Differenz(theorien). (Wie) können sich Postkoloniale Theorie und Systemtheorie beobachten?

Differenz(theorien). (Wie) können sich Postkoloniale Theorie und Systemtheorie beobachten?

Veranstalter
Daniela Kirschstein, Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, Freie Universität Berlin Dr. Mario Grizelj Institut für Deutsche Philologie Ludwig-Maximillians-Universität München
Veranstaltungsort
Ort
Berlin / München
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2009 -
Deadline
30.09.2009
Website
Von
Grizelj, Mario + Kirschstein, Daniela

Postkoloniale Theorie und Systemtheorie lassen sich als zentrale theoretische Diskurse unseres Wissenschaftssystems auffassen. Sie sind beide systematisch und historisch ausgearbeitet sowie elaboriert theoretisch fundiert. Methodologische, theoretische, wissenschaftshistorische, aber auch wissenschaftspolitische Konstellationen haben dazu geführt, dass sich beide Theorien bislang weitestgehend ignoriert haben. Demgegenüber lassen sich Postkoloniale Theorie und Systemtheorie jedoch in ein komplexes Verhältnis zueinander setzen, indem beide als Differenztheorien fokussiert und diese Differenztheorien als Beobachtungstechniken gelesen werden, die es zuallererst erlauben, die Dispositionen von (binären und/oder ambivalent-hybriden) Unterscheidungen als solche überhaupt sichtbar zu machen.

Der Sammelband möchte fragen, ob und in welcher Form es sinnvoll ist, die Differenztheorien Systemtheorie und Postkoloniale Theorie zu vergleichen, um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch produktiv nutzen zu können. Gleichzeitig muss im Zuge dieses Vergleichs und in Anbetracht der bisherigen signifikanten wechselseitigen Indifferenz oder Ignoranz auch die Frage erörtert werden, in welcher Form die Rede von Differenztheorie im Hinblick auf postkoloniale und systemtheoretische Perspektiven sinnvoll formuliert werden kann. Geht man heuristisch davon aus, dass die problematische und noch zu klärende Rede von Postkolonialer Theorie und Systemtheorie als Differenztheorien theoretisch sinnvoll ist, kann dezidiert gefragt werden: Was sind die gemeinsamen Gemeinsamkeiten und die gemeinsamen Unterschiede?

Die Kontaktaufnahme von Postkolonialer Theorie und Systemtheorie muss immer in beide Richtungen gehen. Kann die Systemtheorie etwas zur (weiteren) reflexiven Wendung der Postkolonialer Theorie beitragen? Was könnte die ohnehin autologisch als Metatheorie angelegte Systemtheorie im Zuge ihrer Rezeption Postkolonialer Theorie für ihre Selbstbeobachtung gewinnen? (Wie) müsste die Systemtheorie nicht nur sich selbst als Theorie, sondern auch ihre Objektbereiche (soziale Systeme, Gesellschaft, funktionale Differenzierung usw.) einer postkolonial inspirierten Redeskription unterziehen?

Wir geben im Folgenden – im Sinne einer Anregung, keineswegs als Verpflichtung für die Argumentation Ihres Beitrags – einige Hinweise darauf, was eine Korrelation von Postkolonialer Theorie mit Systemtheorie faszinierend machen könnte. Neben einer theorietechnisch-konzeptuellen ist auch explizit an eine mehr an Objektbereichen orientierte und mehr empirisch ausgerichtete Auseinandersetzung zu denken.

Postkoloniale Theorien sind seit einiger Zeit dabei, ihre strukturalistischen Verkrustungen allein dekonstruktiv zu reflektieren und zu relativieren und dies bis zu dem Punkt, wo die dekonstruktive Komplexität (Bhabas Hybriditätstheorie) zu einem unhinterfragten, problemlos gewordenen Diktum wird. Uneingestanden scheint es so zu sein, dass sich postkoloniale Fragen zwangsläufig dekonstruktiv stellen lassen müssen. Es gilt, diese Zwangsläufigkeit zu entschärfen, die komplexe Theorie der Ambivalenz und Hybridität muss immer selbst komplex hinterfragbar bleiben. Die Systemtheorie könnte dabei die Möglichkeiten dafür liefern, nicht neue Differenzkonzepte bereitzustellen, sondern infrastrukturell die Sensibilität dafür zu stärken, dass wir es mit komplexen Dispositionen zu tun haben, wenn wir mithilfe von Differenzen Differenzen beobachten. Gerade eine auf hoher Abstraktionsstufe operierende Systemtheorie könnte in der Lage sein, uneingestandene Implikationen postkolonialen Denkens beschreibbar zu machen, ohne ihrerseits Postkoloniale Theorie systemtheoretisch fundieren zu wollen. Mithilfe der Systemtheorie ließen sich systematisch die blinden Flecken postkolonialen Beobachtens und Theoretisierens fokussieren, damit der postkoloniale Beobachter, der den sich beobachtenden Beobachter beobachtet, beobachtbar wird. Als solche Beobachtungstechnik würde die Systemtheorie in die vorteilhafte Position kommen, Versus-Positionen auszuhebeln. Es ginge darum, den Binarismus von ‘Binarismus/Hybridität’ (dem uneingestanden Bhaba aufgesessen ist) zu unterlaufen und die Formen und Formate modernen Unterscheidungsgebrauchs im Sinne eines Kalküls zu beobachten. Es ginge dann beispielsweise nicht um Differenz vs. Hybridität oder um Hegemonie vs. Eigensinn des Literarischen, sondern um die stets prekäre und konstitutiv prozessuale Einheit dieser Unterscheidungen.

Ein solches systemtheoretisch gepoltes Aushebeln von Verus-Positionen könnte auch einige diskursanalytische Basistheoreme re-justieren helfen. So gut wie jede Variante von Postkolonialer Theorie geht davon aus, dass Fragen von Identität und Alterität nicht allein erkenntnistheoretisch, sondern per definitionem politisch zu stellen sind. Solchermaßen ergibt sich eine diskurstheoretisch geprägte Form einer Hegemonietheorie, indem jeder Zugang zur Welt nicht ohne hegemoniale Machtrelationen zu denken ist. Jedwede Rede über Weltaneignung, Identitätsbildung, Kommunikation, Sprache und kolonialistische Strukturen ist eine politische Rede von Machtrelationen. Aus theorietechnischen Gründen ist die Systemtheorie davon befreit, überall zwangsläufig hegemoniale Antagonismen, Gewalt-, Repressions- und Aneignungsrelationen sehen zu müssen. An die Stelle von machtpolitischer Hegemonie setzt die Systemtheorie den „Zusammenhang der Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe mit sozialstrukturellen Plausibilitätsbedingungen“ (Luhmann).

Die Systemtheorie ihrerseits müsste durch ihren postkolonialen Kontakt in die Lage kommen, grundsätzlich ihre eingestandenen und uneingestandenen Prämissen zu überprüfen. An folgende Konstellationen ist beispielsweise zu denken, wobei dabei nicht nur einzelne Positionen, sondern auch die gesamte systemtheoretische Theorieanlage befragt und gegebenenfalls zur Dispostion gestellt werden kann:
– Ist es in der funktional differenzierten Gesellschaft tatsächlich so, dass oppositionelle Unterscheidungen wie bspw. wir/die Anderen keine soziostrukturellen Korrelate (mehr) haben? Ist die Rede von Inklusion/Exklusion, Exklusionsindividualität, Exklusionsbereichen u. ä. m. von kolonialen Unterscheidungen affiziert? Reproduziert Luhmanns These, dass in Exklusionsbereichen nicht die kommunikative Größe Person, sondern alleine die körperliche, triebgesteuerte Existenz relevant ist, schon längst dekonstruierte Zuschreibungsmuster im Hinblick auf koloniale Unterscheidungen wie bspw. zivilisiert/barbarisch, Kultur/Natur, Rationalität/Irrationalität, Kultur/Chaos u.v.m.?
– Ist die von verschiedenen Seiten schon problematisierte Luhmannsche Rede von Exklusions-Räumen im Rahmen einer strikt auf Prozessualität umgestellten Theorie ein Hinweis auf das Nachvibrieren kolonialer Kartographien?
– Ist die Rede von einer Weltgesellschaft affiziert von kolonialen und postkolonialen Kartographien des Grenzenaufbauens und Grenzenauflösens? Wie sehr ist die Rede von einer Weltgesellschaft und ihrer Indifferenz gegenüber lokalen Strukturbildungen darauf angewiesen, dass es im Unterschied zur Weltgesellschaft immer noch kolonial organisierte bzw. beobachtete Mikrogesellschaften gibt?
– Wie verhält sich die postkoloniale These, dass die Moderne der Moderne in ihrer kolonialen Matrix fundiert ist, zu dem Modell einer funktional differenzierten Gesellschaft? Marginalisiert Luhmann den Konnex von kolonialistischem Ethno- als Eurozentrismus, Alteritätsdiskurs und funktionaler Differenzierung? Ist nicht die Rede von Funktion, Differenzierung, Funktionssystemen, Systemrationalität, In/Dividualität, Inklusion/Exklusion, Gesellschaftsstruktur und Semantik eine eurozentrische Rede, die in ihrem blinden Fleck koloniale Konstellationen reproduziert?

Unsere Ausführungen markieren nur einige Aspekte, die mögliche Auseinandersetzungen mit dem Thema skizzieren. Im Hinblick auf die verzweigte Geschichte kolonialer Formationen und die komplexen systematischen und historischen Dispositionen von Postkolonialer Theorie und Systemtheorie (als Differenztheorien) ist an vielerlei Zugänge zu denken. Am Sammelband mitzuwirken, sind alle beteiligten Disziplinen eingeladen: Soziologie, Ethnologie, Historiographie, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Architekturtheorie/soziologie usw. Dabei sind systematisch-konzeptionelle und methodologische Herangehensweisen ebenso willkommen wie historische und/oder empirische Analysen, die sich beispielsweise mit Aspekten wie postklassische Kriege, Migration, Asyl/Flüchtlinge, Globalisierung, Menschenrechte beschäftigen. Auch ist natürlich an Einzeluntersuchungen im Hinblick auf verschiedene ästhetische, kulturelle und mediale Praktiken (Literatur, bildende Kunst, Musik, Tanz, Theater, Internet usw.) zu denken.

Wir bitten um Exposés im Umfang von etwa einer halben Seite bis zum 30. April an beide Herausgeber.

Als Abgabetermin für einen eventuellen Beitrag haben wir den 31. Okt. 2009 vorgesehen.

Daniela Kirschsteinj
Friedrich Schlegel Graduiertenschule
für literaturwissenschaftliche Studien
Freie Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin
daniela.kirschstein@fu-berlin.de

Dr. Mario Grizelj
Institut für Deutsche Philologie
Ludwig-Maximillians-Universität München
Schellingstr. 3 RG
D-80339 München
mario.grizelj@germanistik.uni-muenchen.de

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Mario Grizelj

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