Ontologien des Körpers. Neuvermessungen der Körpergeschichte der Neuzeit

Ontologien des Körpers. Neuvermessungen der Körpergeschichte der Neuzeit

Veranstalter
Mirjam Janett, Historisches Institut der Universität Bern; Leander Diener, Lehrstuhl für Medizingeschichte der Universität Zürich
PLZ
3012
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
25.11.2022 - 26.11.2022
Deadline
31.05.2022
Von
Mirjam Janett, Historisches Institut, Universität Bern

Die Tagung will den theoretisch-methodischen Anspruch einer ontologischen und rekursiven Geschichtsschreibung des Körpers anhand konkreter Beispiele ausloten. Gesucht sind Beiträge von Wissenschaftler:innen, die ontologische Zugänge auf ihre empirische Forschung anwenden und zur Diskussion stellen. Die Tagung findet am 25. und 26. November 2022 am Historischen Institut der Universität Bern statt.

Ontologien des Körpers. Neuvermessungen der Körpergeschichte der Neuzeit

Es ist bekannt: Der Köper hat eine Geschichte. Er wird in unterschiedlichen Räumen und Zeiten verschieden repräsentiert und erfahren. Handelt es sich beim Körper aber immer um denselben Körper? Was wäre, wenn er nicht nur unterschiedlich gelebt und beschrieben würde, sondern wenn es der Körper selbst wäre, der zur Disposition stünde? Wenn wir also davon ausgehen müssten, dass nicht vorweg klar ist, was ein Körper zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ist. Eine Geschichtsschreibung, die nicht nach Interpretationen des Körpers oder nach bestimmten Körperpraktiken fragt, ist mehr als eine Geschichte der Aneignung oder der Repräsentation. Sie untersucht grundlegender, wie der Körper und seine Relationalität zur Welt im spezifischen historischen Raum möglich wurde.

Mit ontologischen Fragen befassten sich heuristisch bisher vor allem Forschende der Ethnologie. Vereinfacht ausgedrückt fragen sie nicht, wie die Welt (unterschiedlich) interpretiert, sondern wie sie unterschiedlich konzeptualisiert wird. Wissenschaftler:innen wie der französische Ethnologe Philipp Descola oder der brasilianische Sozialanthropologe Eduardo Viveiros de Castro stellen die Universalität der westlichen Natur-Kultur Trennung in Frage. An sein Fach stellt Viveiros de Castro den Anspruch, die relationale Ontologie als analytischen Standpunkt einzunehmen. Das heißt, nicht von einer universalen (westlichen) Ontologie ausgehend das „Andere“ zu untersuchen, sondern das „eigene“ Denken immer in Bezug zum „anderen“ Denken zu reflektieren und so „das Denken permanent zu dekolonialisieren“.

In der Geschichtswissenschaft sind Studien, die sich mit ontologischen Fragen beschäftigen, eher rar. Sie stammen beispielsweise aus der Historischen Anthropologie und befassen sich überwiegend mit vormodernen Gesellschaften. Ihr Forschungsinteresse liegt nicht darin, die Repräsentation von Welt zu erfassen und ihre epistemische Dimension zu erschließen. Vielmehr nehmen sie ihre Konzeption(en) bzw. Ontologie(n) in den Blick. Sie fragen also, was zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmt Ort als Reales gilt. 2018 forderte die Historikerin Caroline Arni ontologische Ansätze auch für die neuzeitliche Forschung. Methodisch bedeute dies eine Perspektivenverschiebung: Für die Forscher:innen sei „nicht vorweg bekannt […], wovon eine bestimmte historische Situation handelt“. Sowohl „die Frage des Gegenstands und erst recht die seiner Konzeption“ werde damit zu einer empirischen Frage, so Arni. Diese radikale Historisierung sei im Sinne einer „rekursiven Geschichtsschreibung“ zu nutzen, um Vergangenheit und Gegenwart methodisch kontrolliert aufeinander zu beziehen. Nicht die Gegenwart stelle die Frage an die Vergangenheit, sondern die Frage selbst sei ein Verhältnis der wechselseitigen Analyse.

Was heißt das? Die französische Anarchistin Nelly Roussel zum Beispiel erklärte um 1900 die Frau als Herrin ihres eigenen Körpers. Sie leitete vom weiblichen Körper spezifische Frauenrechte ab, wie das Recht auf Empfängnisverhütung oder Abtreibung. Dennoch wäre es verkürzt, sie schlicht als Vorläuferin der zweiten Frauenbewegung einzuordnen, die mit Forderungen wie „mein Körper gehört mir“ scheinbar Ähnliches formulierte. Ebenso wäre es verfehlt, sie als essentialisierende Feministin zu bezeichnen. Die ontologische Differenz ernst zu nehmen, hieße das Augenmerk zunächst auf die Frage zu richten, mit welchem Körper Roussel operierte. Was war das für ein Körper, von dem sie sprach, mit dem sie sich emanzipierte und mit dem sie von einer egalitären und freien Gesellschaft träumte? Rekursiv wäre in heutige feministische Debatten die Frage einzubringen, welche Rolle der Körper für die feministische Bewegung hat, ohne dabei in einen simplen Biologismus zu verfallen oder ihn ausschließlich als diskursives Konstrukt zu fassen.

Mit unserer Tagung wollen wir den theoretisch-methodischen Anspruch einer ontologischen und rekursiven Geschichtsschreibung des Körpers, die der scheinbar universellen Natur-Kultur-Trennung zuwiderläuft, anhand konkreter Beispiele ausloten. Wir suchen nach Beiträgen, die die Grenzen zwischen „Natur“ und „Kultur“ problematisieren und die politischen Implikationen körperlicher Ontologien prüfen. Welche historischen Machtverhältnisse lassen sich darin erkennen? Und nicht zuletzt: Welches emanzipatorische Potential legen spezifische körperliche Ontologien frei? Zeitlich sollen die Beiträge auf die Neuzeit fokussieren, wobei unterschiedliche geographische Räume abgedeckt werden können.

Mögliche, nicht abschließend gedachte Themen sind:

- Ontologien des Körpers und Geschlecht: Wie wird der weibliche und männliche Körper in verschiedenen Bereichen und sozialen Bewegungen seit 1800 konzeptualisiert? Inwiefern legt diese Konzeptualisierung emanzipatorisches Potential frei? Was heißt das für die „Ordnung der Geschlechter“?
- Ontologien des Körpers und Medizin: Auf welchen Körperkonzepten basiert die westliche Medizin seit 1800? Auf welchen ontologischen Grundannahmen beruhen Diagnostik, Therapie, Forschung. Welchem Wandel unterliegen sie in der Neuzeit? Was bedeuten diese Verschiebungen für die Medizin? Wie wirken diese Konzepte auf die Gesellschaft zurück?
- Ontologien des Körpers und postkoloniale Studien: Welche Körperkonzepte entwarfen verschiedene nicht-westliche Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert? Welchen Veränderungen waren diese Ontologien durch Imperialismus und Kolonialismus unterworfen?
- Ontologien des Körpers und Umwelt: In welcher Beziehung stehen Körper zu ihrer Umwelt? Welche historisch spezifischen Beziehungsformen ergeben sich aus den jeweiligen Körperkonzepten? Welche Folgen für Menschen und ihre Umwelten lassen sich auf Körperkonzepte zurückführen?
- Ontologien des Körpers menschlicher und nichtmenschlicher Tiere: Auf welcher Grundlage werden die Grenzen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Körpern gezogen? Welche Rolle spielen die Dimensionen von Wissenschaft, Religion, Wirtschaft und Politik?

Die Tagung findet vom Freitag, 25. Nov. 2022, bis am Samstag, 26. Nov. 2022, am Historischen Institut der Universität Bern statt. Am Freitag ist eine Keynote Lecture geplant, die von Prof. Dr. Caroline Arni (Universität Basel) gehalten wird. Bitte senden Sie ein Abstract mit max. 400 Wörtern und einen Kurzlebenslauf von max. zwei Seiten in einem PDF-Dokument bis zum 31. Mai 2022 an mirjam.janett@unibe.ch und leander.diener@uzh.ch. Wir informieren die Bewerber:innen bis am 30. Juni 2022 über die Annahme des Papers. Reise- und Übernachtungskosten können ggf. übernommen werden, bitte bei der Bewerbung erwähnen. Es ist geplant, ausgewählte Tagungsbeiträge in einem Sammelband zu publizieren.

Dr. Mirjam Janett, Historisches Institut der Universität Bern
Dr. Leander Diener, Lehrstuhl für Medizingeschichte der Universität Zürich

Kontakt

E-Mail: mirjam.janett@unibe.ch
E-Mail: leander.diener@uzh.ch

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Deutsch
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