Verwerfungen durch gesellschaftliche Umbrüche und (unerwartete) Todesfälle, Katastrophen, schwere Krankheit und Ausgrenzung können uns aus der Bahn routinemäßiger Alltagsbewältigung stoßen. Menschen nutzten und nutzen in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen gemeinschaftlich oder auch höchst individuell Dinge, um in solch außergewöhnlichen, teilweise als Krisen verstandenen Situationen Handlungsorientierung (zurück-)zugewinnen. Dinge sind auf vielfältige Weisen beteiligt, wenn herausfordernde Situationen als Wendepunkte zwischen Bewältigung oder Verschärfung wahrgenommen, markiert und ausgestaltet werden.
Zeitlich und regional breit aufgespannt, widmet sich der Forschungsverbund SiSi, bestehend aus Ägyptologie, Ethnologie, Medizingeschichte und Mad Studies, seit September 2018 in Fallstudien diesem Themenfeld. Die Dinge im Fokus sind dabei altägyptische Heka-Objekte, amerindische chaquiras, Geräte zur „Nervenberuhigung“ um 1900 sowie persönliche Dinge im Umgang mit seelischen Krisen in der Gegenwart. Durch die Rekonstruktion der Handlungen mit Dingen – Herstellung, Gebrauchsweisen, Verbreitung, Aufbewahrung – und ihrer Wege werden Aushandlungen der Bedeutung bzw. des Werts der Dinge gerade auch in außergewöhnlichen Situationen oder Krisen fassbar. Während die Verwobenheit menschlicher und dinglicher Positionierungen niemals starr, sondern durch wechselnde Zugehörigkeiten, Bewegungen und Kommunikation menschlicher und nicht-menschlicher Akteure geprägt ist, könnte ein Symptom von „Krise“ oder „Außergewöhnlichem“ sein, dass diese Prozesse der Aushandlung hier als besonders fluide erscheinen.
Bei der Abschlusstagung des Verbunds SiSi streben wir einen interdisziplinären Austausch über Ansätze und Umgangsweisen der einzelnen Fächer mit Begriffen, Theorien und Methoden in der Analyse von Dingen / Objekten / Subjekten sowie des Wechselspiels von menschlich-dinglichen Handlungsmöglichkeiten an. Dabei wird die übergeordnete Frage verfolgt, wie Menschen mit Dingen in Krisen bzw. in außergewöhnlichen Situationen handel(te)n und interagier(t)en und wie die fluiden Konstellationen des Menschlich-Nicht-Menschlichen in konkreten Situationen beschrieben werden können. Wie also lassen sich Interaktionen und Verflechtungen von Menschen und Objekten, auch mit Blick auf Körper(lichkeit), erzählbar machen? Welchen Niederschlag finden dabei Kongruenzen und Divergenzen verschiedener konzeptueller Zugriffe wie Akteur-Netzwerke, entanglements oder Assemblagen? Den empirischen Beispielen sowie disziplinären Gepflogenheiten geschuldet, beschreiten die genannten Teilprojekte unterschiedliche Wege, wenn es darum geht, Ding und Bedeutung (heuristisch) entweder als getrennt zu fassen, sodass entsprechend „Bedeutungs-Zuschreibungen“ und Prozesse von „Bedeutungs-Aufladung“ und „Sinn-Überschuss“ beobachtet werden, oder die damit verbundene Dichotomie zu überwinden, indem Theorie-Angebote wie material agency oder zum „Wert“ (als Bedeutsamkeit von Handlungen sensu Graeber) von Dingen fruchtbar gemacht werden.
Vor dem Horizont dieser grundsätzlichen Überlegungen, möchten wir neben den genannten auch folgende Leitfragen mit unseren Gästen diskutieren:
- Welche Bedeutung, welchen Sinn oder welchen Wert können Dinge in krisenhaften bzw. außergewöhnlichen Konstellationen erlangen?
- Inwiefern sind sie an der Konstitution von solchen Konstellationen beteiligt?
- Welche Affordanzen haben sie, um selbige zu bewältigen?
- Was verstehen Sie dabei unter „Krise“ bzw. was ist das Außergewöhnliche in den untersuchten Situationen?
- Inwiefern hat die Auseinandersetzung mit Materialität in Ihren eigenen Forschungsprojekten (grundlegend) neue Fragen und Sichtweisen hervorgebracht und inwiefern ergänzen diese die etablierten Sichtweisen?
- Inwiefern ermöglicht etwa der Fokus auf Mensch-Ding-Interaktionen die Suspendierung von anachronistischen/ eurozentristischen/ sanistischen (ableistischen) Vorannahmen?
- In welchem Verhältnis stehen aus Ihrer Sicht bei der Analyse von Ding-Bedeutungen Performanz und Handlung vs. Diskurs und Repräsentation?
- Inwiefern sind, einer solchen Dichotomie folgend, grundlegende Unterscheidungen von praktisch-funktionalem Gebrauchs-Sinn und ideellem Sinn oder Bedeutung von Dingen heuristisch sinnvoll?
- Mit welchen Konzepten, die die genannte Dichotomie überwinden, können Prozesse der Konstitution und die Fluidität von Dingen Bedeutungen wie (anders) begreif- und beschreibbar werden?
- Welche Beobachtungen zu Körpern und Dingen in Krisen bzw. außergewöhnlichen Situationen machen Sie in Ihren Arbeiten?
- Welche Rolle spielen Dinge etwa beim körperlichen Erleben von Krisen oder der körperlichen Herstellung ihrer Bewältigung?
Unser Verbundprojekt lädt Sie hiermit herzlich zur thematischen und theoretisch-methodologischen Diskussion und zum interdisziplinären Austausch ein. Thematisch sollen neben den beteiligten Teilprojekten weitere Forschungen zur Materialität der Bewältigung von außergewöhnlichen („Krisen“-)Situationen vorgestellt und diskutiert werden; theoretisch-methodologisch soll es um die Konsequenz der unterschiedlichen Fachtraditionen für einen interdisziplinären Diskurs über die Materialität in Umbrüchen, Krisen und Außergewöhnlichem gehen.
Die Tagung findet online statt, Tagungssprache ist Deutsch, Vorträge können aber auch in englischer Sprache gehalten werden. Wir laden ein, Abstracts (max. 2.500 Zeichen inkl. Leerzeichen) mit kurzen Angaben zum/zur Autor:in bis zum 15. Oktober 2021 einzureichen an: sisi.cfp@uni-bonn.de
Da die angenommenen Beiträge in Kurzform vorab zirkuliert werden sollen, ist als Einreichungsdatum der 15.12.2022 vorgesehen. Geplant ist die Publikation eines Sammelbands mit den Beiträgen der Tagung.