Forum: Hanno Loewy: Die Geburt der "Sachlichkeit" aus dem Geist des tragischen Heroismus. Zu Nicolas Bergs fulminanter Historisierung der Historisierer

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Hanno Loewy, Jüdisches Museum Hohenems

Hinter Nicolas Bergs Buch steht eine legendäre Kontroverse. 1988 setzten sich Martin Broszat und Saul Friedländer über das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft, Erinnerung und ihrem Gegenstand, dem beinahe gelungenen Versuch der Vernichtung der europäischen Juden durch eine nationalsozialistisch formierte deutsche Gesellschaft, auseinander. Das "Zauberwort" des Streits war "Historisierung". Das Wort mag seitdem an polarisierender Aufladung verloren haben. Doch worum es in dieser Debatte tatsächlich ging, scheint erst heute und mit einem Blick erschließbar, der mit “Historisierung“ nicht positivistische Wissenschaftsgläubigkeit meint, sondern wissenschaftliche Kritik an der Historizität geschichtswissenschaftlicher Deutungen.

Berg stellt in seinem Buch das Vorhaben der "Historisierung" auf die Füße, nicht mehr und nicht weniger. Bergs Material ist dabei so präzise gewählt wie ungewöhnlich. Statt sich vor allem mit den historiografischen Hauptwerken seiner Protagonisten auseinanderzusetzen, erschließt er insbesondere jene Metatexte und Quellen, in denen sich Intentionen, Selbstbilder und Posituren westdeutscher Historiker offener, aber auch diskursiver Art ihren Ausdruck verschafften: Korrespondenz und Reden, entlegene Entwürfe für nie geschriebene Gesamtdarstellungen und Einleitungen, Forschungsprogramme und innerinstitutionelle Vermerke, eben all das, was vielleicht noch nicht zu Ende gedacht, vielleicht aber auch dem Lebensprozess der Wissenschaft noch mehr angehört, als manches andere schließlich Veröffentlichte. Insofern ist sein Buch auch alles andere als eine "voluminöse Sammelrezension", wie Christian Geulen in der Frankfurter Rundschau es nannte – immerhin einer der wenigen Rezensenten, der den Versuch machte, sich auf Bergs Methodologie einzulassen.1

Wenn etwas Bergs Zweifel daran nährt, dass es sich bei Martin Broszat tatsächlich um "eine der wenigen Lichtgestalten unter den deutschen Zeithistorikern" (Ullrich) handelt, dann sicherlich nicht seine tabuisierte Parteimitgliedschaft. Vielmehr ist es eine kritische Re-Lektüre des Funktionalismus im Kontext seiner tatsächlichen und bislang nie ernsthaft diskutierten Entstehung in den späten 40er-Jahren – eine Entstehung, die eben gerade nicht (jedenfalls nicht nur) aus der berechtigten Kritik des späteren Intentionalismus hervorging, wie Ullrich schreibt, sondern aus jenem Geist der Sachlichkeit, der auch einen Ernst Jünger unmittelbar nach 1945 mit Alfred Andersch und dem Gründungsgeist der Gruppe 47 verband. Die daraus sprechende "Nüchternheit" lohnt es sich wohl noch einmal genauer anzusehen, genauer auch, als es Berg in seinem Buch vermag, das sich geistesgeschichtliche Exkurse zu Recht verbietet. Und sie freilich umso nachdrücklicher einklagt.

Nicht nur in Bergs Buch, sondern auch in dessen Kritik erweist sich indes die Folge von geschichtswissenschaftlichen Perspektiven und Diskursen nicht nur als Chronologie, sondern als Generationenfrage, und damit nicht nur als Geschichte von "Erkenntnisgewinnen" und Brüchen, sondern als Geflecht von Loyalitäten und Konflikten, Identifikationen und Versöhnungen, Tradierungen und Wiederkehr von Verdrängtem sowie Erbschaften, die manchmal auch erst von Enkeln angetreten oder ausgeschlagen werden.

In der Re-Lektüre der "heiligen Nüchternheit" eines sachlichen Funktionalismus erweist sich dieser nicht so sehr als Rationalität, sondern als Rationalisierung einer Erfahrung, die nicht in der Erinnerung von "Tätern", sondern deren "Mitläufern" geronnen ist, die ihrer eigenen inneren Beteiligung einen zugleich verstehenden und entlastenden Rahmen zu verschaffen geeignet sein mag.

Wer das Buch nicht (aus welchen Interessen auch immer) als moralische Skandalisierungsgeschichte missverstehen will, der kann es immer noch sehr unterschiedlich lesen: als eine kritische Rekonstruktion der "Erfolgsgeschichte" des Funktionalismus in der Deutung des Holocaust – und seine Entzauberung. Als ernüchternde Betrachtung über die fehlgeschlagene "Begegnung" zwischen deutschen und jüdischen Historikern nach 1945, und die Illusionen, die man sich heute noch über diesen Austausch macht. Ja, man mag es auch als Positionsbestimmung für den Versuch lesen, jenseits der überlebten Kontroversen das Terrain für die Annäherung an die Geschichte des Holocaust in Deutschland neu zu arrondieren. Immer aber geht es darum, wie im wissenschaftlichen Forschungsdiskurs unterschiedliche Erinnerungen artikuliert oder unterdrückt, befragt oder vorausgesetzt, thematisiert oder instrumentalisiert werden. Wie also jene Spannung wirksam wird, um die es zwischen Broszat und Friedländer doch im Kern ging. Eine Spannung, die Friedländer, souverän (oder verzweifelnd?) um Rationalität (oder um so etwas wie Versöhnung?) bemüht, bis zu Broszats frühem Tod nicht zum Bruch eskalieren ließ.

Welche Selbstdeutungen und Rollenzuweisungen in diesem Spannungsfeld ermöglichen es, wissenschaftliche Fragen an eigene Erfahrungen und Erinnerungen anzuschließen, bzw. Erfahrungen und Erinnerungen in den wissenschaftlichen Diskurs einzuschließen, auszuschließen oder an ihn zu assimilieren – in der ganzen abgründigen Doppeldeutigkeit dieses Begriffs? Wie verhalten sich Vergangenheit und Gegenwart zueinander? Wie verhält sich eine mögliche Historisierung des Holocaust zu einer Perspektive der "Sieger", also einer nur ex-post gegenüber einem vergangenen Leiden (kategorisch: einem Leiden anderer) abzugewinnenden Distanz, die die fortdauernde Gegenwart des Traumas notwendigerweise ausgrenzen muss? Ist die Erinnerung der Opfer mit einer historiografischen Rekonstruktion der Ereignisse unvereinbar? Und ist die Historiografie der früheren Täter und Mitläufer, bzw. ihrer Nachkommen von perspektivischer Aufladung (Subjektivität) etwa leichter zu befreien? Ist die Perspektive der Täter der Zugang zur Erklärung der Tat, und damit die "Mitläufererzählung" so etwas wie ein notwendiger Schlüssel, eine historiografisch privilegierende Erfahrung? Oder erschließt sich die Tat erst aus einer kritischen "Dekonstruktion" dieser Täterperspektive, ihren Mythen und Selbstbildern? Und aus welcher Perspektive kann eine solche Dekonstruktion des Täterbilds erfolgen? Aus der Perspektive der Opfer, oder gleichsam aus einem diskursiven Zwischenraum? Oder womöglich aus der Perspektive einer schon in einem Zwischenreich zwischen Tätern und Opfer gemachten Erfahrung (wie Dan Diner es seinerzeit am Beispiel der Judenräte vorgeschlagen hatte)? Was sind die Folgen eines geschichtswissenschaftlichen Selbstbildes, das sich einer Selbstthematisierung im Zeichen reflektierter Erinnerung entschlägt?

Berg nähert sich den durch Broszat und Friedländer seinerzeit aufgeworfenen Fragen in vier konzentrischen Kreisen, deren jeweiliger Gegenstand einerseits durch die reale Chronologie der wissenschaftlichen Diskurse vorgegeben, andererseits von ihm im Blick auf ihre Vor- und Nachgeschichte neu kontextuiert und historisch verankert wird.

Der Höhepunkt von Wulfs Kontroverse mit dem Institut für Zeitgeschichte und insbesondere mit Martin Broszat und Helmut Krausnick nimmt dabei keineswegs nur darum einen breiten Raum in Bergs Darstellung ein, um dem Historiker Joseph Wulf, der sich schließlich 1974 in Berlin aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod stürzte, späte Gerechtigkeit und "Anerkennung" widerfahren zu lassen, sondern weil in ihr der Preis evident wird, den die funktionalistische Identifikation mit dem tragisch-sachlichen Selbstbild der Täter am Ende fordert: den Verlust einer kommunikativen Perspektive auf die widersprüchlichen, ideologischen und pragmatischen Dimensionen der Tat, jenseits der selbstgerechten Positur der Täter und den retrospektiven Identitätsbedürfnissen nationaler Kollektive. "In seiner [Broszats] Auseinandersetzung mit jüdischen Historikern standen sich eben nicht subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung gegenüber, sondern hier stießen zwei in die Wissenschaft verlängerte Gedächtnisse aufeinander." (S. 615)

Bergs Konzentration auf den Gedächtnisbegriff erweist sich in seiner Polarisierung zwischen jüdischem und deutschem zuweilen als zu eng geführt, ja ihm selbst verdächtig. Mit Autoren wie Martin Broszat, Hans Buchheim oder Hans Mommsen führt er in seine Darstellung schließlich die dritte, durchaus distinkte Generation mit eigenen verbindenden (vielleicht manchmal aber auch trennenden) Erfahrungen ein. Und er demonstriert das Problem künstlich homogenisierter Gedächtnisse gleichsam selbstbewusst nicht nur spezifisch in seiner differenzierten Analyse der Arendt-Rezeption, sondern durchweg, wenn er in den beiden abschließenden Kapiteln zunächst die beiden Großdeutungen der 60er-Jahre, im Zeichen von Totalitarismustheorie und Faschismustheorie, in ihren jeweiligen programmatischen Defiziten vorführt. Der Kontext der Politisierung der 60er-Jahre und die jeweiligen politischen Funktionen der beiden Erklärungsmodelle bleiben dabei eher im Hintergrund, auch wenn deutlich wird, wie sehr Karl Dietrich Brachers Ausformulierung des Totalitarismusbegriffs einem Versuch der Westintegration verbunden bleibt, und im Gegenteil dazu, sich das Hantieren mit Faschismustheorie der kategorischen, aber durch die Teilung Europas und die Erbschaft des Stalinismus korrumpierten Alternative eines sozialistischen Weges verpflichtet bleibt. Berg zeigt, wie freilich in beiden Deutungsparadigmen die Vernichtung der europäischen Juden systematisch keinen Ort finden kann. Wulfs Selbstmord stand, wie Berg aufweist, neben dessen ganz privaten Dimensionen mindestens ebenso im Zeichen seiner immer spürbareren Heimatlosigkeit auch innerhalb der kritischen (linken) Öffentlichkeit in Deutschland und dem Scheitern seines Projekts, in der so genannten Wannseevilla in Berlin ein Dokumentations- und Forschungszentrum zum Holocaust zu etablieren, wie auch in der Folge seiner Ausgrenzung aus dem etablierten, vom Institut für Zeitgeschichte dominierten geschichtswissenschaftlichen Diskurs.

Berg stellt die Diskurse um Totalitarismus und Faschismus, systematisch nicht ganz stimmig, für den Gang seiner Argumentation aber dennoch fruchtbar, jenen selbstquälerischen, vielfach gebrochenen, vor allem aber instrumentalisierend missverstandenen Versuchen Hannah Arendts gegenüber, das radikal neue historische Ereignis des gesellschaftlich und arbeitsteilig begangenen Massenmords in Beziehung zur Tradition des Antisemitismus zu setzen, Kontinuitäten und Brüche dieser Beziehung zu erkunden. Wenn uns mit Berg auffällt, wie sehr doch Arendts Positionen in den 50er-Jahren und der im Eichmann-Buch formulierte Strukturalismus sich aneinander reiben, so hätte es gut getan, an dieser Stelle die Widersprüche innerhalb der polarisierten kommunikativen Gedächtnisse auf deutscher oder jüdischer Seite noch deutlicher werden zu lassen. Es war, wie Berg zurecht andeutet, schließlich Arendts eigene kritische, ja dissidente Position gegenüber jüdischen Versuchen, den Holocaust zu einem Gründungsereignis und Stiftungsmythos eigener Staatlichkeit zu interpretieren, die ihre Eichmann-Interpretation mit einem Begehren auflud, in dieser Figur einen Schlüssel zur Universalisierung zu erkennen. Keineswegs ging es ihr in diesem Buch freilich um universalistische, zivilisations- bzw. modernitätskritische Sinnstiftung, wohl aber um universalisierende Kritik an den Versuchen, Auschwitz zur Begründung einer kollektiven Identität partikularistisch zu okkupieren, wie sie es im Kontext des Eichmann-Prozesses schmerzlich empfand.

Eher en passant erwähnt Berg Arendts wenige Jahre später aufgebrochene Kontroverse mit Hans Magnus Enzensberger, dessen vermeintlicher Anschluss an ihr Buch in einer Gleichsetzung von Auschwitz mit "moderner Politik" und den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki gipfelte. Arendt muss spätestens hier erkannt haben, wie sehr ihr Buch missverstanden werden konnte und bis heute wird. Gekennzeichnet von solcher Vereinnahmung (zum Beispiel von Seiten Hans Mommsens) erscheint schließlich auch der vermeintliche Siegeszug des Funktionalismus, der gegenüber intentionalistischen Deutungen (nicht zuletzt auch unter Bezugnahme auf Arendt, die sich dagegen nicht mehr wehren kann) sich als die komplexere (also "wissenschaftlichere") Interpretation Geltung verschaffen konnte.

So bleibt Bergs Interpretation des Funktionalismus-Intentionalismus-Streits und seines Höhepunkts in den 80er-Jahren letztlich nicht ganz konsistent. Denkt man seine eigene Rekonstruktion dieser Forschungsauseinandersetzung konsequent zu Ende, und insbesondere seine Entdeckung ihrer Frühgeschichte um 1950, so erweist sich die Polarisierung selbst in ihren Extremen als ausgesprochen deutsches Paradigma. Wenn Berg hingegen diese Polarisierung im Gang seiner Argumentation schließlich auch als Gegensatz zwischen jüdischem und deutschem Gedächtnis interpretiert, werden unterschiedliche Ebenen des Konflikts, vor allem aber unterschiedliche Bedeutungen verwandter Ideen und ähnlich klingender Signalbegriffe in verschiedenen Kontexten ununterscheidbar, während die Konflikte, vor allem aber die Differenz der Erfahrungen innerhalb der jeweiligen vorausgesetzten "Kollektive", verwischt werden. Was so unterschiedliche Autoren wie Wulf und Hilberg, Arendt und Reitlinger, Adler und Friedländer vor dem Hintergrund ihrer konträren Erfahrungen in der Emigration, im Versteck oder im Lager (erst recht aber auch Autoren wie Eugen Kogon und Hermann Langbein, die als Nichtjuden Zeugen der Vernichtung in den Lagern wurden), wie auch ihrer unterschiedlichen Beziehung zur deutsch-jüdischen Tradition trotz aller Kontroversen gemeinsam blieb, war zunächst einmal, dass es so etwas wie eine Tat und viele Täter überhaupt gab, dass sie von der Verantwortlichkeit von Tätern für ihr Handeln und von der Komplementarität von Ideologien und pragmatischen Interessen im Grundsatz ausgingen. Auf beiden Seiten der deutschen Intentionalismus-Funktionalismus-Kontroverse verflüchtigte sich das Gros der Täter hingegen in einen Kreis Verführter, Getriebener, Verstrickter oder ihren eigenen Sachzwängen Ausgelieferter, und die Tat löste sich entweder in der Dämonie eines wahnsinnigen Führers auf, oder in der Struktur einer "kumulativen Radikalisierung", deren Ergebnis nur retrospektiv, das heißt jenseits der Verantwortung der Beteiligten auszumachen war. Von Hans Buchheim bis Hans Mommsen bleibt das Ergebnis ihrer "komplexen" Sicht auf die Geschichte ein tragischer Epos, eine Geschichte von "tragischer Verstrickung" 2 und schicksalhafter "Selbstläufigkeit", die "sich allen Beteiligten von selbst auf[drängte]".3

Wenn man nun zugleich über den Binnenzusammenhang wissenschaftlicher Diskurse hinausblickt, dann erweist sich die von Berg konstatierte Erfolgsgeschichte des Funktionalismus als durchaus weniger eindeutig. Der Hitlerismus eines extremen deutschen "Intentionalismus" erwies sich im gedenkpolitischen und massenmedialen öffentlichen Raum durchaus als nachhaltig und wirksam, ja durchaus dominant. Man denke nur an die Geschichte des Berliner Holocaust-Denkmals neben den mittlerweile wieder unsichtbaren Ruinen des Führerbunkers, oder an die populäre Resonanz eines ZDF-Geschichtsfernsehens, das von "Hitlers Frauen" bis zu "Hitler’s Holocaust" (so der englische Titel der in Deutschland unter dem Namen "Holokaust" ausgestrahlten Serie) die Geschichte des Nationalsozialimus zu "Hitlers Welt" zurichtet. Zu zeigen wäre freilich auch, dass der Erfolg des Strukturalismus als "wissenschaftliche" und des Hitlerismus/Intentionalismus als "populistische" Strategie keineswegs gegenläufig sind, sondern sich in ihrer Wirkung gegenseitig bedingen und bestärken. Einfacher ausgedrückt: Während der Hitlerismus sich im Endeffekt als Entlastungsstrategie für die Massen erweist, enthält der Funktionalismus zumindest einmal einen bunten Strauß von theoretisch begründeten Entlastungsangeboten für diejenigen, die sich für etwas Besseres halten. Im Grunde aber läuft beides auf dasselbe hinaus.

Bergs frappierende Schilderung der widersprüchlichen Dynamik der legendären Stuttgarter Konferenz über "Entschlussbildung zum Völkermord" von 1984 lässt den Schluss zu, dass jener Schulenstreit nicht nur eine erkenntnistheoretische Sackgasse formierte, sondern innerhalb einer weltweit sich entwickelnden Holocaustforschung so etwas wie eine deutsche Hegemonie nicht nur einforderte, sondern in mancher Hinsicht vielleicht auch durchsetzte.

Dies steht nur scheinbar in einem Widerspruch zur verblüffend gegenläufigen Wirkung, die das funktionalistische Paradigma außerhalb Deutschlands als kritisches Potential entfaltet hat, um den Blick auf Strukturen, Mechanismen und Funktionen zu öffnen, die jenseits des Ereignisrahmens des Nationalsozialismus als bedrohlich empfunden werden. Hannah Arendt und Raul Hilberg, so gegensätzlich sie sich einander auch erschienen sind, haben den Funktionalismus durchaus fruchtbar rezipiert und gegen jüdische Mythenbildungen und nationale Identitätskonstruktionen ins Feld geführt. Dass ihnen solche Kritik dabei zur Produktion gleichsam von Gegenmythen geriet, sei es der "Banalität des Bösen" oder auch der Leugnung jüdischen Widerstandes, sollte auch hier Anlass zur kritischen Betrachtung der Karrieren politischer und wissenschaftlicher Ideen, zur Reflexion über die in ihrem Gepäck verborgenen Probleme sein, und nicht zur identifikatorischen Traditionsbildung. Deutlich aber wird hier, wie unterschiedlich sich scheinbar identische Begriffe von Struktur und Funktion mit Bedeutung aufladen, je nachdem, ob aus einer Perspektive der Opfer der radikale Verlust von Subjekthaftigkeit und Identität, geschichtlichem Sinn und moralischer Eindeutigkeit thematisiert wird (wie es in unterschiedlichster Form nicht nur jüdische Wissenschaftler wie Arendt, Hilberg oder Adler versuchten, sondern auch Autoren wie Imre Kertész, Primo Levi oder Jean Améry) – oder ob aus einer "Mitläuferperspektive" (um nicht von Tätern zu sprechen, sondern von denen, die sich mit ihnen wie auch immer als Mitläufer oder Nachkommen identifizieren wollen) jede Verantwortung jenseits tragischer Selbstbilder von "Verstrickung" und "Schicksal" zum Verschwinden gebracht werden. Niemand anderes als Imre Kertész hat diesen Zwiespalt offener artikuliert, als in seinem Galeerentagebuch, in dem er in verschiedenen Einträgen zwischen 1963 und 1968, sein eigenes Projekt eines Porträts des "funktionalen Menschen" 4 in der "STRUKTUR" 5 der Lager als Absage an den "Helden der Tragödie" formuliert. Und zugleich darauf hinweist, das die Rede vom "Schicksal" nichts anderes war, als Hitlers Versuch, "Dinge als ‚unumgängliches Schicksal’ erscheinen zu lassen, die durchaus nicht unumgänglich waren, die auch ganz anders hätten geschehen können, oder sogar überhaupt nicht hätten geschehen müssen".6

Der Verführung, am Ende von soviel Kritik doch noch ein paar Spuren positiven Ausblicks zu formulieren, erliegt leider auch Bergs Rekonstruktion der Geschichte der Anziehung und Abstoßung, die das Verhältnis westdeutscher Historiker zum Holocaust geschrieben hat. Sein Versuch zu zeigen, wie es der schließlich vierten von ihm ins Spiel gebrachten Generation von Historikern gelingt, die Polarisierung der vergangenen Diskurse zu unterlaufen, zwingt so gegensätzliche Perspektiven wie die Ulrich Herberts, Michael Zimmermanns oder Götz Alys zusammen. Dabei verliert Berg seine eigene methodische Perspektive auf die Historiografie ein wenig aus dem Blick. Eine Perspektive, die diese nach 1945 geborene Generation in ihrem ganz eigenen Generationenkonflikt positionieren und ihre wissenschaftlichen Texte einer ähnlich kritischen Rekonstruktion ihrer Blindstellen und Schlagseiten öffnen müsste. (Götz Alys zivilisationskritisches Paradigma beispielsweise würde sich einem solchen Blick womöglich nicht als radikal Neues, sondern als Wiederkehr von allzu Bekanntem erweisen.)

So ist manches an diesem an überraschenden Einsichten so reichen Buch methodisch noch nicht bis ans Ende realisiert. Der Generationenbegriff, von Berg selbst ein-, aber kaum durchgeführt, wäre, systematischer ins Spiel gebracht, noch für manche Einsicht gut, ohne dass man gleich mit den üblichen soziologischen Monstren wie "Alterskohorten" operieren müsste. (In diesem Zusammenhang vermisst man besonders einen biografischen Anhang der über das beeindruckend ausgebreitete Spektrum von Beteiligten und die Struktur ihrer Konflikte einen klareren Überblick verschaffen könnte.)

Christian Geulens Hinweis darauf, dass zwischen den von Berg dynamisch gegen- und ineinander gesetzten Paradigmen der Erforschung und Erinnerung auch die Dimension der die Diskurse jeweils prägenden zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen (und Interessen) zu ihrem Recht kommen sollten, weist in eine ähnliche Richtung. Freilich auch darauf, dass Bergs Buch in vieler Hinsicht Neuland betreten hat, und dass von einer kritischen Selbstreflexion der Geschichtswissenschaften in Deutschland noch überhaupt keine Rede sein kann.

Bergs Studie ist demnach nicht nur eine mutige Pionierleistung, sondern bleibt hochgradig voraussetzungsvoll, nicht nur weil er darauf verzichtet hat, die Broszat-Friedländer-Kontroverse am Ende seines Buches noch einmal im Lichte der nun gewonnenen Erkenntnisse zu rekonstruieren und neu zu lesen. Dies, wie manches andere, worauf er verweist, überlässt er souverän, vielleicht zu souverän, seinen Leserinnen und Lesern, ohne selbst explizit Synthesen herzustellen. Zuweilen hätte ein entschiedeneres Lektorat hier im Reichtum der überraschenden und weitgehend neu erschlossenen, hin und wieder aber in extenso zitierten wissenschaftsgeschichtlichen Quellen durchaus Raum schaffen können, um die Schneisen, die Berg durch sein Material legt, noch weiter verfolgen zu können.

Manches besonders starke Detail der Arbeit hat sich so zuweilen in den Fußnoten versteckt. So auch der Zusammenhang zwischen Helmut Schelskys Biografie und der Genese seines Paradigmas von der "skeptischen Generation", indem die enge Verbindung von tragischem Selbstbild, Heroismus und Sachlichkeit vor und nach 1945 einem geradezu ins Auge springt. So bleibt Nicolas Berg am Ende bei der differenzierten Beschreibung beider Selbstbilder stehen, des "tragischen" und des "sachlichen", und überlässt es dem Leser zu erkennen, wie sehr diese beiden scheinbar so gegensätzlichen Paradigmen einander nicht nur bedingen, sondern im Grunde zur gemeinsamen Grundausstattung eines deutschen Grundkonsenses über die eigene Rolle im Nationalsozialismus wurden. Nicht nur am Beispiel Schelskys wäre es möglich, dieses Selbstbild von der "Bewältigung" der Vergangenheit, durchaus in den Nationalsozialismus zurück zu verlängern.

(Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung der gleichnamigen Rezension im Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte, Göttingen 2004.)

Hanno Loewy, Literatur- und Filmwissenschaftler, 1995-2000 Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems in Österreich und Lehrbeauftragter für Medienwissenschaften an der Universität Konstanz.

Anmerkungen:
1 "Zwischen Erinnerung und Erforschung", in: Frankfurter Rundschau, 5.9.2003.
2 So z.B. in Buchheim, Hans, Das Dritte Reich. Grundlagen und politische Entwicklung, München 1958, S. 43.
3 So Hans Mommsen zuletzt in: Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen ‚Endlösung der Judenfrage’, München 2002, S. 168f. Vgl. die ausführliche Rezension zu diesem Buch von Christian Gerlach in: Quinkert, Babette; Dieckmann, Christoph; Tönsmeyer, Tatjana (Hgg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 19), Göttingen 2003, S. 274ff. Gerlach weist Mommsen hier nicht nur ideologische Kurzschlüsse und Sprachkonstruktionen, sondern auch groteske sachliche Fehlleistungen nach.
4 Kertész, Imre, Galeerentagebuch. Reinbek 1997, S. 8.
5 Ebd., S. 26.
6 Ebd., S. 23. Vgl. dazu den Aufsatz von Meyer, Thomas, Die Logik der STRUKTUR. Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" und Theodor W. Adornos Schönberg-Interpretation, in: Peter Weiss Jahrbuch 12 (2003), S. 145-163.

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