Schutzverantwortung und humanitäre Intervention – militärische Gewalt im Namen der Menschenrechte?

Schutzverantwortung und humanitäre Intervention – militärische Gewalt im Namen der Menschenrechte?

Veranstalter
Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse / Universität zu Köln
Veranstaltungsort
Schloss Herrenhausen
Gefördert durch
VolkswagenStiftung
PLZ
30419
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.11.2023 - 08.11.2023
Deadline
20.08.2023
Von
ICWC Internationales Forschungs– und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse

6. bis 8. November 2023 in Schloss Herrenhausen, Hannover
Henning de Vries (Marburg) / Stefanie Bock (Marburg) / Eckart Conze (Marburg) / Fabian Klose (Köln)

Schutzverantwortung und humanitäre Intervention – militärische Gewalt im Namen der Menschenrechte?

Inhalt

Sind Schutzverantwortung und Humanitäre Intervention überholte oder gar missbräuchliche Konzepte? Beide sind nicht rechtlich kodifiziert, aber sie berufen sich auf Menschenrechte, um diese auch mit militärischen Mitteln zu schützen. Das Konzept der Schutzverantwortung oder auch Responsibility to Protect (R2P) genannt spiegelt eine internationale Debatte über die Verantwortung von Staaten gegenüber ihren Bürger:innen wider. Dazu zog die von den Vereinten Nationen (UN) beauftragte Kommission Menschenrechte als Grundlage heran und leitete davon ausgehend auch eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft ab, wenn der Staat diese gegenüber seinen Bürger:innen nicht erfüllt. Im Falle eines internationalen Eingriffs würde es sich dann um eine humanitäre Intervention handeln. Humanitäre Interventionen gibt es bereits seit Jahrhunderten (Klose 2022). Sie adressieren das Eingreifen in die Situation einer notleidenden Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe oder dienen als Vorwand für eigene Interessen. Humanitäre Interventionen wären eine mögliche Konsequenz, wenn ein Staat seiner Verantwortung nicht nachkommt (Bock 2022). Allerdings hat sich die internationale Gemeinschaft bisher nicht auf verbindliche Regeln für eine globale Schutzverantwortung oder für humanitäre Interventionen einigen können. Beide Konzepte stehen unverbunden nebeneinander. Während es zumindest für die R2P einen Bericht und empfohlene Leitlinien einer UN-Kommission gibt, steht die Humanitäre Intervention außerhalb des Systems der Vereinten Nationen, sodass es sich rechtlich nicht unmittelbar darin verorten lässt. Die Kriterien, um die Grenze zur Anwendung militärischer Gewalt in einer humanitären Intervention zu überschreiten, sind daher vage und scheinen gerade deswegen für die Rechtfertigung dieser Grenzüberschreitung genutzt zu werden (vgl. Bellamy/Dune 2016).

Russland rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine als „militärische Spezialoperation“ zum Schutz ethnischer Russ:innen, ohne dass es dafür eine sachliche Grundlage gibt. Diese Strategie verfolgte Russland bereits im Jahr 2014 auf der Krym sowie in der Ostukraine und auch im Jahr 2008 in Georgien. Russland nutzte hier die Vagheit des Konzepts der Humanitären Intervention aus. Im Jahr 2011 bezog sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erstmals auf das Prinzip der Schutzverantwortung, was eine Koalition der Willigen als Grundlage ansah, eine Flugverbotszone über Libyen im laufenden Bürgerkrieg einzurichten. Obwohl diese Intervention nicht (explizit) im UN-Mandat vorgesehen war, bewegte sie sich dennoch innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Sie verlieh dem Prinzip internationaler Schutzverantwortung mehr Wirklichkeit, ohne jedoch die Konsequenz einer humanitären Intervention zu regeln oder zu spezifizieren. Die Koalition der Willigen war nicht intendiert und es ist fraglich, ob ihre Flugverbotszone tatsächlich vom UN-Mandat gedeckt war.

Allgemein finden militärische Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen und/oder der North Atlantic Treaty Organisation (NATO) vor allem mit dem Auftrag humanitärer Unterstützung statt. Gleichzeitig handelt es sich wie in Afghanistan auch um robuste Einsätze, die die Anwendung militärischer Gewalt erfordern (Conze 2018). Sind dies schon humanitäre Interventionen oder wie verhalten sie sich zu diesem Konzept?

Über eine bloße Rhetorik hinaus sind humanitäre Einsätze oder Interventionen und auch die Schutzverantwortung Konzepte, die angewendet werden und militärische Gewalt nach sich ziehen. Dabei ist nicht gesichert, dass der Schutz von Menschenrechten das tatsächliche Ziel darstellt oder nur als Vorwand für die Verfolgung anderer Interessen dient. Im vorgeschlagenen Projekt sollen vor diesem Hintergrund die Grenzen und Grenzüberschreitungen militärischer Gewalt auf der Grundlage der Menschenrechte in Form der Konzepte der Schutzverantwortung und der humanitären Intervention analysiert und präzisiert werden. Dafür soll der thematische Gegenstand des Symposiums entlang verschiedener Aspekte diskutiert werden:

1. Entsteht über verschiedene Rechtsbereiche hinweg das Konstrukt einer globalen Verantwortung?
2. Welche Zukunft haben humanitäre Einsätze und welche Herausforderungen müssen sie bewältigen?
3. Wen schützt die Schutzverantwortung?
4. Wie hängen die konzeptionellen Überlegungen der beiden Konzepte mit ihrer Praxis (noch) zusammen?

1. Globale Verantwortung – nur ein Konstrukt?
Das Konzept der Schutzverantwortung setzt voraus, dass jeder Mensch Rechte hat, für deren Schutz eine (internationale) Verantwortung besteht. Internationale Verantwortung lässt sich nicht nur aus dem Konzept der Menschenrechte ableiten, sondern findet sich auch in anderen Rechtsbereichen (vgl. Werkner/Ebeling 2017). Im humanitären Völkerrecht gibt es eine explizite Verantwortung zum Schutz von Zivilist:innen und eine Sorgfaltspflicht für die Planung militärischer Angriffe. Im Völkerstrafrecht ist eine individuelle Verantwortlichkeit entstanden, die aus universell geltenden Tatbeständen (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression) begründet ist. Entsteht hier über die verschiedenen Rechtsbereiche hinweg eine globale (Schutz-)Verantwortung der internationalen Gemeinschaft (vgl. Bonacker/Brodocz 2001)? In organisatorischer Hinsicht versuchen der IStGH für Individuen und der IGH für Staaten, dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten umzusetzen. Sie können dies allerdings nur partiell realisieren, sodass es zu globalen Unterschieden in der Wahrnehmung von Verantwortung kommt. Hängt ein Konstrukt wie globale Verantwortung davon ab, um wen es geht – Staaten oder Individuen, Männer, Frauen oder andere Geschlechtsidentitäten, weiß oder nicht-weiß?

2. Zukunft und Herausforderungen humanitärer Einsätze
Das Ende des Einsatzes in Afghanistan und die mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine verkündete Zeitenwende werfen die Frage auf, wie humanitäre Einsätze in Zukunft aussehen werden. Die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere die Bundeswehr haben seit dem Ende des Kalten Krieges vorwiegend humanitäre Hilfe geleistet. Diese Zeit scheint mit der Rückorientierung an die Landes- und Bündnisverteidigung innerhalb der NATO zu enden (Distler 2018). Ist damit auch die globale Schutzverantwortung, das Eintreten für Menschenrechte am Ende? Welche Herausforderungen stellen sich vor den Erfahrungen der vergangenen Jahre?

3. Schutzverantwortung – für wen?
Wer wird durch humanitäre Interventionen geschützt? In humanitären Krisen und innerstaatlichen Konflikten leiden vor allem Frauen, Kinder, diskriminierte Ethnien und andere Minderheiten. Im Zuge der Wiederherstellung friedlicherer Zustände bleiben diese Gruppen häufig stigmatisiert. Menschenrechtskonzepte werden daher nicht in gleicher Weise auf alle Menschen angewendet. Es entstehen Unterschiede, die durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Diskriminierungen aber auch durch die Zugänglichkeit zu Institutionen bedingt sind. In humanitären Interventionen sind besonders schutzbedürftige Gruppen aufgrund solcher Einschränkungen nicht erreichbar (vgl. Buckley-Zistel/Björkdahl 2022). Zwischen den Interventionsmächten und der Gesellschaft, in die interveniert wird, tauchen wertbezogene Unterschiede auf, die nicht ohne interkulturelle Kompetenzen überbrückt werden können.

4. Konzept und Praxis humanitärer Interventionen
Die Praxis humanitärer Interventionen fällt nicht nur in der Frage, für wen letztendlich eine Schutzverantwortung umgesetzt werden kann, mit ihrem Konzept auseinander. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, mit welchen Absichten die Interventionsmächte eingreifen. Im Jahr 2008 versuchten pro-russische Rebellen in Südossetien, einer Region Georgiens, die Unabhängigkeit zu erklären. Als die georgische Regierung gegen sie vorging, griff Russland mit eigenen Truppen ein und rechtfertigte dieses militärische Vorgehen als humanitäre Intervention zum Schutz der Bevölkerung vor der georgischen Regierung. Es lassen sich verschiedene weitere Beispiele finden, wie die Interventionen der USA in den Irak mit der falschen Tatsachenbehauptung, dass dort eine globale Bedrohung durch Atom-, Bio- und Chemiewaffen entstehe. Ist trotz der missbräuchlichen Verwendung noch ein Rückbezug auf den Kern, Menschenrechte zu wahren, möglich (Kötter et al. 2022; Rudolf 2017)?

Format

Das Symposium wird von der VolkswagenStiftung gefördert. Die Reise- und Übernachtungskosten werden übernommen. Das Symposium soll einen interaktiven Austausch ermöglichen und geht über klassische Panel-Vortragsformate hinaus. Wir freuen uns über Ihr Interesse an der Teilnahme.

Senden Sie uns für die Teilnahme bitte ein kurzes Motivationsschreiben (500 Wörter) mit einem CV bis zum 20. August an icwc@staff.uni-marburg.de zu. Gerne können Sie uns auch eine Idee für die Ausgestaltung eines Themenaspektes vorschlagen.

Literatur

Bellamy, Alex/Dunne, Tim (2016): The Oxford Handbook of the Responsibility to Protect. Oxford: University Press.
Bock, Stefanie (2022): Mit Recht gegen Gewalt. In: Vereinte Nationen (3), 125–129.
Bonacker, Thorsten/Brodocz, André (2001): Im Namen der Menschenrechte. Zur symbolischen Integration der internationalen Gemeinschaft durch Normen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8 (2), 179–208.
Buckley-Zistel, Susanne/Björkdahl, Annika (2022; Hrsg.): Space for Peace. Special Issue of the Journal of Intervention and Statebuilding, 16 (5).
Conze, Eckart (2018): Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Distler, Werner (2018): Gewaltakteure und Versicherheitlichung im internationalen Peacebuilding. In: Westermeier, Carola/Carl, Horst (Hrsg.): Sicherheitsakteure. Epochenübergreifende Perspektiven zu Praxisformen und Verischerheitlichung. Baden-Baden: Nomos, 81–92.
Klose, Fabian (2022): In the Cause of Humanity. A History of Humanitarian Intervention in the Long Nineteenth Century. Cambridge/New York: Vandenhoeck & Ruprecht.
Kötter, Matthias/Röder, Tillmann/Deppe, Jens/Trappe, Julie/Schneider, Tillmann (2022; Hrsg.): Rechtsstaatsförderung. Handbuch für Forschung und Praxis.
Rudolf, Peter (2017): Zur Legitimität militärischer Gewalt. Bonn: bpb.
Werkner, Ines-Jacqueline/Ebeling, Klaus (2017; Hrsg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden: Springer VS.

Kontakt

E-Mail: icwc@staff.uni-marburg.de

https://www.uni-marburg.de/de/icwc
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Deutsch
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