Interesse ist ein allgegenwärtiger, aber selten klar definierter Begriff – und dass obwohl er eine zentrale Rolle in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, wie den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, den Politikwissenschaften (insbesondere den Internationalen Beziehungen), der Philosophie und der Geschichtswissenschaft spielt. Die moderne Sicht ist dabei stark geprägt von einem wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis vom Eigeninteresse als Faktor zur Erklärung menschlichen Handelns. Gerade die Soziologie und die Politikwissenschaften versuchen jedoch die Perspektive zu weiten und einen umfassenderen Interessensbegriff zu nutzen, der alle Aspekte menschlichen Handelns erfasst. Im Feld der Internationalen Beziehungen wiederum domminierte lange ein Verständnis von Interesse als scheinbar objektiver Kategorie mittels dessen sich zwischenstaatliches Handeln kalkulieren lässt. Heute wird hingegen zumeist davon ausgegangen, dass Interessen von Regierungen und politischen Akteur:innen definiert werden, sie also von den jeweiligen Normen und Werten geprägt sind und dem Wandel unterliegen.
Tatsächlich geht die Verwendung von Interesse als analytisches Konzept ins 17. Jahrhundert zurück. Zu dieser Zeit wurde der Begriff, der seinen Ursprung im Römischen Recht im Sinne von Schadenersatz (id quod interest) hat, politisiert. Italienische und französische Autoren, wie Giovanni Botero, Francesco Guicciardini, Henri de Rohan und La Rochefoucauld, verwendeten den Begriff im Kontext von Staatsräson-Diskursen und nutzten in zur Analyse frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. Henri de Rohan erklärte in seinem berühmten und in verschiedene Sprachen übersetzten Traktat De l’Intérest des Princes et Estats de la Chrestienté (1639), dass sorgfältig abgewogene Interessen als Leitlinien der Politik den Leidenschaften eines Herrschers vorzuziehen seien und damit das Handeln der Akteure scheinbar berechenbar und kalkulierbar machten.
Der Workshop möchte die verschiedenen Verwendungen von Interesse in der Frühen Neuzeit untersuchen, d.h., es sollen die unterschiedlichen Diskurse (Ökonomie, Moraltheologie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Außenbeziehungen, Ratgeber-Traktate), in denen der Interessensbegriff auftaucht, und ihre Verbindung zueinander untersucht werden. Inwiefern war z. B. der Interessensdiskurs mit dem Diskurs um das Gemeinwohl verknüpft? Welchen Einfluss hatte die ursprünglich ökonomische Bedeutung? Unterschieden sich die theoretischen Reflexionen zum Interessenbegriff und der praktische Gebrauch beispielsweise in diplomatischen Korrespondenzen?
Entsprechend sind Beiträge aus verschiedenen Disziplinen willkommen, z. B. aus den Geschichtswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, Philosophie, Rechtsgeschichte. Beiträge, zu den folgenden Themenfelder sind dabei von besonderem Interesse:
(1) die verschiedenen zeitgenössischen theoretischen Diskurse
(2) die Verwendung des Interessensbegriff in der Praxis (Diplomatie, Wirtschaft, Verfassungsrecht, etc.)
Außerdem sind Beiträge willkommen, die sich
(3) auf einer methodischen Ebene mit dem Interessensbegriff und seinem analytischen Potential auseinandersetzen.
Einreichungen von Wissenschaftler:innen aller Qualifikations- und Karrierestufen sind herzlich willkommen! Bitte schicken Sie ein Abstract von ca. 300 Wörtern sowie einen kurzen CV bis 18. April 2021 an lena.oetzel@oeaw.ac.at. Eine Auswahl der Beiträge wird bis Anfang Mai erfolgen.
Der Workshop ist als online Veranstaltung geplant. Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Die Vorträge sollten ca. 20 Minuten plus Diskussion dauern. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist geplant.
Der Workshop findet im Rahmen des vom FWF geförderten Elise-Richter-Projekts „Interessengeflechte am Westfälischen Friedenskongress“ statt und wird in Kooperation mit dem Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und Balkanstudien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt.