Seuchen, Pandemien zumal, werden aus gutem Grund (nicht erst seit dem Auftreten von Covid-19) als Prismen oder auch als Katalysatoren bezeichnet: sie legen die neuralgischen Punkte von Gesellschaften offen, machen Schwachstellen, Versäumnisse und Schieflagen schonungslos sichtbar; aber sie verstärken auch, was bereits als Tendenz oder Anlage vorhanden war. Sie fordern dazu auf, scheinbare Gewissheiten zu hinterfragen und eröffnen ganz neue Perspektiven und Denkhorizonte. Seuchen haben in der Geschichte der Menschheit immer wieder tiefe Spuren in Gesellschaften hinterlassen. Dies gilt quer über die Epochengrenzen hinweg – nicht nur für Krankheiten wie die Pest. Auch im 20. Jahrhundert haben Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS ganze Gesellschaften verunsichert und Diskurse geprägt; und zumal jenseits der Industrieländer fordern „klassische“ Seuchen wie die Cholera oder eine Vielzahl unterschiedlicher (endemisch und epidemisch auftretender) Kinderkrankheiten auch im 21. Jahrhundert noch zahlreiche Opfer. Seuchen sind historisch betrachtet keine wirklichen Ausnahmen, aber Covid-19 bringt jedenfalls bei vielen, zumal in westlichen Gesellschaften, das Gefühl mit sich, derzeit in einem Ausnahmezustand zu leben – und die Befürchtung, dieser könnte zur „neuen Normalität“ werden, ist durchaus groß.
Im Herbst 2020 hält die befürchtete „zweite Welle“ von Covid-19 zahlreiche europäische Gesellschaften in Schach, vielerorts mit täglich neuen Gesamthöchstwerten zum Infektionsgeschehen. Einige Länder müssen sich neuerdings einer „ersten Welle“ stellen, in anderen – wie den USA – ist diese nie wirklich abgeebbt. Aus einigen Weltregionen sind trotz des vielerorts massiven Aufgebots medizinischer und gesundheitspolitischer Expertise weiterhin nur lückenhafte Lageberichte bekannt. Was einige Expert/innen und aufmerksame Beobachter/innen – auch Historiker/innen – bereits im Frühjahr vermutet haben, ist jedenfalls Gewissheit geworden: Dass die Pandemie keineswegs schnell wieder vorüber sein wird, sondern wir im Gegenteil noch eine ganze Weile mit ihr werden leben müssen, selbst wenn kürzlich Meldungen zu ersten erfolgreich getesteten Impfstoffen Hoffnung aufkeimen ließen. Dass Corona nicht folgenlos vorüberziehen wird, sondern das Potenzial hat, unsere Gesellschaften – auch durchaus tiefgreifend – zu verändern.
Dieses Bewusstsein verändert auch die Reaktionen auf die Pandemie. Im Angesicht des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 scheinen seit dem Frühjahr plötzlich Dinge möglich, die noch vor wenigen Monaten als radikal bis unmöglich galten. Das öffentliche Leben in Demokratien wird phasenweise stark eingeschränkt. Ausgangsbeschränkungen werden durchgesetzt, der „Lockdown“ von Schulen, Kitas, Unternehmen, Verwaltungen, Universitäten angeordnet, Quarantänemaßnahmen eingesetzt – die Liste ließe sich fortsetzen. „Social Distancing“ verändert das gesellschaftliche Miteinander, digitale Überwachung wird unter dem Primat der Seuchenbekämpfung diskutiert, gesunde Menschen haben in zuvor nicht gekanntem Ausmaß Angst um ihre Gesundheit und die ihrer Familien. Mal mehr, mal weniger deutlich werden Sündenböcke gesucht. Wir erleben, so scheint es, aber auch eine Rehabilitation des machtvoll handelnden Staates, der seine Mittel einsetzt, und wir können Veränderungen im Diskurs über Staatlichkeit konstatieren. Die Kompetenzverteilung der demokratischen Institutionen wird diskutiert, die Legitimation für Notstandsausrufungen und –gesetze ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Die Europäische Union und ihre Bürger wiederum müssen mit der zuweilen in den Hintergrund getretenen Realität der Grenzen innerhalb Europas umgehen. In der (medialen) Öffentlichkeit lässt sich eine wiedererstarkende Rolle für Expert/innen konstatieren. Gleichzeitig wird Expert/innenwissen in seiner Gültigkeit und seinem Status permanent hinterfragt, Fake News und Verschwörungstheorien scheinen an Einfluss zu gewinnen. Diskurse verschieben sich, Panik steht neben Pragmatismus.
Die Pandemie wird, so steht zu erwarten, zahlreiche Gesellschaften rund um den Globus für die kommenden Jahre in vielerlei und sehr vielschichtiger (dabei auch höchst unterschiedlicher) Weise prägen. Die Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft prägen jedoch auch immer den Blick auf die Geschichte. Wir haben uns daher die Frage gestellt, was die aktuellen Geschehnisse und das Empfinden vieler, einen rapiden Wandel und Kristallisationspunkt mitzuerleben, für die inhaltlichen Diskussionen unter Historiker/innen bedeuten könnten. Wir haben deshalb Kolleg/innen eingeladen, darüber nachzudenken wie die Erfahrung von Covid-19 (derzeit) die Relexion über unsere Untersuchungsgegenstände, eventuell auch unsere historischen Narrative verändern könnte. Sie als Leser/innen laden wir nicht nur zur Lektüre dieser Gedankenzüge ein, sondern würden uns auch über Ihre weiteren Beobachtungen freuen – melden Sie sich gerne bei uns!
Für die Redaktion von H-Soz-Kult
Daniel Menning und Claudia Prinz
Beiträge
B. Hitzer: Das Gefühl der Zeit. Was Corona für die Emotionsgeschichte bedeutet (17.12.2020)
A. Landwehr: Was war die Zukunft nach Corona? Ein Blick zurück nach vorn (16.12.2020)
A. Wiegeshoff: Pandemie, Nation und die Geschichte des Nationalismus im 20. und 21. Jahrhundert (08.12.2020)
L. Lenel: Geschichte ohne Libretto (05.12.2020)
S. Patzold: Covid-19 und die Folgen für die Mittelalterforschung (03.12.2020)
M. Meier: Die Justinianische Pest – im Spiegel der Covid-19-Pandemie betrachtet (27.11.2020)