Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte in all ihren Facetten hat eine für Laien wie Spezialisten kaum noch überschaubare Fülle von wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen mit sich gebracht. Die 2003 von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gezogene Bilanz der DDR-Forschung, die heute nun mehr als nur ergänzungsbedürftig ist, zeugte damals schon eindrücklich von der deutschen Zeitgeschichtsversessenheit.1 Acht Jahre nach dieser Bestandsaufnahme mögen sich zwar teilweise Ermattungs- und Sättigungserscheinungen (vor allem bei den Lesern) eingestellt haben, der Trend zur Aufarbeitung ist dennoch ungebrochen, zuletzt medial heftig angestachelt durch die Jubiläen 2009 und 2010. Gewiss haben sich dennoch unbestellte Themenfelder bis dato erhalten, aber niemand wird wohl behaupten können, die Deutschen hätte sich ihrer jüngsten Vergangenheit intellektuell und institutionell nur unzureichend gestellt. Defizite werden natürlich immer beklagt, aber das kann summa summarum, vor allem mit Seitenblick auf die Situation im ehemaligen Ostblock, nur als Jammern auf hohem Niveau verstanden werden. Auch wenn die DDR-Forschung also breit aufgestellt ist, zwei Aspekte standen schon immer im Mittelpunkt des wissenschaftlichen wie öffentlichen Interesses: der Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 und das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit.
Die von Walter Süß konzipierte Dokumentation der BStU über die Staatssicherheit im Jahre 1989 zieht die beiden Fundamentalen der DDR-Aufarbeitung thematisch zusammen und versteht sich als eine Ergänzung zu jenen vielen Informationsangeboten im weltweiten Netz, die vor allem das Wirken der Bürgerrechtsbewegung in den Mittelpunkt rücken. Rund 160 (häufig gekürzte) Dokumente spannen den thematischen Bogen über die sattsam bekannten Stationen des Revolutionsjahres – beginnend mit den empörten Reaktionen auf das Verbot des sowjetischen Digest „Sputnik“ Ende 1988 (die sich bis in das neue Jahr hinein ziehen), über die Proteste gegen die gefälschte Kommunalwahl vom Mai 1989, die nicht nachlassende Ausreisewelle, die Gründung der neuen Demokratieinitiativen, die Demonstrationen überall in der DDR, den Fall der Berliner Mauer bis hin zur offiziellen Auflösung des MfS bzw. seines Nachfolgers, des Amtes für nationale Sicherheit im Frühjahr 1990. Was hier aus den Beständen der BStU, sekundiert von Material aus dem Bundesarchiv, zusammengestellt wurde, ist freilich allzu bekannt – und dies nicht allein, weil die CD auf Süß‘ Buch „Staatssicherheit am Ende“ von 1999 basiert.2 Einmal mehr erleben wir (Reform-) Unfähigkeit, Aggressivität, Sprachlosigkeit und schließlich Ohnmacht der Herrschenden angesichts eines zunehmend aufbegehrenden oder weglaufenden Volkes. Die Konzentration auf die reine Herrschaftsperspektive ist nicht uninteressant, da wir aber ausschließlich mit Dokumenten aus dem Zentrum der Macht konfrontiert werden, bilden sich zwangsläufig blinde Flecken. In der Berliner Normannenstraße fasst man die dramatischen Einzelberichte aus den Kreis- und Bezirksämtern des MfS zwar zu allgemeinen Stimmungsbildern und Lageberichten zusammen, denen dann aber doch weitgehend die konkreten Gesichter und die dramatischen Einzelgeschichten aus dieser oder jener Stadt fehlen. Wir lesen Gesetzesentwürfe, Beschlüsse, Reden, Protokolle usw. – eine Folge von Papieren, die dann doch ermüdend, aber nicht erhellend ist. Warum Süß auf sinnvolle Konkretionen verzichtet hat, ist unverständlich, schließlich geht es nicht allein um „Mielke und die MfS-Führung im Jahr 1989“, sondern um ein ganzes Heer von ebenso überzeugten wie verunsicherten und schließlich frustrierten haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitern in Jena, Schwerin, Plauen, Magdeburg oder anderswo. Das wird an den Protesten einiger Tschekisten gegen das Verbot des „Sputnik“ (samt anschließender „Kritik und Selbstkritik“) deutlich, das kann man mit Blick auf die Auflösung des MfS aber freilich nur erahnen. Hier hat sich der Autor aus didaktischer Sicht viel vergeben. Ein differenziertes Bild vom Innenleben der Staatssicherheit im Revolutionsjahr zeichnet er so nicht. Vielmehr wird jenes Geschichtsbild bedient, das wir seit der friedlichen Revolution inzwischen ohnehin mehrheitlich von der „Stasi“ im Kopf haben. An wen sich die Dokumentation richtet, ist schwer zu bestimmen. Für den Wissenschaftler jedenfalls bleibt die Auswahl und Präsentation der Dokumente unzureichend begründet. Für Lehrer, Schüler und interessierte Laien, die nach Informationen zum Revolutionsjahr 1989 suchen, kann sie aber eine echte Fundgrube sein.
Zur technischen Umsetzung ist zu sagen, dass alle Dokumente als Faksimiles, sprich: Grafiken abrufbar sind. Das macht eine Stichwortsuche unmöglich. Leider sind einige Grafiken auch schlecht lesbar. Wer über einen Internetanschluss verfügt, kann übrigens auf den Kauf der CD-ROM verzichten, denn der gesamte Inhalt ist fester Bestandteil der Netzpräsenz der BStU und unter der Rubrik „MfS-/DDR-Geschichte“ leicht zu finden.
Anmerkungen:
1 Vgl. Rainer Eppelmann u. a. (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003.
2 Vgl. Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999.