Die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise hat in dramatischer Weise gezeigt, dass der Staat ein zentraler Akteur im Wirtschaftssystem ist. Dies betrifft nicht nur die Funktion des Staates für die Wirtschaftspolitik, sondern auch seinen großen Anteil am Volkseinkommen sowie seine Rolle als Gläubiger und Schuldner. Dabei ist es historisch betrachtet höchst variabel, wie Staaten ihre Einnahmen generieren und welche Absichten sie bei den Ausgaben verfolgen. Für die Zeit seit den 1970er-Jahren ist vielfach von einem Bedeutungsverlust des Nationalstaates die Rede.
Ein wesentliches Ziel der Tagung ist es, diese These zu überprüfen und das Ausmaß der Veränderungen am Beispiel des Staatshaushaltes zu diskutieren. Gleichzeitig wird gefragt, inwiefern sich die Diskussionen über das Ende des Nationalstaates auf die Staatsvorstellungen und das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ausgewirkt haben. Diesen Fragestellungen möchte die Tagung anhand einer Untersuchung der öffentlichen Finanzen in den westlichen Industrienationen nach dem Boom nachgehen.
In der Forschung ist man sich weitgehend einig, dass die Zeit Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre eine Zäsur in der Geschichte der westlichen Industriestaaten bildet. Im Rahmen dieser Periodisierung spielt die Ölkrise 1973 eine wichtige Rolle, in deren Folge auch der Glaube an einen durch staatliche Steuerung von Krisen befreiten Kapitalismus zumindest kurzfristig zerbrach. Ein Effekt der Krise dokumentiert sich im verlangsamten Wirtschaftswachstum in den westlichen Industriestaaten. Für die Charakterisierung der Phase der letzten drei Jahrzehnte in Westeuropa sind ferner so heterogene Prozesse und Ereignisse wie die dritte industrielle Revolution, die zweite Welle der Globalisierung, die Auflösung des Bretton-Woods-Systems, das Ende des Ost-West-Konfliktes, das Voranschreiten der Europäisierung, Diskussionen über die Postmoderne und eine anschwellende Staatskritik von Bedeutung.
Eine zentrale Frage der Konferenz lautet: Welche Folgen hatten die sich wandelnden Bedingungen für die staatliche Finanzpolitik in den westlichen Industrienationen? Führten diese zu schnellen Veränderungen, oder dominierte ein Festhalten am bis dahin entwickelten System mit schrittweisen Anpassungsreaktionen? Inwieweit entstand bei Finanzbeamten und Politikern hin-sichtlich des Staatshaushaltes der Eindruck einer notwendigen Veränderung, einer Krise des Althergebrachten? Während die vereinzelten historischen Arbeiten und Projekte zum Untersuchungszeitraum sich vor allem dem Wandel in der Privatwirtschaft oder in den Parteien zuwenden, fragt die Konferenz auch nach den Auswirkungen auf den Staatshaushalt und nach dem Verhältnis von Staat und Bürger, also nach dem Staatsverständnis insgesamt.
Dies führt gleichsam zu der Frage der Gerechtigkeit. Dabei steht jedoch bei der Konferenz die Frage nach dem Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. Geht man von den drei Musgrav’schen Staatsaufgaben aus, dann spielen Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit bei der Distribution eine zentrale Rolle, während es bei der Allokationsfunktion Begriffe wie Effizienz und Wirtschaftlichkeit sind, welche die Diskurse und Handlungsstrategien leiten. Im Rahmen der Konferenz wird danach gefragt, welche Maßnahmen die Beteiligten als wirtschaftlich und welche als ökonomisch betrachteten und ob es über die Zeit hinweg zu Verschiebungen kam. Ebenso soll untersucht werden, inwieweit Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit in den Debatten als komplementär oder gegensätzlich diskutiert wurden. Gleichzeitig wird in der Analyse aber bewertet, inwiefern sich die verschiedenen Steuersysteme jeweils als wirtschaftlich und/oder gerecht erwiesen haben und ob es im Zeitverlauf eine Verschiebung zu einem der Ziele gab.
Die Konferenz ist interdisziplinär organisiert. Vertreten sind die Fächer Soziologie, Politologie sowie die Geschichts- und die Wirtschaftswissenschaften. Die Konferenz ist zudem transnational und vergleichend angelegt, wohingegen sich der Großteil der bisherigen historischen Forschung zum Zeitraum nach dem Boom auf jeweils einen Nationalstaat konzentriert. Jedoch ermöglicht erst eine vergleichende Analyse mehrerer Nationalstaaten zu bestimmen, wie stark die Zwänge der Globalisierung wirkten und wie groß der nationale Handlungsspielraum war. Der komparative Ansatz erhellt, in welchen Bereichen über nationale Grenzen hinweg konvergente Entwicklungen stattfanden, klärt aber auch, wo Differenzen bestehen blieben. Zudem lässt sich feststellen, ob bereits vor 1973 bestehende nationale Unterschiede zu unterschiedlichen Antworten auf die Krise führten. Dass viele der seit 1973 verstärkt auftretenden Probleme der öffentlichen Finanzen – wie beispielsweise die steigende Staatsverschuldung oder die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Besteuerung mobilen Kapitals – von ungebrochener Relevanz sind, unterstreicht die Bedeutung einer interdisziplinären Untersuchung.