Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung? Hanns Heinz Ewers und die Moderne

Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung? Hanns Heinz Ewers und die Moderne

Veranstalter
PD Dr. Rainer Godel; Dr. Erdmut Jost; Dr. Barry Murnane
Veranstaltungsort
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.06.2011 -
Deadline
30.06.2011
Website
Von
Godel, Rainer

Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung? Hanns Heinz Ewers und die Moderne
CALL FOR ARTICLES
Ziel des Bandes ist es, das literarische, publizistische und filmische Schaffen von Hanns Heinz Ewers (1871-1943) in zentralen Diskursen der ästhetischen Moderne neu zu situieren. Hieraus erwarten wir Rückschlüsse auf die Theoriebildung und -formulierung zur Moderne – nicht zuletzt unter Anschluss an die kritisch zu überprüfende These Andreas Huyssens vom ‚great divide‘. Huyssen zufolge bedarf die kanonisch gewordene Unterscheidung zwischen einer ‚hohen‘ Literatur der klassischen wie avantgardistischen Moderne einerseits und einer für die Massen geschriebenen, ‚rückständigen’ Trivialliteratur andererseits der Korrektur, da diese sich erst a posteriori durch Horkheimer/Adornos These zur Kulturindustrie und mit minimalem Bezug auf die tatsächliche kulturelle Produktion nach 1900 entwickelt habe. Demnach gilt es, diese von der Kritischen Theorie gestützte, in der Literaturgeschichte zur Selbstverständlichkeit gewordene Trennung zwischen seriösem (d.h. formal-komplexem) ‚Modernismus‘ und trivialer (d.h. weniger formbezogener) ‚Populärliteratur‘ anhand von tatsächlichen Texten und Praktiken im Literaturbetrieb nach 1900 zu überprüfen. Zu den zeitgenössischen Bezugsrahmen gehört dabei nicht zuletzt die schon von Walter Benjamin konstatierte Dialektik der Entauratisierung des Kunstwerks, welche – von Adorno als „dialektische Selbstauflösung des Mythos“ verstanden – über vermeintlich etablierte Dichotomien von Authentizität versus Künstlichkeit (Gumbrecht) hinausgeht.

Diese kritischere Sicht auf allzu klar bestimmte Dichotomien schließt eine Neureflexion des Populären ein, das nach Stuart Hall von jeder kulturgeschichtlichen Phase neu verhandelt wird und damit implizite Vorstellungen eines festen, zeitlosen Ensembles des Trivialen bzw. Ästhetisch-Wertvollen hinterfragt. Das bedeutet keineswegs, dass die Kategorien des ästhetisch komplexeren ‚Modernismus‘ (der, mit Baßler, auf Abstraktheit, Selbstreferentialität und Stil setzt) und der Popularisierung (deren Ästhetik auf Verständlichkeit, Unterhaltung und Komplexitätsreduktion beruht) als – auch zeitgenössisch verhandelte – Bezugsgrößen aufzugeben wären. Vielmehr ist mit Fredric Jamesons These von der grundsätzlichen Zusammengehörigkeit populärer und ästhetischer Formen danach zu fragen, wie sich beide aus dem durch die kapitalistische Industrialisierung und Rationalisierung verursachten „breakdown of older realisms“ als unterschiedliche Stellgrößen in der Analyse der Literaturproduktion diskursiv herauskristallisieren. Marshall Berman plädiert folgerichtig dafür, die populären Kulturgegenstände nicht als ‚Massenkultur‘ auszugrenzen, sondern als „modernism in the streets“ neu zu untersuchen, um ihre analogen, aber unterschiedlichen Modellierungen von gesellschaftlicher Modernität genauer herausarbeiten zu können (zu dieser Definition von literarischem Modernismus vgl. Kiesel und Klinger).

Der Vorteil der Modelle Bermans wie Jamesons ist es, dass sie die ästhetische Moderne als Perspektive auf die Erfahrung von Modernität richten. Dadurch lässt sich die in der Forschung dominante Konstruktion binärer Kategorien wie hoch/niedrig, ästhetisch/populär, gut/schlecht, Intelligenz/Masse als nur eine mögliche Antwort auf die empfundene Unmöglichkeit, die historische Totalität der industrialisierten Moderne noch kartographieren zu können, fassen. Denn als Formen des Reflexiv-Werdens der Moderne (Gumbrecht) sind „popular practice“ oder „fetishism of style“ (Daly) gleichermaßen Formen des Modernismus. Damit erweist sich auch die Priorisierung von Stil oder formaler Komplexität als nur eine, durchaus kontingente kulturelle Option. Popularisierung und Ästhetisierung sollten demnach auf ihre verbindenden Momente hin untersucht werden, um die Genealogie des ‚great divide‘ als Kategorie nachzuzeichnen und kritisch zu hinterfragen, damit das Konzept theoretisch geschärft werden kann.

Durch den Fokus auf Ewers lassen sich diese diskursiven Verhandlungen für den Zeitraum zwischen 1900 und 1940 rekonstruieren, um zu untersuchen, (I) welche diskurskonstitutiven Faktoren Kategorisierungs- und Selbstverortungsprozesse inner- oder außerhalb gerade von volatilen Modernekonzepten bestimmen und (II) wie sich die Dichotomie von Ästhetisierung und Popularisierung erfolgreich durchsetzen konnte. Ewers‘ literarische, publizistische und filmische Werke changieren stets zwischen dem Wunsch nach Popularität und dem Anspruch auf ästhetische Innovation. Während seine Zugehörigkeit zur Avantgarde des expressionistischen Films unbestritten ist, wurden Ewers’ literarische Texte schon zu Lebzeiten stets als ‚triviale‘, geschmacklose und auf kommerziellen Erfolg zielende Populärliteratur vom Kanon ausgeschlossen (vgl. z.B. Albert Soergel oder Kurt Tucholskys Rede vom „parfümierten Salonsadisten“). Gerade dieses auf Popularität zielende und doch Ästhetik versprechende Literaturprogramm prägte jedoch auch Formen expressionistischen oder ‚neu-sachlichen‘ Schreibens, ob in Ewers’ frühen kabarettistischen Schaffen mit der „Überbrettl“-Gruppe oder in seinem späteren Beitrag zum aufstrebenden Genre des Sachbuchs. Nimmt man Ewers‘ Karriere genauer in den Blick, dann scheint er eine nicht immer leicht nachvollziehbare Selbstpositionierung zwischen Formen ästhetischer und populärer Modernismen einzunehmen, die zunehmend vom Drang nach populärer Akzeptanz angesichts ausbleibender literaturkritischer Zustimmung gekennzeichnet wird. In dieser Hinsicht ließe sich auch seine Annäherung an nationalistische und früh auch schon an nationalsozialistische Positionen rekonstruieren, wenn auch nicht erklären.

Es geht uns dabei keineswegs darum, den Autor Ewers in irgendeiner Weise zu ‚rehabilitieren’. Dagegen sprechen nicht zuletzt in aller Deutlichkeit seine frühe nationalkonservative Gesinnung wie auch seine Teilhabe an Versuchen nationalsozialistischer Mythenbildung, etwa im verheerenden Horst Wessel-Projekt. Vielmehr soll im Band die spezifische Stellung des Autors und Essayisten Ewers zwischen den Polen Popularisierung und Ästhetisierung in den Blick genommen werden, um das Spektrum der literarischen und essayistischen Reaktions- und Gestaltungsformen der ästhetischen Moderne auszuloten.

Wir freuen uns über Beiträge, die eine oder mehrere der folgenden Fragestellungen aufnehmen:
- Formale Gestaltung von Ewers’ Texten (narrative Strukturen, Figuren) mit Bezug auf formale Bestimmungsversuche des Modernismus
- Ewers’ Phantastik und Kanonisierungsprozesse (z.B. im Autorenlexikon „Führer durch die moderne Literatur“)
- Populäre Moderne: Wie modelliert Ewers die gesellschaftliche Moderne in seinen Werken? (z.B. Stadt, Gewalt, Wissenschaft, Sachbücher)
- Ewers und der Film
- Ewers und die Tradition: Rezeption, Übersetzungen, Selbstpositionierungen (Ewers als Vermittler und ‚Popularisator’ ausländischer (Avantgarde-)Literatur)
- Zeitgenössische Rezeption als Schlüssel zum ‚great divide‘
- Ewers und das literarische Feld (um 1900)
- Ewers und die Politik der Moderne (politische Essayistik, Nationalismus, Nationalsozialismus, Ewers und der Futurismus)
Erbeten werden bis zum 30. Juni 2011 Beitragsvorschläge im Umfang von ca. 500 Wörtern an die Herausgeber; die endgültigen Artikel sollten – nach Annahme des Proposals – bis zum 31. März 2012 vorliegen. Vorschläge in deutscher und englischer Sprache sind willkommen. Die Herausgeber werden zeitnah eine Entscheidung über die Aufnahme in den Band treffen.
Kontakt:
Dr. Erdmut Jost: erdmut.jost@izea.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, Haus 54, 06099 Halle (Saale)
PD Dr. Rainer Godel: rainer.godel@netzwerk-arw.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Landesforschungsschwerpunkt “Aufklärung – Religion – Wissen”, Franckeplatz 1, Haus 24, 06099 Halle (Saale)
Dr. Barry Murnane: barry.murnane@germanistik.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Herweghstraße 96, 06099 Halle (Saale)

Between Popularisation and Aestheticization? Hanns Heinz Ewers and Modernism

CALL FOR PAPERS

We welcome proposals for an edited volume which aims to reconsider and situate Hanns Heinz Ewers’ (1871-1943) literary, journalistic and filmic work within central discourses of social and aesthetic Modernism. We thereby hope to gain new insights into concepts and theoretical (re-)constructions of modernity and Modernism, in particular with reference to Andreas Huyssen’s thesis of the ‘Great Divide’, according to whom, the idea of a now canonical differentiation between – on the one hand – a ‘high’ literature of avant-garde Modernism and a ‘stunted’ popular literature aimed at consumption by the masses – on the other – must be reconsidered. Although Huyssen’s model itself requires critical re-evaluation, his objection to such binaries of high/low is based on the fact that it is in fact an a posteriori construction dependent on Horkheimer/Adorno’s model of the “Culture Industry” which is barely upheld by the actual cultural production since 1900. As such, one needs to question the generally uncritically deployed distinction between serious (i.e. formally complex) ‘Modernism’ and trivial (i.e. less form-intensive) ‘popular literature’ by consulting the actual texts and practices in the literary field after 1900. Contemporary frames of reference include, for example, Walter Benjamin’s proposed dialectics of a de-auratization of the artistic artefact (understood by Adorno as “dialectic self-annihilation of mythology”) which transcends the supposedly established dichotomy of authenticity versus artificiality (Gumbrecht).
Our proposed more critical view of these almost too clear-cut dichotomies demands reconsidering the field of the popular which according to Stuart Hall is constantly renegotiated by each successive cultural era, thus calling into question the concept of a solid, timeless ensemble of ‘trivial’ vs. ‘aesthetically valuable’. This does not mean that the categories associated with aesthetically complex ‘Modernism’ (defined with Baßler as being based on abstractness, self-reflexivity and style) and popularity (with an aesthetics based on comprehensibility, entertainment and reduced complexity) should be abandoned entirely as (historically deployed) frames of reference. Following Fredric Jameson’s idea of a fundamental connectedness of popular and aesthetic forms, we instead propose analysing how both emerged as different ‘control values’ in the discourses of literary production and analysis after the “breakdown of older realisms” in the wake of capitalist industrialisation and rationalisation in the 19th century. Thus Marshall Berman has argued that popular cultural artefacts should not be rejected as ‘mass-cultural’ trash, but should rather be re-interpreted as “Modernism in the streets” in order to compare their structurally similar – yet also different – models of social modernity more thoroughly (see Kiesel and Klinger on this definition of literary Modernism).
The advantage of Berman’s and Jameson’s models is that they define aesthetic Modernism as a perspective on the experience of modernity. This implies that the previously dominant critical construction of binary categories such as high/low, aesthetic/popular, good/bad, intelligentsia/masses become visible as only one possible response to the perceived difficulties in charting the historical totality of industrialized modernity. If Modernism is defined as a “reflective response” to modernity (Gumbrecht), then “popular practice” and “fetishism of style” (Daly) may both be considered as forms of Modernism. This means that the prioritizing of style or formal complexity is only one, highly random cultural option. Popularization and aestheticization need to be analysed in terms of this interconnectedness in order to trace the genealogy of the ‘great divide’, in order to subject this categorization to critical enquiry, and thus make it more useful as a critical concept to define Modernism.
The focus on Hanns Heinz Ewers has been chosen in order to reconstruct historically these discursive negotiations between 1900 and 1940 and thus to study (I) which constitutive factors influence these described processes of categorization and self-fashioning both within and beyond the volatile concepts of modernity and (II) how the dichotomy of popularization/aestheticization established itself as such a successful option. Ewers’ literary, journalistic and filmic work switches constantly between a desire for popularity and the claim to aesthetic innovation. While his position in the avant-garde of Expressionist cinema is commonly accepted, Ewers’ literary works were immediately criticised as ‘trivial’, tasteless and commercially oriented popular literature and thus expelled from the literary canon (see for example Albert Soergel or Kurt Tucholsky’s charge of “parfümierten Salonsadisten”). The modernist styles of Expressionism and New Sobriety are, however, unthinkable without the influence of the such literary programmes of popularity and aestheticism evident in Ewers early cabaret work with the “Überbrettl”-group or in his pioneering contribution to the early history of non-fictional popular-science writing. If one looks more carefully at Ewers’ career, then he seems to occupy a complex self-fashioning between forms of aesthetic and popular Modernisms which becomes increasingly dominated by the drive for popular acceptance as a result of almost non-existent critical approval. This is also one way of reconstructing – if by no means explaining – his early involvement with nationalist and indeed National Socialist positions.
We are absolutely not interested in ‘rehabilitating’ Ewers as an author in any form; such an interest can only be rejected on the basis of his early conservative nationalist mentality and his willingness to assist in National Socialist self-mythologizing with the deplorable Horst Wessel-project. We are, however, interested in looking more closely at the specific position of the author and essayist Ewers between the poles of popularization and aestheticization in order to chart the spectrum of literary and essayist forms of aesthetic modernization.
We invite contributions which address one or more of the following questions:
- the formal qualities of Ewers’ texts (narrative structures, characters etc.) in relation to attempts to formally categorize Modernism
- Ewers’ fantastic literature and processes of canonization (e.g. in the encyclopaedia “Führer durch die moderne Literatur”)
- Popular Modernism: how does Ewers depict social modernity in his works (e.g. urbanization, violence, science, popular-science writing)
- Ewers role in early film history
- Ewers and (literary) tradition: reception, translations, self-fashioning, cultural transfer (i.e. Ewers’ role in mediating and popularizing foreign (avant-garde) literature)
- Contemporary patterns of critical reception as a key to the ‘great divide’
- Ewers and the literary field (around 1900)
- Ewers and the politics of modernity (political essays, nationalism, National Socialism, Ewers and futurism)

Abstracts of ca 500 words in length and in either English or German are kindly requested by the editors before 30th June 2011; final submission of essays is planned for 31st of March 2012. The editors will determine the successful proposals and inform their authors as soon as possible.

Contact:
Dr. Erdmut Jost: erdmut.jost@izea.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, Haus 54, 06099 Halle (Saale)
PD Dr. Rainer Godel: rainer.godel@netzwerk-arw.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Landesforschungsschwerpunkt “Aufklärung – Religion – Wissen”, Franckeplatz 1, Haus 24, 06099 Halle (Saale)
Dr. Barry Murnane: barry.murnane@germanistik.uni-halle.de, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Herweghstraße 96, 06099 Halle (Saale)

Programm

Kontakt

Rainer Godel

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
ENW "Aufklärung - Religion - Wissen"

rainer.godel@netzwerk-arw.uni-halle.de


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