Diesseits des Virtuellen - Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert

Diesseits des Virtuellen - Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert

Veranstalter
Urs Büttner, Mario Gotterbarm, Frederik Schneeweiss, Stefanie Seidel, Marc Seiffarth
Veranstaltungsort
Forum Scientiarum der Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2012 - 07.10.2012
Website
Von
Urs Büttner

In der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung ist die Veränderung der ‚selbstverständlichen‘ Schreibmedien unter den Stichworten der Digitalisierung, der Virtualisierung oder des Schreibmaschinen- bzw. Computerzeitalters bereits genauer untersucht worden. Warum es aber immer noch üblich ist, etwa eine Signatur handschriftlich zu leisten, bleibt in solchen ‚Genealogien des Schreibens‘ meist ungeklärt. Welche Rolle also spielt Handschrift im digitalen Zeitalter? Was passiert mit Medien, wenn sie nicht mehr Leitmedien sind?

Antworten zur neuen kulturellen Bedeutung der Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert möchte unsere Tagung suchen. Die Vermutung ist dabei, dass die Handschrift, entlastet von einem Gebrauch als fragloser alltäglicher Nutzanwendung, eine mehrdimensionale Aufwertung erfährt. Indem sie sich der Einförmigkeit maschinenschriftlicher Buchstaben widersetzt, macht sie über die bloße Aussage des Geschriebenen hinaus die Materialität des Mediums und den Akt des Schreibens wieder sichtbar. Während etwa Computerschrift den Schreibakt unsichtbar hält, ist es das Versprechen der Handschrift, nicht bloß das Resultat darzubieten, sondern den Schreibakt mitzurepräsentieren. In diesem Sinne ,de-virtualisiert' die Handschrift das Medium und mithin die Bedeutungsgebung.

Dazu zählen produktiv Verwendungszusammenhänge, in denen Authentifizierungen'geleistet werden sollen (z.B. Unterschrift, Liebesbriefe) und Tiefenhermeneutik der indexikalischen Zeichen betrieben werden soll (z.B. graphologische Untersuchungen handgeschriebener Lebensläufe) oder auf einen ästhetischen Mehrwert (z.B. bei Kalligraphie, Tätowierung) gezielt wird. Komplementär gehören dazu auch Anpassungsstrategien des Handschreibens, die diese Rezeptionserwartungen bereits antizipieren (z.B. Einsatz von Handschrift in der Werbung). Kompensatorisch begegnet das Arrangement des Schreibens mit der Hand als ,Wiedereintritt' in digitale Medien, um Unmittelbarkeit zu erzeugen (z.B. als ,Desktop‘ auf dem Computerbildschirm oder in Gestalt von ,Mausgesten‘ oder eines ,Stilus‘ zur Bedienung von Touch-Screens, Palms oder Tablets). Gemeinsam ist diesen Verwendungskontexten der Handschrift die Vorstellung einer wechselseitigen Durchdringung der Körperlichkeit des Schreibenden und der Materialität des Geschriebenen.

Drei Sektionen sollen das Programm der Tagung gliedern:

„Schreiben“ nimmt den körperlichen Akt als prozesshaftes und performatives Geschehen der Literaturproduktion in den Blick.

„Schrift“ widmet sich dem literarischen Produkt und sich daran anknüpfenden Vorstellungen von Sinnpräsenz.

„Beschreibungen“ will das Phänomen in einen weiteren Kontext von Populärkultur und Musealisierung stellen.

Programm

TAGUNGSPROGRAMM

Freitag, 5. Oktober

14.00 Uhr Begrüßung und Einführung

Sektion I: Schreiben

14.30 Uhr
Dr. Till Heilmann, Medienwissenschaft, Universität Basel
Hand und Algorithmus

15.15 Uhr
Matthias Focks M.A., Germanistik, Universität Tübingen
Handschrift als Medium der Präsenz

16.30 Uhr
Jacob Haubenreich PhD, Germanistik, University of California/Berkeley
Das virtuelle Manuskript. Rilkes Handschrift und die Auflösung der Druckseite

17.15 Uhr
Stefanie Seidel M.A., Germanistik, Universität Göttingen
Handschrift und Fingerabdruck. ‚Digitales‘ um 1900

20.15 Uhr
Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Allg. und Vergl. Literaturwissenschaft, Universität Bochum
Fingierte Handschriften. Über (Pseudo-)Faksimiles als literarisches Dispositiv

Samstag, 6. Oktober

Sektion II: Schrift

9.00 Uhr
Mario Gotterbarm M.A., Germanistik, Universität Tübingen
Die ethischen Implikationen des Schreibens von Hand am Beispiel W. G. Sebalds

9.45 Uhr
Susanne Dorendorff, Europäisches Institut für Handschrift und Philographie, Hamburg
Schreibschrift und ihre Bedeutung in Schule und Beruf

11.00 Uhr
Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach, Medienwissenschaft, Universität Tübingen
Handschrift und Lebensform

11.45 Uhr
Dr. des. Urs Büttner, Germanistik, Universität Hannover
Absteigesysteme 1907-1914. Handschrift und Alpinismus in Thomas Manns „Zauberberg“

14.00 Uhr
Prof. Dr. Sandro Zanetti, Allg. und Vergl. Literaturwissenschaft, Universität Zürich
Heiner Müller und das Ende der Handschrift

14.45 Uhr
Frederik Schneeweiss M.A., Germanistik, Universität Tübingen
Innerhalb und außerhalb der Schrift. Utopien und Aporien des Musikalischen im Werk von Gert Jonke

16.00 Uhr
Prof. Dr. Oliver Ruf, Digitale Medien, Hochschule Furtwangen
‚Bewegtes‘ Schreiben: Multimediale Schrift zwischen Wissensdesign, medientechnischer Materialität und virtuellem Ereignis

Sektion III: Beschreibungen

16.45 Uhr
Ilka Brasch MA, Amerikanistik, Universität Hannover
Zur Handschrift in Hollywood – Technischer Fortschritt, Medienkonkurrenz und Authentizität

Sonntag, 7. Oktober

9.00 Uhr
Sandra Oster M.A., Buchwissenschaft, Universität Mainz
Autograf und Autorenfoto – mediale Interaktion von Handschrift und Fotografie

9.45 Uhr
Marc Seiffarth M.A., Germanistik, Universität Tübingen
Die Handschrift des Krieges. Analoge Urszenen digitaler Datenverarbeitung

Kaffeepause

11.00 Uhr
Prof. Dr. Stefan Rieger, Mediengeschichte und Kommunikationstheorie, Universität Bochum
Hirnschrift und Nationalstenographie. Schreibprojekte zwischen Körperausdruck und Zeicheneffizienz

11.45 Uhr
Schlussdiskussion

Kontakt

Urs Büttner

Universität Tübingen, Deutsches Seminar, Lehrstuhl Braungart
Wilhelmstrasse 50, 72074 Tübingen

handschrift2012@googlemail.com