Anthologische Nationalpoesie. Der Beitrag von Lyrikanthologien zur Herausbildung von Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit

Anthologische Nationalpoesie. Der Beitrag von Lyrikanthologien zur Herausbildung von Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit

Veranstalter
Dirk Rose (Innsbruck), Isabella Walser-Bürgler (Innsbruck), Nicolas Detering (Bern)
Veranstaltungsort
Claudiana
PLZ
6020
Ort
Innsbruck
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
24.11.2022 - 25.11.2022
Von
Tobias Unterhuber, Institut für Germanistik, Universitätsarchiv Innsbruck

Internationale Tagung, Innsbruck, 24./25.11.2022

Anthologische Nationalpoesie. Der Beitrag von Lyrikanthologien zur Herausbildung von Nationalliteraturen in der Frühen Neuzeit

Mit der programmatischen Aufwertung einer volkssprachigen Kunstpoesie im 16. und 17. Jahrhundert gewinnt auch das Medium der Anthologie gegenüber dem spätmittelalterlichen und reformatorischen Sammlungsschrifttum (wieder) an Profil und wird in vielen Ländern Europas zur publizistischen Plattform für die neue Poesie. Ausgehend von den neuhumanistischen Sammlungen Italiens bildet sich insbesondere im Umfeld der Pléiade ein Dichtungsverständnis heraus, das medial auf vielfältige Weise mit der Publikationsform der Anthologie verbunden ist. Denn die »Totalität« (Papiór), welche Anthologien mit ihren Bündelungs- und Auswahlprozessen für ein spezifisches Segment der Textproduktion stellvertretend anvisieren, ermöglicht es den darin publizierten Texten, repräsentativ für eine zeitgenössische Dichtungspraxis überhaupt einzustehen, die sich dadurch gewissermaßen selbst kanonisiert. Damit werden Anthologien zum idealen Medium für eine neue volkssprachige Dichtung und können à la longue sogar als Gründungsakte (und Gründungsakten) künftiger Nationalliteraturen gelesen werden. Nicht umsonst positioniert sich bereits eine frühe Anthologie der englischen Literatur als England’s Helicon (1600).

Diese Entwicklung führt zu einer paradoxen Stellung von volkssprachigen Anthologien in der Kultur der Frühen Neuzeit, wo das Traditionsverhalten stark an autoritativen Mustern orientiert ist. Diesen Zweck erfüllen zu einem Großteil die lateinischen Mustersammlungen, welche die antike und neuhumanistische Poesie über Sprach- und Konfessionsgrenzen hinweg präsent halten und zugleich offen für neue Texte im Sinne einer Poetik der aemulatio sind. Daran knüpfen volkssprachige Anthologien an, fungieren jedoch aufgrund fehlender autoritativer Texte in der Volkssprache in erster Linie als Ausweis neuer Poesie in der jeweiligen Landessprache, welche ihre normativen Exempel überhaupt erst verfassen, distribuieren und tradieren muss. Daher publizieren diese Anthologien überwiegend aktuelle, oft sogar unveröffentlichte Texte (oft auch parallel zu neulateinischen Anthologien).

Die Konzentration in der Forschung auf das Anthologiemodell des 19. Jahrhunderts, das eher kanonischen Texten verpflichtet gewesen ist – weswegen es auch als »Museum der Literatur« (Straubel) bezeichnet wurde – hat die davon abweichende Konzeption frühneuzeitlicher Anthologien weitgehend verdeckt. Die geplante Tagung möchte nicht nur diese andere Konzeption wieder ins Bewusstsein rücken. Zugleich will sie in einer Engführung von literatur- und mediengeschichtlichen Aspekten die Genese europäischer Nationalpoesien im Kontext des frühneuzeitlichen Anthologienmarktes verorten. Vor allem drei Aspekte scheinen uns, neben der Exempelfunktion einer volkssprachigen Dichtung, von besonderer Relevanz:

1) Das Verhältnis der volkssprachigen zu den zeitgenössischen lateinischen Anthologien, wobei insbesondere nach deren Modellfunktion sowie den möglichen Interferenzen zwischen einzelnen Sammlungen gefragt werden muss.
2) Die Filiation, Adaption und Zirkulation von Sammlungen zeitgenössischer volkssprachiger Poesie in den europäischen Literaturen. Hier spielt der belgische bzw. holländische Buchmarkt als ›Drehscheibe‹ eine wichtige Rolle. Darüber hinaus sollen weitere Transferwege zwischen den einzelnen volkssprachigen Dichtungen sowie konkrete Übersetzungsvorgänge in den Blick genommen werden.
3) Die Aktualitätsfunktion der Sammlungen; und zwar in zwei Richtungen: Einerseits als Produkte auf einem Printmarkt der »allerneuesten« Dichtungen, die auch und gerade Kasualdichtung mit einschließt, die nicht allein eine poetische, sondern auch eine politisch-publizistische Dimension besitzt. Zum anderen als ›Generationsprojekt‹, das es erlaubt, eine Binnengeschichte der jeweiligen volkssprachigen Poesien anzustoßen, welche auf spätere Epochenkonstrukte vorausweist (Stichwort: ‚erste‘ und ‚zweite Schlesische Schule‘ etc.).

Die Vorträge aus unterschiedlichen Ländern und Disziplinen sollen das Feld der frühneuzeitlichen Lyrikanthologie in den jeweiligen Volkssprachen sowie im Lateinischen möglichst engmaschig und in seinen vielfältigen Wechselbeziehungen erschließen. Sie dienen auch zur Vorbereitung für ein länderübergreifendes Forschungsvorhaben in europäischer Perspektive.

Programm

Donnerstag, 24. November 2022

9:00–9:30
Begrüßung
Florian Schaffenrath (Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien), Elisabeth De Felip-Jaud (Studienbeauftragte, Institut für Germanistik)
Einführung – Introduction
Dirk Rose (Innsbruck), Isabella Walser-Bürgler (Innsbruck), Nicolas Detering (Bern)

Poetik und Programmatik
Moderation: Florian Schaffenrath
9:30-10:15
Anna Kathrin Bleuler (Salzburg): Vom „Codex Manesse“ zu „Des Minnesangs Frühling“: Nationalästhetische Kanonbildung der mittelhochdeutschen Lyrik

Kaffeepause

10:45-11:30
Stefanie Lethbridge (Freiburg): „Tottel’s Miscellany“: Zwischen Tradition, Erinnerung und neuer Poesie
11:30-12:15
Valérie Leyh (Namur): Nationalpoesie durch Übersetzung. Michael Hubers Anthologie „Choix de poésies allemandes“ (1766) und ihre Rolle im deutsch-französischen Literaturtransfer

Mittagspause

Transfers – Neulateinische und volkssprachige Anthologien
Moderation: Isabella Walser-Bürgler
14:00-14:45
Francesco Lucioli (Rom): Quellen und Vorbilder der „Delitiæ CC Italorum poetarum“ (1608), herausgegeben von Janus Gruterus
14:45-15:30
Lucie Storchová (Prag): Die Produktion lateinischer und volkssprachlicher Poesie in den böhmischen Ländern (1550–1630): Dis/Kontinuitäten, Vorbilder und soziale Funktionen

Kaffeepause

16:00-16:45
Marc Laureys (Bonn): Zwischen Anthologisierung und Eigenwerbung: Gruterusʼ Dichtungen in seinen „Delitiae poetarum Belgicorum“ (1614)
16:45-17:30
Jörg Robert (Tübingen): Das „Florilegium variorum epigrammatum“ (1639) des Martin Opitz und die Tradition der Anthologie

Abendvortrag

18:00-19:00
Beatrice Gründler (FU Berlin): Die Anthologisierung von „Kalīla wa-Dimna“
19:30
Gemeinsames Abendessen

Freitag, 25. November 2022

Literaturpolitik und Kanonbildung

Moderation: Nicolas Detering
09:30-10:15
Dirk Niefanger (Erlangen-Nürnberg): „Zu einem Muster und Fürbilde“. Zincgrefs „Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten“ von 1624

Kaffeepause

10:45-11:30
Tomasz Jabłecki (Wrocław): Von Opitz bis Hunold – programmatische Ansätze zur Etablierung der deutschen Nationalliteratur in Lyrikanthologien

11:30-12:15
Nora Ramtke (Bochum): Auserlesene Gedichte: Gottsched, Neukirch und „das güldene Alter unserer Poesie“

Mittagspause

14:00-14:45
Enrico Zucchi (Padua): Jenseits des Kanons: die Infragestellung der Autorität von Gedichtanthologien durch die italienische Tradition der „Rime piacevoli“
14:45-15:30
Alois Woldan (Wien): The Idea of Galicia – der Beitrag von Anthologien zur Bildung einer galizischen Identität

Kaffeepause

Text, Musik, Repräsentation

Moderation: Dirk Rose
16:00-16:45
Johann Oosterman (Nijmegen): Antwerpen, Zutphen, Venlo und Geldern. Das Sammeln von Liedern in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts
16 :45-17 :30
Adeline Lionetto (Sorbonne Paris): Die Anthologie der französischen Ballette des Herzogs von La Vallière (18. Jahrhundert), eine politische Geschichte der französischen Aufführungen

Abschluss

17:30-18:30
Dirk Rose (Innsbruck), Isabella Walser-Bürgler (Innsbruck), Nicolas Detering (Bern): Schlussdiskussion und Ausblick auf ein europäisches Forschungsnetzwerk Anthologien 1500–1800
19:00

Gemeinsames Abendessen

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