Wahnsinn und Methode. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie

Wahnsinn und Methode. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie

Veranstalter
Prof. Dr. Cornelius Borck, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung; Prof. Dr. Armin Schäfer, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen, FernUniversität in Hagen
Veranstaltungsort
Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck, Königstraße 42, Hörsaal
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.03.2013 - 23.03.2013
Website
Von
Sophia Könemann

Workshop der DFG-FG Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene der urbanen Moderne (1870-1930)

Der Workshop soll der Diskussion eines methodischen Aspekts der Psychiatrie gewidmet sein, der seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich die Arbeit in Klinik und Forschung geprägt hat. Er schlägt vor, die Methoden der Psychiatrie anhand der Verfahren des Notierens, Ordnens und Schreibens in den Blick zu nehmen. Denn Notieren, Ordnen und Schreiben spielen für die Beobachtung der Symptome, bei der Untersuchung des Patienten oder für die Klassifikation der Krankheiten eine zentrale Rolle: Sie sind Kern einer psychiatrischen Methodenlehre, konstituieren psychiatrische Erkenntnisobjekte und strukturieren nicht zuletzt auch den Alltag in der Klinik.

Seit dem 19. Jahrhundert setzte sich in psychiatrischen Kliniken die patientenbezogene Dokumentation durch. Das Aufschreibeverfahren der Ärzte wurde aus der Registratur ausgegliedert, die hauptsächlich zu Verwaltungszwecken diente. Die neue Dokumentation in Form einer Krankenakte besaß die offene Struktur eines Hefts, einer Blattsammlung oder eines Albums. Zwar forderte die Verwaltung weiterhin eine Protokollierung bestimmter Daten, aber sie diktierte nicht mehr Art und Umfang des Eintrags. Vielmehr konnten zwischen den Deckeln einer Akte Schriftstücke und Objekte verschiedener Art versammelt werden. Ungeachtet der Versuche zur Normierung wurden die Akten zu heterogenen Dossiers, die „Notate, Protokolle, Äußerungen und Materialien allein aufgrund ihres Bezugs zum Patienten“ (Volker Hess) vereinigten.

Die Psychiatrie entwickelte aus dem Aufschreibeverfahren der Ärzte im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzierung allmählich ein komplexes eigenständiges Aufschreibesystem, das neben den Krankenakten auch Stations-, Medikations-, Labor-, Diagnose-, Gutachtenbücher der Kliniken umfasste und sich so bis weit in die Infrastruktur der Klinik, die Publikationskultur der Disziplin, aber auch den juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Störungen hinein verzweigte. Die überlieferten Elemente dieses Aufschreibesystems bieten die Chance für einen neuen Blick auf die Prozessualität psychiatrischer Klinik und Forschung. Anhand der Verfahren des Notierens, Ordnens und Schreibens kann nicht nur die Entwicklung psychiatrischer Aufzeichnungspraktiken und Notationsweisen nachgezeichnet, sondern auch verfolgt werden, wie die psychiatrischen Methoden zugleich ein Wissen formieren, eine Machtkonstellation errichten und eine Ontologie des Wahnsinns herstellen. Nicht zuletzt dokumentieren Notieren, Ordnen und Schreiben eine Eigenlogik des Beobachtens, Sammelns, Protokollierens, Begutachtens und Interpretierens. So wirken etwa Schreibszenen auf die Äußerungen der Patienten zurück und reizen Phänomene an, die wiederum aufgezeichnet werden. Die psychiatrischen Methoden lösen insgesamt eine Dynamik aus, welche die Nosologien wieder in Frage stellt, gefundene Differenzierungen permanent über sich hinaus treibt und Klinik und Forschung zu einem unabschließbaren Projekt geraten lässt.

Programm

Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck, Königstraße 42, Hörsaal

Donnerstag, 21. März 2013

15:00 Uhr
Begrüßung

Einführung
Armin Schäfer & Cornelius Borck

Sektion I: Aufschreibesysteme und Diskurse
Moderation: Thomas Beddies

15:30 Uhr
Die Buchhaltung des Wahnsinns oder der Wahnsinn der Buchhaltung: Archiv- und Bürotechniken der Berliner Nervenklinik im frühen 20. Jahrhundert.
Volker Hess

16:30 -17:00 Pause

17:00 Uhr
Wahnsinn und Kultur - Schreibakte und Zählkarten zwischen Europa und Asien
Marian Kaiser

18:00 Uhr
Mimetischer Parasitismus. Psychiatrie, Recht und Kulturtechniken des Schreibens um 1900
Rupert Gaderer

20:00 Uhr gemeinsames Abendessen im Miera

Freitag, 22. März 2013

Sektion II: Beobachtungen, Aufzeichnungen, Schreibformen
Moderation: Alexa Geisthövel

10:00 Uhr
„Unter Wahrung der gegenseitigen Kompetenzen“
Pädagogische Beobachtungen in den Krankenakten der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation an der
Charité (1921-1933)
Petra Fuchs und Wolfgang Rose

11:00 – 11:15 Pause

11:00 Uhr
„Der psychologische Versuch“
Kraepelins experimentelles Programm einer Psychiatrie
Birgit Stammberger

12:00 – 12:15 Pause

12:15 Uhr
Aufschreibeverfahren und -probleme: Leo Kanners Aufzeichnungen autistischer Kinder
Novina Göhlsdorf

13:15 – 14:30 Mittagspause

Sektion III: Feldforschung und Fallstudien
Moderation: Rainer Herrn

14:30 Uhr
Fliegende Blätter und Papierkrieg. Über Dynamiken psychiatrischer Aufschreibeverfahren
Sophia Könemann / Sonja Mählmann

15:30 – 15:45 Uhr Pause

15:45 Uhr
Schock- und Krampftherapien und ihre Aufschreibesysteme
Max Gawlich

16:45 Uhr
„Das Fallen fixieren“
Die Dokumentation der Epilepsie in der Landes-Heil-
und Pflegeanstalt Uchtspringe 1894-1914
Anna Urbach

17:45 – 18:00 Uhr Pause

18:00 Uhr
Selbstzeugnisse psychiatrisierter Menschen und deren Auswirkung auf die Irrenrechtsbewegung im Wilhelminischen Deutschland/Sachsen
Tomke Hinrichs

anschließend Abendessen

Samstag, 23. März 2013

Sektion IV: Wiedergabe und Widerstand
Moderation: Katja Günther

10:00 Uhr
La problématique du récit des hallucinations
Vincent Barras

11:00 – 11:15 Pause

11 :15 Uhr
Sehend schreiben, schreibend sehen. Vom Aufzeichnen psychischer Phänomene in der Psychiatrie
Sophie Ledebur

12:15 – 12:30 Pause

12:30 Uhr
Der (poetische) Widerstand der Sprache im Aufschreibesystem der Psychiatrie: Schreber, Wölfli & Co.
Hubert Thüring

13:30 Uhr
Wie geht es weiter?
Reflexionen zum Abschluss, Planung der Publikation

14:00 Uhr Ende des Workshops

Kontakt

Prof. Dr. Cornelius Borck
Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung
Universität zu Lübeck
Königstrasse 42
23552 Lübeck
Telefon: 0451 – 7079 9812
borck@imgwf.uni-luebeck.de

Prof. Dr. Armin Schäfer
Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen
FernUniversität in Hagen
58084 Hagen
Telefon: 02331 987 - 2119
armin.schaefer@fernuni-hagen.de


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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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