Ein „Trend“ ohne „Turn“? Neue Perspektiven auf die Organisationsgeschichte

Ein „Trend“ ohne „Turn“? Neue Perspektiven auf die Organisationsgeschichte

Veranstalter
Marcus Böick, Ruhr-Universität Bochum, Historisches Institut, Lehrstuhl für Zeitgeschichte; Henning Borggräfe, International Tracing Service Bad Arolsen, Abteilung Forschung und Bildung
Veranstaltungsort
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2015 - 04.07.2015
Deadline
15.03.2015
Website
Von
Marcus Böick

Ein wichtiger und wachsender Teil der historischen Forschung zur deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht aus der Beschäftigung mit der Geschichte einzelner Organisationen. Einerseits hängt dies mit der unbestreitbar großen Bedeutung von Organisationen in den europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zusammen. Wo immer Menschen in den verschiedensten Kontexten interagierten, taten sie dies sehr häufig in und mit Organisationen. Seien es die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust oder anderer Massenverbrechen, Aspekte der Wissenschaftsgeschichte und der Verwissenschaftlichung des Sozialen oder Transformationen im Übergang von ökonomischen und politischen Systemen – ohne die Untersuchung von Organisationen können derartige historische Prozesse oft kaum hinreichend beschrieben werden. Andererseits resultiert die gegenwärtige Bedeutung der historiographischen Beschäftigung mit Organisationen auch aus der sich wandelnden Struktur universitärer Forschungsfinanzierung. Denn die wachsende Relevanz von Drittmittelprojekten führt nicht zuletzt dazu, dass sich immer mehr Historiker/innen bereiterklären, Aufträge verschiedenster Organisationen zur Erforschung ihrer Geschichte anzunehmen. Dies zumal nach der Welle unternehmenshistorischer Studien um die Jahrtausendwende derzeit diverse Auftragsforschungen zu Ministerien und Behörden erneut zeigen, dass solche Projekte den Historikern oft auch große öffentliche Aufmerksamkeit versprechen.

Bemerkenswerterweise ging diese Entwicklung bislang jedoch kaum mit einer theoretischen und methodischen Reflexionen darüber einher, was Historiker/innen eigentlich tun, wenn sie „die“ Geschichte(n) von Organisationen erforschen. Dies ist bereits daran erkennbar, dass der Begriff Organisation in der Regel gar nicht erst definiert und häufig – und scheinbar beliebig – auch synonym zum Begriff der Institution verwendet wird. Im Gegensatz zu anderen disziplinären Feldern, die mehrere Jahrzehnte nach den verschiedenen „cultural turns“ mittlerweile auf einem oft breiten Debattenfundament aufruhen, wird die neue organisationshistorische Forschung kaum durch methodische Reflexionen begleitet: Die Historiker/innen entsprechen ihrem „Forschungsauftrag“ zumeist vermittels eines pragmatischen Empirismus: Forschergruppen und -kommissionen arbeiten sich mit den von der Organisation bzw. genauer: von der Organisationspitze produzierten und archivierten Quellenmaterialien an einer übergeordneten, meist vorgegebenen und nicht selten stark geschichtspolitisch eingefärbten Fragestellung ab. Verbunden ist diese Konstellation mit all den Fallstricken, die aus dem Bereich der Unternehmensgeschichtsschreibung bestens bekannt sind: Inwiefern und wodurch übt die Organisation Einfluss auf ihre Erforschung aus? Wie steht es um die Handlungsfreiheit der von der Organisation finanzierten Historiker/innen? Welche Materialien werden freigegeben, welche nicht? Werden mögliche Akzentverschiebungen im Forschungsprojekt toleriert oder verhindert?

Bestenfalls erschöpft sich die methodische Diskussion über den Forschungsgegenstand darin, die Unabhängigkeit der eigenen Untersuchung herauszustellen. Dagegen scheint bei diesen Projekten kaum die Gelegenheit bzw. Möglichkeit zu tieferen methodischen Reflexionen zu bestehen, die über die Klärung dieser selbstverständlich wichtigen Frage hinausreichen. Damit droht die Geschichtswissenschaft derzeit jedoch eine große Chance zu verpassen, nicht nur die eigene Beschäftigung mit Organisationen eingehender zu reflektieren und theoretisch-methodisch weiterzuentwickeln, sondern auch in einen Dialog mit anderen Disziplinen einzutreten, von deren theoretischen Überlegungen und methodischen Ansätzen sie profitieren, die sie zugleich aber auch durch eine genuin historische Perspektive bereichern könnte. Insbesondere die Diskussionen in Nachbardisziplinen wie der Soziologie sowie den Wirtschafts-, Kommunikations-, Politik- und Verwaltungswissenschaften, in denen teils sogar eigene Subdisziplinen zur Erforschung von Organisationen existieren, werden bisher kaum zur Kenntnis genommen.

Ausgehend von der skizzierten Situation wird mit dem Workshop einerseits eine kritische Bestandsaufnahme der historiographischen Beschäftigung mit Organisationen angestrebt. Vor allem soll der Workshop jedoch dazu dienen, um anhand konkreter historischer Fallstudien die Potenziale der Adaption verschiedener Ansätze aus den Nachbardisziplinen und Ansatzpunkte für die Entwicklung eines genuin historiographischen Zugriffs zu diskutieren. Hiermit sind die zwei Leitfragen des Workshops angeschnitten: Erstens soll geklärt werden, wie Historiker/innen bislang und derzeit die Geschichte von Organisationen untersuchten und untersuchen. Welche (impliziten) Organisationsbegriffe legen sie zugrunde? Auf welche Quellen greifen sie für ihre Forschungen zurück? Worauf genau richtet sich eigentlich der Blick, wenn Organisationen erforscht werden? Und wie verfertigen und strukturieren die Organisationshistoriker schließlich ihre Erzählungen?

Zweitens sollen im Anschluss an eine solche Bestandsaufnahme zwei zentrale theoretisch-methodische Herausforderungen für eine jede Organisationsgeschichte explizit adressiert werden: zum einen die Untersuchung der inneren (Un-)Ordnung von Organisationen als (selbstreferentielle) Sozial- und Kulturformationen. Zum anderen die Untersuchung des Verhältnisses von Organisationen zu ihrer Umwelt, womit neben Fragen der Einbettung auch die Frage aufgeworfen wird, ob und wie sich Wirkungen von Organisationen auf ihre Umwelt untersuchen lassen. Mit dieser doppelten Perspektive sollen die prinzipiellen Relationen von „oben“ und „unten“ sowie von „innen“ und „außen“ konzeptionell überkreuzt werden, um Organisationen explizit als distinkte „Gesellschaften“ innerhalb von noch komplexeren „Gesellschaften“ begreifen zu können.

Der Workshop richtet sich explizit an Historiker/innen, die sich in ihren Forschungen mit Organisationen befassen und dabei idealerweise eine empirische Bestandsaufnahme mit methodischen Reflexionen verknüpfen können. Jede/r Beiträger/in wird darum gebeten, vorab ein kurzes Paper einzureichen, das dann gemeinsam diskutiert werden soll. Interessenten richten ihre Themenvorschläge in Form eines kurzen Exposés bitte bis zum 15.3.2015 an marcus.boeick@rub.de!

Programm

Kontakt

Marcus Böick
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Geschichtswissenschaften
Historisches Institut
Lehrstuhl für Zeitgeschichte
Universitätsstraße 150
44780 Bochum