"Flucht und Vertreibung" gehört zu den Schlüsselereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Mit dem Begriff werden nicht nur die unterschiedlichen Erfahrungen der Zwangsmigration von ca. zwölf Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnet, sondern auch ihre vielfältigen Lebenswege in den Aufnahmegesellschaften von Ost- und Westdeutschland gefasst. Darüber hinaus subsumiert das Begriffspaar die soziostrukturellen und politischen Nachwirkungen des Verlusts der historischen deutschen Siedlungsgebiete und Territorien in Osteuropa. "Flucht und Vertreibung" ist also eine "Chiffre" (Beer 2011) oder gar ein "Mythos" (Hahn/Hahn 2011), der im Mittelpunkt zahlreicher deutscher Selbstverständigungsdebatten seit Kriegsende steht.
Eine Folge der jüngsten Debatten seit 2002 waren zahlreiche Forschungen zur Rolle von Medien in den politischen Auseinandersetzungen um "Flucht und Vertreibung" und zum Beitrag der Medien zur Erinnerungskultur (resümierend Scholz/Röger/Niven 2014). Doch interessanterweise fehlen Studien zum Radio, obwohl der Hörfunk im Medienensemble lange Zeit eine herausragende Rolle spielte (nun Marszolek 2014, Hilgert 2014, Badenoch/Wagner 2013). Unser Workshop sondiert, welche Forschungen in diesem unterbelichteten Feld voranzutreiben sind und welche Quellenbestände zur Verfügung stehen. Dazu sollen Forschungsskizzen zu deutschen und ggf. europäischen Rundfunkgeschichten von "Flucht und Vertreibung" diskutiert werden. Wir laden alle KollegInnen ein, die an Forschungskooperationen interessiert sind, darunter insbesondere NachwuchswissenschaftlerInnen sowie VertreterInnen von Museen, Sendeanstalten und Archiven. Der Workshop dient vor allem auch dem Austausch über Quellen, weshalb Werkstattberichte von ArchivarInnen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten vorgestellt werden.
Forschungsskizzen können Fragen wie diese behandeln: Konnte das Radio nach 1945 für die heimatlosen Vertriebenen im "doppelten Deutschland" (Wengst/Wentker 2008) eine integrative Funktion übernehmen? Welche Programmangebote entwickelten Radiomacher für die Vertriebenen und welche über sie? Wie klingt eine Flucht? Wie Heimatlosigkeit? Welchen "Sound" hat eine Ankunft in der Fremde? Wer waren die Akteure (Programmdirektoren, Autoren, Sprecher etc.) der einschlägigen Rundfunkprogramme? Immerhin gehörten zu ihnen so prominente Gestalten wie Herbert Hupka, der 1945 bis 1957 bei Radio München/beim Bayerischen Rundfunk und anschließend zwei Jahre lang für Radio Bremen entsprechende Sendungen gestaltete. Welche Wandlungen und ggf. Periodisierungen lassen sich im Sendeangebot, in der Gestaltung und auch in der Rezeption im Verhältnis zu anderen Medien der Erinnerung an Flucht und Vertreibung ausmachen?
Die Skizzen können geschichtswissenschaftliche, kommunikations- und medienhistorische sowie sound-geschichtliche Ansätze aufgreifen. Eine interdisziplinäre Annäherung ist willkommen. Radiogeschichten von "Flucht und Vertreibung" können als Programm- und Aneignungsgeschichten, Institutionen-, Gremien- und Politikgeschichten sowie Netzwerkgeschichten erzählt werden. Die Nachgeschichte von "Flucht und Vertreibung" wird so zu einer Verflechtungsgeschichte von Medienmachern, Verbandsvertretern, Politikern und gesellschaftlichen Akteuren. Dabei interessiert die bundesrepublikanische Nachgeschichte ebenso wie diejenige der "Umsiedlung" in der DDR, denn die deutsch-deutschen Rundfunklandschaften waren konkurrierend miteinander verflochten. Der Workshop richtet seinen Blick auch auf andere europäische Länder und ihre Rundfunkgeschichten der Vertreibung der Deutschen. Entsprechend sind Vorschläge zu solch einflussreichen Akteuren wie "Radio Free Europe", aber auch zu polnischen, tschechoslowakischen oder auch sowjetischen Radiostationen sowie des westlichen Auslands willkommen.