möglich ist“; mit diesen Worten leitete MARTIN SABROW (Potsdam / Berlin) seinen Eingangsvortrag in die Sektion „Verblasst-verdrängt-vergessen? Vergangenheitsverlust als Forschungsproblem“ am Mittwochmorgen ein. Obwohl es in der Forschung längst einen Konsens über die Verflechtung von Erinnern und Vergessen gibt, haftet dem Vergessen etwas „Ungehöriges“ an, so Sabrow, der zugleich darauf verwies, dass der Begriff des Vergessens auf den Faktor des menschlichen Handelns fokussiere und – bezogen auf seine Etymologie – „die Existenz von Relikten und Ablagespeichern“ voraussetze. Mit dieser Annahme sei es möglich, eine nicht normative Klassifizierung des historischen Vergessens zu entwickeln und gleichzeitig die „Paradoxie eines bewussten Vergessens“ zu überwinden. Sabrow unterschied im Folgenden zwischen dem intentionalen und dem nicht-intentionalen Vergessen. Ersteres beziehe sich auf einen gezielten Akt des Vergangenheitsverlustes in Form einer „politische[n] Säuberung und Nihilierung“, einer „Amnesie und Amnestie“ oder einer „Verdrängungs- und Beschweigekultur“. Das nicht-intentionale Vergessen dagegen sei dadurch charakterisiert, dass es gezielter Einflussnahme entbehre. Als Beispiel führte Sabrow den Brand der Anna-Amalia-Bibliothek von Weimar und den Inhalt eines nicht mehr decodierbaren Datenträgers an. In diese Kategorie fallen aber auch „die zahllosen Spielarten zeitbedingter Überformung und Vergleichgültigung“. In einem dritten Feld sei ein so gelagerter Vergessensbegriff aber auch in seiner eigenen Nutzung als Quellenterminus zu fassen, um beispielsweise Diskurse einer Vergessenskritik und Prozesse einer Vergessensbekämpfung zu bearbeiten. Die Sektion zielte darauf ab, den nicht-intendierten Vergangenheitsverlust und dessen Zeitlichkeit und Vielseitigkeit näher zu beleuchten.

Im ersten thematischen Beitrag widmete sich ULRIKE JUREIT (Hamburg) dem „normative[n] Vergessensdiskurs im Zeitalter der Aufarbeitung“ am Beispiel der von 1995 bis 1999 laufenden Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ und deren Neuauflage 2001. In der Ausstellungspraxis habe sich der Prozess des Erinnerns als aktiver Prozess gezeigt, welcher stets das „Ein- und Ausschließen von Dingen“ impliziere. Dieser Auswahlprozess nehme Formen des Vergessens in Kauf. Die Wahrnehmung des Vergessens als „Unvermögen“ oder gar eine Vergangenheitsfixiertheit, wie sie Jureit in der deutschen Erinnerungskultur beobachtet, reproduziere jedoch die ambivalente Auffassung, dass kollektives Erinnern unverzichtbar sei und einem drohenden Vergessen stets aktiv begegnet werden müsse. In der ersten Ausstellung habe eben diese Haltung einen „Vergangenheitsverlust durch Entkontextualisierung“ bewirkt, so Jureit. Der Fall Ternopil sei hierfür ein Beispiel. Mit dem Ziel, die „Verbrechen der Wehrmacht“ zu zeigen, fand eine selektive Repräsentation der Geschehnisse statt. Jene Auslassungen entbehrten einer Kontextualisierung und ließen sich wissenschaftlich kaum rechtfertigen. Gleiches gelte für eine teilweise entkontextualisierte Visualisierung der Kriegsverbrechen in Form von Fotos, welche sich durch eine selektive Repräsentation dem Vorwurf des intentionalen Vergessens stellen mussten. Jureit resümierte, dass die „normative Aufladung des deutschen Erinnerungsdiskurses“ zu einer Pfadabhängigkeit führe. Dies sei derzeit auch in Form eines gezielten Tabubruchs im politischen Feld zu beobachten. Auf einen derartig gelagerten Tabubruch werde dann mit „normativer Aufrüstung und gesteigerter Erinnerungspraktik“ reagiert.

Im nächsten Vortrag thematisierte DIETMAR SCHENK (Berlin) die archivarische Praxis der Kassation und ihren Begründungen. Im Gegensatz zum nicht-intentionalen Vergessen sei die Kassation kein „ungewollter Prozess“, sondern „hoch absichtsvoll“. Dies zeige sich beispielsweise anhand der Aktenautopsie. Um die Praxis der Kassation an einem Beispiel zu verdeutlichen, stellte Schenk den Aufbau des Archivs der Karl Hofer Gesellschaft an der Universität der Künste Berlin vor. Schenk bekam den Auftrag den Aufbau des dortigen Archives zu begleiten. Am Ende des Kassationsprozesses nahm das Archiv nur etwa zehn Prozent des tatsächlich in Umzugskartons gelagerten Materials auf. Die nicht als archivwürdig angesehen Unterlagen wurden der Vernichtung preisgegeben. Während der Arbeit stieß Schenk auf Überlieferungskerne, wie Vorstandsakten. Daraus ergebe sich die Frage, inwiefern es sinnvoll sei, sich auf diese Akten zu konzentrieren oder andere Kriterien anzulegen, die in eine Aktenbewertung einbezogen werden müssten. Schenk verwies hierzu auf die 1956 veröffentlichte Monografie von T.R. Schellenberg zu „Modern Archives, Principles & Techniques“ 1. Die zentrale Frage sei nun, ob die Kassationspraxis tatsächlich ein „Vergessen“ impliziere. Die Bewertung der Materialien im Selektionsprozess sei, so Schenk, die zentrale Fähigkeit und Kerntätigkeit der Archivarin oder des Archivars. Die Kontroverse der Kassation bestehe im Stellenwert der inhaltlichen Bewertung im Sinne einer pragmatischen Schriftlichkeit. Bewirkt die Kassation dann nicht lediglich die Vernichtung von Redundanz?

Dem schloss sich VOLKER DEPKAT (Regensburg) mit Gedanken zur Autobiografik des 20. Jahrhunderts als Form der Erinnerung und des Vergessens an. Depkat versteht die Autobiografie als ein Wechselspiel zwischen „spezifischen Formen des Erinnerns und spezifischen Formen des Vergessens“. Autobiografien seien, besonders im letzten Jahrhundert, eine Form der Kontinuität in einer Zeit der Diskontinuität. Im autobiografischen Akt erlebe der Schreibende sein Leben noch einmal als sinnvoll und transparent geschriebene Erzählung. Die verschiedenen Formen des Vergessens schlössen einen Prozess der Identitätsformung und der Periodisierung mit ein. Das Genre selbst zwinge den Autor zu Glättungen und Auslassungen, um einer vergangenen Zukunft zu entsprechen. Depkat bezeichnete die Biografie als durch Marginalisierung und Verschweigen gekennzeichnete „narrative Ordnungsleistung“. Die Schilderungen würden in die Entwicklungen und den Wandel der Zeit eingeordnet und beispielsweise durch politische Ereignisse im 20. Jahrhundert umgeschrieben. Der Prozess des Erinnerns und Vergessens sei immer auch durch das Streben nach Kohärenz und Identität geprägt.

Im anschließenden Kommentar fragte ANDREA HÄNGER (Koblenz) nach dem „Recht auf Vergessen“ in der digitalen Welt und der Rolle der Archive. Diese seien ein institutioneller Ort, an dem Geschichtsbilder erarbeitet, geprüft und revidiert würden. Archive greifen aber, so Hänger, auch stark in das Quellenmaterial ein und vollziehen damit selbst eine „narrative Ordnungsleistung“. Es gehöre zur Alltagsschwäche von Archiven, „Sachen zur Seite zu legen, die vielleicht bewahrbar wären“. Die zeitgebundene Aktion des Aussortierens sei folglich eine Form des „intentionalen Vergessens“. ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) schloss sich mit einem „Kommentar zum Vergessen“ an und fragte mit Verweis auf Umberco Eco nach einer möglichen Kunst des Vergessens.2 Landwehr plädiert ebenfalls dafür, die normative Aufladung des Vergessensbegriffs aufzubrechen. Eine „Totalität der Erinnerung“ führe zu „Lebensunfähigkeit“, einem „Horror der Vollständigkeit“. Wie wird aber die Unvollständigkeit hergestellt, die überlebenswichtig sei und wie können sich Historikerinnen den Formen des Vergessens forschungspraktisch nähern? Landwehr plädiert für eine Konstitution von Zeit und Zeiten, die mit dem Vergessen einhergehen.

Gerade auch die Problematik nach einer normativen Aufladung von Erinnern und Vergessen spielte in der anschließenden Diskussion eine zentrale Rolle. Muss erinnern nicht immer auch an eine normative Entscheidung geknüpft sein? Jureit entgegnete, es sei nicht das Ziel die Normativität per se zu kritisieren. Stattdessen sei nach den gegenläufigen Gedächtnissen und den Umgang damit zu fragen, um zu zeigen, welche Teile der Vergangenheit in den Vordergrund gestellt werden. Sabrow wies darauf hin, dass die Beschäftigung mit dem Vergessen eine Sichtbar- und Transparentmachung mit sich bringt, da die Leistung der Geschichte nicht als kulturelle Praxis, sondern als Wissenschaft mit Anspruch auf Selbstreflexivität verstanden wird. Des Weiteren spitzten sich die Fragen auf die Praxis der archivarischen Kassation zu, die, so entgegnete Schenk, bislang in ihrer Geschichte kaum erforscht sei. Müssten Archive künftig „mehr Vernichtung, also Vergessen, wagen“? Schenk plädierte dafür Normen zu entwickeln, nach denen sich ArchivarInnen in ihrer Handlungspraxis orientieren können. Ein weiterer Diskussionsbeitrag regte ein Nachdenken über die neurologische Dimension des Vergessens an. Schließlich sei dieser Prozess nicht nur aktiv, sondern auch situativ bedingt und somit nur eingeschränkt rational steuerbar. In Bezug auf die Praxis der Erinnerung müsse auch die „nostalgische Erinnerung“ betrachtet werden, welche als ein aktiver und kollektiver Prozess zu verstehen sei. Daran anschließend stelle sich die Frage, ob nicht-intentionales Vergessen nicht automatisch in intentionales Vergessen übergehe? Landwehr entgegnete, Nostalgie als Forschungsgegenstand sei ein gutes Beispiel, um nicht-intentionale und das intentionale Vergessen zusammen zu bringen und zu fragen, was eigentlich nicht erinnert wird.

Am Ende der Sektion konnte konstatiert werden, dass Formen des Erinnerns immer auch an Formen des Vergessens gekoppelt seien. Die Geschichtswissenschaft müsse in diesem Forschungsbereich Selbstaufklärung vollziehen, um herauszuarbeiten, welche Formen des Vergessens den Formen des Erinnerns immanent sind. Die Frage nach der historischen Analyse von Formen des nicht-intentionalen Vergessens konnte die Sektion nicht beantworten. Der Systematisierungsversuch sei, so Sabrow, zunächst gescheitert. Die aufgeworfenen Fragen böten aber einen großen Spielraum für künftige Forschungsprojekte.

Sektionsübersicht:

Martin Sabrow (Potsdam / Berlin): „Historisches Vergessen“ – Quellebegriff oder auch analytisches Konzept?

Ulrike Jureit (Hamburg): Der normative Vergessensdiskurs im Zeitalter der Aufarbeitung

Dietmar Schenk (Berlin): Archivarische Kassationspraktiken und ihre Begründungen

Volker Depkat (Regensburg): Formen der Glättung und Auslassung in der Autobiographik des 20. Jahrhunderts

Achim Landwehr (Düsseldorf): Kurzkommentar aus geschichtstheoretischer Perspektive

Andrea Hänger (Koblenz): Kurzkommentar

Anmerkungen:
1 Theodore R. Schellenberg, Modern Archives. Principles & Techniques, Chicago 1956.
2 Umberto Eco / Marilyn Migiel, An Ars Oblivionalis? Forget it!, in: PMLA, 103 (1988), Nr. 3, S. 254–261.


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