HT 2018: Ein bürgerliches Pulverfass? Waffenbesitz und Waffenkontrolle in der alteuropäischen Stadt

HT 2018: Ein bürgerliches Pulverfass? Waffenbesitz und Waffenkontrolle in der alteuropäischen Stadt

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Johanna Müser, SFB/TRR 138 Dynamiken der Sicherheit, Justus-Liebig-Universität

Bei Max Weber ist die Stadt des Okzidents ein bürgerlicher Wehrverband. Die Wehrfähigkeit der Bürger stellt in dieser Perspektive ein konstitutives Charakteristikum der Stadt dar. Die Wehr- und Wachorganisation gilt daran anknüpfend in der Stadtforschung als zentrale Aufgabe städtischer Verwaltung in Mittelalter und Früher Neuzeit.1 In der von WERNER FREITAG (Münster) und MARTIN SCHEUTZ (Wien) geleiteten Sektion zu Waffenbesitz und -kontrolle in der alteuropäischen Stadt stand jedoch auch die Kehrseite der bürgerlichen Wehrhaftigkeit im Fokus: Die potentielle Bedrohung des innerstädtischen Friedens durch die Präsenz von Waffen in der Stadt. Obrigkeitliche Maßnahmen erstreckten sich folglich nicht nur auf die Förderung bürgerlicher Wehrfähigkeit, sondern gleichzeitig auch auf deren Einhegung zu städtischem Nutzen. Die Sektion untersuchte somit Waffenbesitz und -kontrolle als zwei Phänomene einer städtischen Waffenkultur.

In seiner Einführung gab Martin Scheutz Einblick in die Entwicklung des Waffenbesitzes in der longue durée. Ausgehend von aktuellen Statistiken zum Waffenbesitz in Deutschland und Österreich erläuterte er, dass für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit solche statistischen Aussagen zwar nicht möglich seien, aber auch in der damaligen Zeit Waffen und Rüstungsteile in den Städten verbreitet gewesen waren. Waffenbesitz sei zum einen eine bürgerliche Pflicht zur Stadtverteidigung und Wahrung des Stadtfriedens gewesen. Das Waffentragen habe zum anderen ein Recht bürgerlicher und mitbürgerlicher Stadtbewohner dargestellt, das unterbürgerlichen Schichten nicht zustand und deswegen auch Ausdruck sozialer Distinktion gewesen sei. Waffenbesitz und Waffengebrauch seien somit stets im Bezug zu politischem Recht, sozialem Status, Alter und Geschlecht zu betrachten. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts kam es im Zuge der Professionalisierung des Militärwesens schließlich zunehmend zu Versuchen der Obrigkeit, Waffenbesitz zu kontrollieren. Zumindest in zeremoniellen Kontexten seien Waffen jedoch weiterhin im städtischen Raum präsent geblieben.

Die ersten beiden Vorträge der Sektion zeigten das Spannungsverhältnis von Norm und Praxis auf, in welchem Besitz, Gebrauch und Kontrolle von Waffen in der spätmittelalterlichen Stadt stattfanden. Der sozialen Dimension des bürgerlichen Waffenbesitzes widmete sich REGULA SCHMID KEELING (Bern) am Beispiel eidgenössischer Städte. Dabei stellte sie die im städtischen Selbstverständnis verankerte Vorstellung von bürgerlicher Wehrhaftigkeit in der mittelalterlichen Stadt auf den Prüfstand. Durch die Auswertung obrigkeitlicher Waffenkontrolllisten, sogenannter Waffenrödel, kam Schmid Keeling zum Schluss, dass Qualität und Anzahl der Rüstungsbestandteile in den städtischen Haushalten meist gering gewesen seien und in starker Abhängigkeit zur sozialen Position des Besitzers gestanden hätten. Aus der Häufigkeit, mit der sich zudem Frauen und Kleriker als Besitzer von Harnischen in den Quellen finden lassen, schloss Schmid Keeling des Weiteren, dass der Besitz von Rüstungen nicht zwangsläufig mit deren eigenem Gebrauch gleichzusetzen gewesen sei. Stattdessen waren die bürgerlichen Haushalte verpflichtet, bei eintretender Notwendigkeit die für die Stadt kämpfenden Knechte mit den vorhandenen Harnischen auszustatten. Eine Zäsur im obrigkeitlichen Umgang mit Waffenbesitz sah Schmid Keeling im 15. Jahrhundert, als diese ad hoc-Umverteilung privater Schutzwaffen an wehrfähige Männer an seine Grenzen gestoßen sei. Der hohe Aufwand städtischer Kontrollen habe kaum Verbesserungen in der Waffenausstattung bürgerlicher Haushalte erbracht. Der städtische Rat habe die Verwaltung des Waffenbesitzes deshalb mit der Errichtung von Zeughäusern zunehmend in den eigenen Aufgabenbereich überstellt, sodass schließlich mit dem Anbruch des 16. Jahrhunderts Zeughauslisten die Waffenrödel ersetzten. Auf diese Weise, so Schmid Keeling, könne man am Weg der Helme und Panzerungen auch spätmittelalterliche Staatsbildung verfolgen.

ENNO BÜNZ (Leipzig) lenkte in seinem Vortrag den Blick vom bürgerlichen hin zum geistlichen Waffenbesitz im 15. Jahrhundert. Kleriker verstießen zwar gegen kanonisches Recht, wenn sie eine Waffe trugen. Bünz präsentierte in seinem Vortrag aber eine Vielzahl an Fällen aus den Pönitentiarieregistern, bei denen bewaffnete Geistliche an einer Gewalttat beteiligt gewesen waren und deswegen bei der Pönitentiarie, der päpstlichen Bußbehörde, um eine Dispens bitten mussten. Neben der Rechtfertigungsstrategie, aus Selbstverteidigung gehandelt zu haben, identifizierte Bünz insbesondere Versuche der Bittsteller, die eigene Waffe als klein oder deren Mitführen als landesüblich zu beschreiben. Er wies einer solchen verharmlosenden Beschreibung der Waffen besondere Bedeutung zu, denn das Waffenverbot für Kleriker habe nur für Angriffswaffen, nicht jedoch für Gegenstände des häuslichen Gebrauchs und Alltags wie Stöcke und kleine Messer gegolten. Umgekehrt zeige sich in den Fallbeispielen ebenfalls, dass auch Alltagsgegenstände wie Bierkrüge und Kerzenleuchter im Streitfall als Gelegenheitswaffe fungieren konnten. Auch Geistliche, so schlussfolgerte Bünz, agierten somit im sozialen Handlungsrahmen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, in der der gewalttätige Konfliktaustrag ein Alltagsphänomen darstellte.

Die letzten beiden Vorträge der Sektion untersuchten den Umgang mit Waffen als Möglichkeit städtischer Machtrepräsentation in frühneuzeitlichen Städten und die damit einhergehenden obrigkeitlichen Versuche der Waffenregulierung. HOLGER GRÄF (Marburg) beschrieb in seinem Vortrag Pulvertürme, Zeughäuser und Schießstätten als „Orte der Waffen“ in der frühneuzeitlichen Stadt, in denen städtische Wehrhaftigkeit vergegenwärtigt wurde, und deutete diese öffentlichen Stätten in Anlehnung an Foucault als Ausdruck einer „Veranstaltlichung“2 der militärischen Seite des städtischen Lebens. Die häufig eindrucksvolle Architektur dieser „Orte der Waffen“ mit dicken Mauern habe sowohl der technologischen Entwicklung von Feuerwaffen Rechnung getragen, als auch im Falle von fürstlichen und reichsstädtischen Zeughäusern die Versinnbildlichung der eigenen militärischen Stärke zum Ziel gehabt. Durch die Konzentration der Waffen in städtischen Gebäuden und die gleichzeitige zunehmende Kriminalisierung von Waffenbesitz in bürgerlichen Haushalten habe die Obrigkeit die Herstellung eines Waffenmonopols angestrebt. Dieses sei in der Praxis allerdings angesichts einer weiterhin mutmaßlich hohen Dunkelziffer von Waffen in bürgerlichen Haushalten nicht vollständig erreicht worden. Gräf wies zudem darauf hin, dass die Zentralisierung der Waffenlagerung gleichzeitig zu neuen Bedrohungen des innerstädtischen Lebens habe führen können, wie die Pulverturmexplosion als typische Stadtkatastrophe der Frühen Neuzeit zeigt.

Dass die obrigkeitliche Waffenkontrolle neben restriktiven Regelungen auch eine intensive Zusammenarbeit mit den Bürgern beinhaltete, betonte JEAN-DOMINIQUE DELLE LUCHE (Paris) im letzten Vortrag der Sektion. Die Beförderung und Finanzierung von Schützengesellschaften durch den städtischen Rat erklärte Delle Luche als zielgerichtete Politik, um Stadtbewohner im Umgang mit militärnützlichen Schusswaffen auszubilden, auch wenn traditionelle Schusswaffen wie die Armbrust in den Schützengesellschaften noch länger relevant blieben als in der tatsächlichen Kriegsführung. Die Schützenfeste seien zudem ebenso Teil städtischer Repräsentation gewesen wie der Schusswaffengebrauch selbst, da die Verwendung von Schusswaffen in unbesiedeltem Gelände dieses als städtischen Raum markiert habe. Delle Luche hob zudem besonders die bislang noch wenig erforschte Bedeutung der Schützengesellschaften als frühe bürgerliche Kommunikationsräume hervor. So habe die Schützenstube dank des dort vertretenen breiten soziologischen Spektrums als Keimzelle für eine neue städtische und bürgerliche Identität gedient.

In einer Zusammenfassung der Sektion unterstrich Werner Freitag, dass der Waffenbesitz in der alteuropäischen Stadt nicht allein im Kontext von Max Webers Vorstellung von einem bürgerlichen Wehrverband zu verstehen sein könne, sondern als eine Ausprägung städtischer Waffenkultur ein reiches Untersuchungsfeld darstelle. Die Stadt müsse dabei als Vergesellschaftung einer größeren Gruppe von Menschen betrachtet werden, deren verschiedene räumliche, politische, kulturelle und soziale Ordnungen unterschiedliche Bedrohungen erfahren konnten.

In der anschließenden Diskussion wurde der Mehrwert der in der Sektion vertretenen Perspektive der longue durée betont. Als allgemeine und übergreifende Faktoren für Veränderungen im Waffengebrauch wurden die technologische Entwicklung von Waffen, die Professionalisierung des Kriegswesens sowie die Reformation genannt. Bei der Frage nach möglichen Binnenzäsuren nannten die Vortragenden insbesondere kriegerische Ereignisse und Bedrohungen, welche die äußere Notwendigkeit einer rechtlichen Neuorganisation des Waffenbesitzes nahelegten. Im Hinblick auf zukünftige Forschungen zur sozialen Dimension von Waffenbesitz wurde angeregt, verstärkt Mikrogruppierungen in den Blick zu nehmen, um Binnendifferenzierungen in den Kategorien von „bürgerlich“ und „klerikal“ zu ermöglichen und die Praxis der Waffenführung jenseits eines normativen Verbots auch bei anderen sozialen Gruppierungen zu untersuchen.

Eindrücklich konnte die Sektion somit aufzeigen, dass die Untersuchung städtischer Waffenkultur mit neuen Erkenntnissen zum sozialen Gefüge der Stadt und zu städtischer Repräsentation aufwarten kann und Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl weiterer Forschungsperspektiven bietet. Aus Sicht der Obrigkeit sollten Waffen der Stadt als Schutz vor einer Bedrohung von außen dienen. Sie wurden aber auch selbst als innere Bedrohung für die städtische Ordnung interpretiert. Diese ambivalente Haltung, die sich in der zunehmenden Regulierung von Waffenbesitz und dem Anstreben eines obrigkeitlichen Waffenmonopols niederschlug, macht die städtische Waffenkultur beispielsweise auch für die historische Sicherheitsforschung zu einem lohnenswerten Forschungsfeld. Bereits in der Diskussion wurde zudem festgestellt, dass aus kriminalhistorischer Perspektive auch die Frage nach der Definition von Waffen und die Nutzung von Alltagswaffen in Abgrenzung zu militärischen Waffen ein lohnenswerter Forschungsgegenstand sei. Eine Publikation der Sektionsbeiträge ist in Form eines Sammelbandes in der Reihe „Städteforschung“ des Instituts für vergleichende Städtegeschichte geplant.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Werner Freitag (Münster) / Martin Scheutz (Wien)

Martin Scheutz: Einführung

Regula Schmid Keeling (Bern): Waffen im städtischen Haushalt – von geliehenen Helmen und rostigen Panzern

Enno Bünz (Leipzig): Kleriker und Waffengebrauch in der spätmittelalterlichen Stadt – neue Perspektiven anhand der päpstlichen Pönitentiarieregister

Holger Gräf (Marburg): Orte der Waffen in der Stadt – Schießstätten, Zeughäuser und Pulvertürme

Jean-Dominique Delle Luche (Paris): Schützengesellschaften und Stadtrat – über die Behandlung von Waffen im Stadtraum

Werner Freitag: Zusammenfassung

Anmerkungen:
1 Vgl. Brigitte Wübbecke-Pflüger, Stadtbefestigung und Stadtbewachung. Grundstrukturen städtischer Sicherheitsorganisation im späten Mittelalter, in: Gabriele Isenberg und Barbara Scholkmann (Hg.), Die Befestigung der mittelalterlichen Stadt, Köln-Weimar-Wien 1997, S. 45–58.
2 Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975.


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