Auf den ersten Blick sprachen Verlauf und Ende des Ersten Weltkriegs mit der Auflösung der kontinentaleuropäischen Imperien für einen Triumph der „westlich“ konnotierten Demokratie im Gehäuse von Nationalstaaten. Den autoritären Regimes des Deutschen Reiches, des Zarenreichs, der Habsburgermonarchie wie des Osmanischen Reichs konnte man dieses Modell wirkungsvoll entgegensetzen. Die Suggestionskraft des mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson seit 1917 identifizierten Rechts auf nationale Selbstbestimmung ergab sich vor diesem Hintergrund aus der neuartigen Verbindung zwischen kriegerischer Gewalt im Namen demokratischer Partizipation und einem Ideal nationaler Homogenität, die ein Ende aller Kriege versprach.
Langfristig brachte diese Verknüpfung aber nicht das Ende des Krieges, wie dies in der Hoffnung ausgedrückt worden war, der ungeheure Blutzoll der zurückliegenden Jahre diene einem „war to end all wars“ (H. G. Wells). Aus den Konflikten um eine neue Ordnung der Welt entstanden vielmehr neue Gewalterfahrungen in Europa, aber auch weit darüber hinaus. Sie reichten von Auseinandersetzungen zwischen neu begründeten Nationalstaaten und Bürgerkriegen bis zu antikolonialen Aufständen, Vertreibungen und ethnisch begründeter Gewalt. Diese Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die Verlängerung des Krieges in den Frieden hinein, sollte zu einem Kennzeichen der globalen Nachkriegsperiode werden.
Sieht man aus dieser Perspektive auf den 11. November 1918, so beendete der Waffenstillstand einen Krieg zwischen Staaten im Westen Europas, aber er unterbrach nicht das Kontinuum der Gewalt an vielen anderen Orten der Welt: in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, in der Zerfallszone der multiethnischen Großreiche Russlands, Habsburgs und des Osmanischen Reichs, wo der Staatenkrieg zum Staatszerfall führte, wo der Weltkrieg in Bürgerkriege und ethnische Konflikte überging, die Front in einen Gewaltraum, in dem die Grenzen zwischen Soldat und Zivilist fließend wurden. Und der bis in die Gegenwart reichende eurozentrische Fokus auf den 11. November 1918 verdeckt auch die Entstehung ganz neuer Gewaltzentren: innerhalb Europas in Irland, wo mit dem Kriegsende der Bürgerkrieg einsetzte, in Polen oder im Baltikum, aber auch in Ägypten, im Nahen und Mittleren Osten, in Asien und in Indien, wo es 1919 zum Massaker von Amritsar kommen sollte.
Damit stellte die Phase nach 1918 einen einzigartigen Moment der Verdichtung von Erfahrungen und der Beschleunigung von Erwartungen dar. Einerseits ergaben sich für die Akteure durch die Friedenskonferenzen und die seit 1917 konkurrierenden Ordnungsmodelle vielfache Verbindungen und Kontakte sowie transnationale Bezüge. Andererseits bildeten die Konflikte auch ganz spezifische Kontexte ab. Diese Spannung aus globalen Erwartungen und je lokalen Konstellationen war für die Nachkriegsphase charakteristisch und stand vielfach hinter der chronologischen Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen.
Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt für die Tagung „Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt“. Sie beschäftigt sich mit den globalen Ordnungsmodellen, den auf sie bezogenen Erwartungen im Kontext der Friedenskonferenzen seit 1919 und der Rückwirkung dieser globalen Momente auf Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften. Dabei stehen die folgenden Leitfragen im Mittelpunkt:
- Welche unterschiedlichen Ordnungsmodelle entwickelten sich im Kontext der Pariser Friedenskonferenzen 1919, und wie wirkten diese aufeinander?
- Wie bildeten sich in diesen Ordnungsvorstellungen die „glokalen“ Erfahrungen und Erwartungen ab, die sich aus Krieg und Nachkrieg ergaben?
- Was bedeutete die Umsetzung von Ordnungsvorstellungen in der Praxis?
- Wie wirkte sich die Konkurrenz von unterschiedlichen Ordnungsmodellen und ihren Interpretationen konkret aus, und was bedeutete sie langfristig für unterschiedliche Nachkriegsgesellschaften?
- Wie wirkten unterschiedliche Gewalterfahrungen nach 1918 auf das zeitgenössische Ordnungsdenken zurück?
Diese Fragen sollen anhand von vier thematischen Dimensionen genauer in den Blick genommen werden:
(1) Grenzen und Räume – Territorialität und Nationsbildungen im Zeichen des Gewaltkontinuums
(2) Kolonialkritik und Antikolonialismus – Globale Modelle und lokale Kontexte
(3) Neue Internationalismen – Ordnungsmuster kollektiver Sicherheit und internationaler Kooperation
(4) Partizipation und Versorgung – Massendemokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit als neue Ordnungsversprechen
Die Veranstaltung wird gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung.