Altern hat Zukunft:
Die westlichen Industriestaaten fühlen den Druck, den ihnen die zunehmende Überalterung der Gesellschaft auferlegt und die damit verbundenen Schwierigkeiten – etwa mangelnde wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit, wachsende Probleme bei der Altersversorgung und bei der Finanzierung des Gesundheitssystems. Die öffentliche, ambivalente Wahrnehmung von Alter und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alter haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor allem die Medizin und die Soziologie widmeten (und widmen) dem Alter großes Augenmerk – den Begriff der „Geriatrie“ hat übrigens der in der Habsburgermonarchie gebürtige Ignaz L. Nasher 1909 im Kontrast zur „Pädiatrie“ geschaffen. Die geplante Publikation im Rahmen der Querschnitte-Reihe nähert sich diesem nicht nur für die Industrienationen drängenden Problem aus einer multidisziplinären Sicht.
Alter definiert sich nicht nur durch das biologisch hohe Alter, sondern ist ein der Kultur und ihren Wandlungen unterworfener Begriff. Es ist, wie die bekannte englische Altersforscherin Pat Thane formulierte, „immer die facettenreichste Altersstufe“ gewesen. Der Altersbegriff ist kaum „objektiv“ zu fassen, Alter ist ein Deutungskonzept für vielfältige Lebensformen: Das Alter ist eine soziale und kulturelle Konstruktion - vielleicht auch ein bestimmter Lebensstil, häufig korrelierte es mit bestimmten Familiensituationen und Soziallagen. Noch nie war die europäische Gesellschaft so alt wie im beginnenden 21. Jahrhundert, Tendenz steigend! Das „dritte“ und das „vierte“ Alter bestimmen in einem nicht unbeträchtlichen Teil die öffentliche Diskussion. Noch nie lebten einerseits so viele rüstige, aktive und erfolgreiche SeniorInnen und andererseits so viele chronisch kranke und hilfsbedürftige alte Menschen in unserer Gesellschaft wie heute. Das polemische Schlagwort der 1968er-Generation – „Trau keinem über Dreißig“ – lässt sich schon rein hinsichtlich der Altersstruktur längst nicht mehr durchhalten. Ein Großteil der bewusst lange eigenständig bleibenden Alten leben, betrachtet man ihre Familien- und Haushaltsstruktur, nach einer glücklichen Wendung von Leopold Rosenmayr eine „Intimität auf Distanz“, das heißt, sie leben von ihren Kindern und engen Verwandten getrennt. Nach dem Eintritt in das Rentenalter, im Schnitt mit 65 Jahren, bleiben den alten Menschen noch einige gute, unabhängige und einige „schlechtere“, zunehmend von Betreuung abhängige Jahre bis zu ihrem Tod.
Das hohe Alter belastet die westlichen staatlichen Haushalte immer mehr: So nahmen in Großbritannien in den 1980er-Jahren Patienten über 75 Jahre die Hälfte aller zur Verfügung stehenden Spitalsbetten in Anspruch. Doch sollte man die steigende und uns alle betreffende Vergreisung der Gesellschaft nicht nur als finanzielle Belastung, als Gefährdung des Generationenpaktes sehen, sondern auch die sozialen Leistungen des Alters (etwa in der Familie, in der Weitergabe von Lebenserfahrung, im Bewahren kultureller Werte usw.) hervorheben.
Es gibt nahezu keine wissenschaftliche Disziplin, die nicht Bezug zum Thema Alter und Altern aufweist – das Thema hat nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft Konjunktur, ihm und den Alten selbst scheint die Zukunft – so paradox dies klingen mag – zu gehören. Das Alter hat sich dabei als eine äußerst nützliche Kategorie in der historischen Analyse erwiesen: Armut, Familienstruktur, Generationskonflikte, Alter im Wandel (und im Vergleich zur Gegenwart), Identitätskonstruktionen in der Vormoderne, Altersversorgung etc. lassen sich damit erforschen. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann fragte unlängst ironisch und die ambivalenten Chancen des Alters gedanklich auslotend: „Der Geschlechtstrieb: in ruhigere Bahnen gelenkt. Karriereziele und Aufstiegsstreben: obsolet geworden. Und nun: Freiheit, nichts als Freiheit?“
Neben dem Umgang der Philosophie mit dem Thema Alter – das Alter als Abstinenz von den Freuden des Lebens bzw. als Inbegriff der Weisheit versus einer neuen Genussgeneration „Alter“ – kommen auch die Medizin, die soziologische Altersforschung, die Ethnologie und der kulturell differierende Zugang zum Alter, die Kunstgeschichte und die Literaturwissenschaften, die Geschichte und die Werbebranche zu Wort. Ziel des Buches wie der Ringvorlesung ist es, ein Bewusstsein für die Basiskategorie „Alter“ bei den LeserInnen und HörerInnen zu schaffen – der Wissenschaftsstandort Wien wird durch diese Veranstaltungsreihe, die fast ausschließlich von in Wien ansässigen WissenschaftlerInnen getragen wird, nachhaltig vorgestellt.