„Das Kapital“ von Karl Marx gehört zu den auflagenstärksten, einflussreichsten und meist diskutierten Büchern der Welt. Das Museum der Arbeit in Hamburg hat das 150-jährige Jubiläum der Erstveröffentlichung des ersten Bandes zum Anlass für eine Ausstellung genommen, die sich mit der Geschichte, Wirkung und Aktualität dieser „Kritik der politischen Ökonomie“ auseinandersetzt.1 Vor dem Haupteingang des Museums wirbt eine aufblasbare, neun Meter hohe, goldfarbene Karl Marx-Büste für die Sonderausstellung. Es handelt sich dabei um ein Werk des österreichischen Künstlers Hannes Langeder mit dem Titel „Karl Marx light“, eine Nachbildung des 40 Tonnen schweren Karl-Marx-Monuments in Chemnitz.
Abb. 1: „Karl Marx light“ von Hannes Langeder. Foto: Museum der Arbeit
War „das Kapital“ in der Zeit des Kalten Kriegs und des geteilten Deutschlands ein Objekt verhärteter ideologischer Debatten, kann die Büste als Einladung gesehen werden, sich heute mit neuer Perspektive mit Marx und seinem Hauptwerk zu beschäftigen. Die „Leichtigkeit“ von Langeders Büste findet sich auch in der Gestaltung der Ausstellung wieder, die vom Historiker und Ausstellungsmacher Joachim Baur kuratiert wurde. In der Begleitpublikation schreibt Baur: „Das Ziel der Ausstellung im Museum der Arbeit ist es, dieses schwere Buch auf leichte Art für ein breites Publikum aufzublättern.“ (S. 16)
Wie macht man jedoch aus einem Buch eine Ausstellung? Und was passiert, wenn Marx und „das Kapital“ musealisiert werden? Die Ausstellung im 3. Obergeschoss des Museums beginnt mit einer Inszenierung des ersten Satzes: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ Im Eingangsbereich der Ausstellung stehen Supermarktregale mit über 1.000 weißen Dosen, die mit unterschiedlichen Begriffen beschriftet sind. Damit wird nicht nur die Gleichförmigkeit der Waren veranschaulicht, sondern auch der Prozess der fortschreitenden Kommodifizierung. Neben materielle Güter und gewohnte Waren wie Obst oder Sekt mischen sich Aufschriften wie Sex, Bildung, Nähe oder Kreativität, die man zwar (noch) nicht im Supermarkt kaufen kann, die aber auch zu Waren oder Dienstleistungen geworden sind.
Abb. 2: Eingangsinszenierung der Ausstellung „Das Kapital“ im Museum der Arbeit. Foto: Andreas Möllenkamp
In diesem Bereich befinden sich auch drei Vitrinen, in denen neben einigen Kuriositäten wie Marx-Spieluhren oder Kinder-Töpfchen auch das wahrscheinlich wertvollste Ausstellungsstück liegt: Ein handsigniertes Widmungsexemplar der Erstausgabe an Johann Georg Eccarius, dessen Wert mit 1,5 Millionen Euro angegeben wird.
Die Ausstellung ist in die fünf Themenbereiche „Schreiben“, „Publizieren“, „Lesen“, „Begreifen“ und „Diskutieren“ gegliedert. Nach der Eingangsinszenierung führt ein Zeitreise-Gang vom Jahr 2017 ins Jahr 1867. Der Gang endet vor einem Zitat, mit dem der Themenbereich „Schreiben“ beginnt: „Ich bin so weit, dass ich in 5 Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin“, schrieb Marx 1851 an seinen Freund Friedrich Engels. Bis zur Veröffentlichung 1867 dauerte der Schreibprozess allerdings insgesamt mehr als 20 Jahre, und der Ausstellungsbereich thematisiert dazu vor allem die persönlichen Lebensumstände von Marx, der mit seiner Familie seit 1849 in London lebte. Neben Auszügen aus dem Briefwechsel mit Engels werden hier unter anderem ein Modell seines Wohnhauses, eine Londoner Stadtkarte, Familienfotografien, sein Reisepass und seine Diplomurkunde, aber auch ein anatomisches Modell einer Hautkrankheit ausgestellt, an der Marx litt. Im anschließenden Raum, in dem die Überfahrt von London nach Hamburg zu seinem Verleger thematisiert wird, kann man es sich in Liegestühlen bequem machen und sich über Kopfhörer den entsprechenden Brief von Marx an Engels vorlesen lassen. Die Wandgestaltung mit weißen Wölkchen auf hellblauem Hintergrund soll dabei wahrscheinlich eher die Erleichterung von Marx visualisieren als die damaligen Witterungsverhältnisse. Die Ausstellung erzählt in diesem Bereich eine „Homestory“, die darauf angelegt ist, den Menschen hinter „dem Kapital“ zu portraitieren. Ein Nachteil dieser Personalisierungsstrategie und deutliche Schwäche dieses Ausstellungsbereichs ist die fehlende Darstellung der sozialen und kulturhistorischen Umstände der frühen Industrialisierung sowie der Motivation von Marx, überhaupt eine umfassende Analyse des Kapitalismus zu schreiben. Die größte Forschungsleistung des Museums in Vorbereitung der Ausstellung besteht in der Rekonstruktion und Aufarbeitung der Aufenthalte von Marx in Hamburg sowie der Veröffentlichungsgeschichte. Diese werden im Begleitbuch2 mit vielen Fotos und historischen Abbildungen sowie in der Ausstellung im Bereich „Publizieren“ anschaulich dargestellt.
Abb. 3: Bereich „Publizieren“ der Ausstellung „Das Kapital“ im Museum der Arbeit. Foto: Andreas Möllenkamp
Die Wände dieses Bereichs zeigen kolorierte fotografische Ansichten Hamburgs der 1860er-Jahre. Diese werden überlagert von kleineren schwarz-weißen Fotografien der Stadt, die Fabriken, Arbeiterviertel und Flaniermeilen zeigen und damit die sozialen Gegensätze zwischen Industriearbeitern und Industriellen illustrieren. Ergänzend hierzu führen mehrere großformatige historische Karten vor Augen, wie stark Hamburg im Zuge der Industrialisierung angewachsen ist. Die Schaukästen im Raum enthalten Korrekturfahnen, persönliche Notizen von Marx, sowie eine Erstausgabe. Darüber hinaus beschäftigt sich dieser Bereich mit dem Otto Meissner Verlag, der „Das Kapital“ herausgab. Es finden sich weitere Titel aus dessen Verlagsprogramm, Fotos des ehemaligen Firmensitzes sowie ein Porträt des Verlagsleiters. Auch in diesem Bereich fehlen leider Informationen, die die Publikationsgeschichte in einen größeren politischen Kontext stellen. Fragen, warum Hamburg als Verlagsort gewählt wurde und wie es überhaupt zur Zusammenarbeit von Autor und Verleger kam, werden in der Ausstellung nicht beantwortet.
Abb. 4: Bereich „Begreifen“ der Ausstellung „Das Kapital“ im Museum der Arbeit. Foto: Andreas Möllenkamp
Besonders gelungen sind die anschließenden Ausstellungsbereiche „Lesen“, „Begreifen“ und „Diskutieren“. Im Bereich „Begreifen“ werden die zehn zentralen Begriffe Ware, Arbeit, Wert, Geld, Fetisch, Kapital, Ausbeutung, Produktion, Akkumulation und Krise anhand kurzer Texte verständlich erklärt und mit unterschiedlichen Materialien „begreifbar“ gemacht. Mit spielerischen Elementen wird beispielsweise veranschaulicht, dass es weniger Charaktereigenschaften wie Gier, sondern unterschiedliche Positionen im kapitalistischen System sind, die zu Ausbeutung führen. Am Anfang des Ausstellungsbereichs „Lesen“ sind Titelbilder des „Kapitals“ in verschiedenen Sprachen ausgestellt und machen deutlich, wie breit das Buch vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer Systeme und Interessen rezipiert worden ist. Anhand einiger Personen beschäftigt sich dieser Ausstellungsbereich mit der Wirkungsgeschichte des Werkes, seiner Popularisierung und Verbreitung. 15 exemplarische Leserinnen und Leser wie Bertolt Brecht und Theodor W. Adorno oder eine Hamburger Lesegruppe werden hier mit ihren Exemplaren vorgestellt. Fotos von Rudi Dutschke und Helmut Schmidt verdeutlichen beispielhaft, wie „Das Kapital“ auch zur (Selbst-)Inszenierung genutzt wurde. Ein wandfüllendes Text-Bild-Panorama wirft dazu Schlaglichter auf Entwicklungen und Meilensteine der Rezeption und Diskussion über das „Kapital“. Stühle, Tische und Sitzkissen laden die Besucherinnen und Besucher dazu ein, „Das Kapital“ und andere Werke zu lesen, die sich mit dem Werk von Karl Marx auseinandersetzen, wie etwa Comics oder Kinderbücher.
Abb. 5: Bereich „Lesen“ der Ausstellung „Das Kapital“ im Museum der Arbeit. Foto: Andreas Möllenkamp
In die Ausstellungsbereiche „Begreifen“ und „Lesen“ sind mehrere künstlerische Arbeiten zu den Themen Kapital, Geld und Arbeit integriert. Fotos von Gerd Mingram, genannt Germin, zeigen die Hamburger Arbeitswelt zwischen 1935 und 1960. Geld, das selbst zur Kunst wird, findet sich in den Werken Eduard Kaspers, der Portraits mit Öl auf 5-Euro-Scheine malt, und Joseph Beuys’, der in den 1970er-Jahren Scheine mit Schriftzügen wie „Kunst=Kapital“ oder „Falschgeld“ beschriftete. Wie langlebig die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Geld und Arbeit ist, wird dadurch thematisiert, dass die gezeigten Kunstwerke in der Ausstellung mehr als 350 Jahre umspannen. Das Thema Krise wird so von einer Reproduktion eines Gemäldes von Jan Brueghel dem Jüngeren aus den 1650er-Jahren über Karikaturen und Fotos zum Börsencrash in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Fotos von Kunstaktionen rund um den G20-Gipfel in Hamburg dargestellt. Die Werke „Crash“ und „Boom“ von Jochen Höller veranschaulichen wirtschaftlichen Aufstieg und Fall durch einen Turm in die Höhe ragender Bücher zum Thema Aufschwung und einen in sich zusammengefallenen Turm aus Büchern, die sich mit dem Absturz der Wirtschaft beschäftigen. Ein noch aktuelleres Werk des österreichischen Künstlers besteht sogar wortwörtlich aus der Kritik der politischen Ökonomie – die Worte „labour“ und „money“, aus dem Buch ausgeschnitten, stapeln sich nebeneinander auf schwarzem Hintergrund.
Die Kunstaktion, die am meisten Raum einnimmt, ist „Macht Geschenke: Das Kapital“ von Christin Lahr. Seit 2009 überweist die Künstlerin täglich einen Cent an das Bundesfinanzministerium. Als Verwendungszweck trägt sie nach und nach den ersten Band von Karl Marx’ Werk ein. Die zweckgebundene Spende soll einerseits dem Schuldenabbau der Bundesrepublik Deutschland dienen und zum anderen „der herrschenden politischen Ökonomie sowie sinnentleertem, menschenunwürdigem Bürokratismus mit der Geste des Schenkens“ begegnen. Bis sie das gesamte Buch „überwiesen“ haben wird, werden noch ca. 35 Jahre vergehen. Im Museum der Arbeit sind unter anderem Überweisungsbelege zu sehen, die hinter dem Arbeitsplatz der Professorin für Medienkunst hängen, die auch selbst Anfang September für eine Lesung und Gespräche über Kapital und Macht im Museum zu Gast war.
Den abschließenden Teil der Ausstellung bildet der Bereich „Diskutieren“, der auch für Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung genutzt wird. Hier fragt die Ausstellung nach der Aktualität von Marx’ Werk und lädt die Besucherinnen und Besucher ein, sich etwa mit Fragen der Verteilung sowie mit Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem zu beschäftigen. Unter den vier großen Überschriften Waren, Arbeit, Verteilung und Alternativen, steht vor großen weißen Wänden jeweils ein Schreibtisch mit Zetteln, auf denen ein oder zwei Fragen angebracht sind, die man mit der eigenen Antwort an die Wand kleben kann. „Was wäre, wenn uns Maschinen die ganze Arbeit abnehmen?“ steht beispielsweise auf einem Zettel zu „Arbeit“. Auf den Wänden hat das Museum einige Statements und Statistiken zu den entsprechenden Themen angebracht, die durch die Besucherinnen und Besucher inzwischen umfangreich ergänzt und kommentiert worden sind.
Abb. 6: Bereich „Diskutieren“ der Ausstellung „Das Kapital“ im Museum der Arbeit. Foto: Andreas Möllenkamp
Neben klassischen Führungen bietet das Museum einen WhatsApp-Guide als Vermittlungsangebot an. An entsprechend gekennzeichneten Stellen liefert der Guide sowohl Audio- als auch Bild- und Textmaterial auf das eigene Smartphone. Da diese nur an einigen Stellen in der Ausstellung verfügbar sind, sollte man den WhatsApp-Guide allerdings eher als interessanten Zusatz und weniger als „Führung“ durch die Ausstellung betrachten.
Die Ausstellung entspricht in mehrfacher Hinsicht nicht den Erwartungen, die man an ein gewerkschaftsnahes, technik- und sozialgeschichtliches Museum wie dem Museum der Arbeit haben kann. Die Ausstellungsmacher haben bei der Konzeption bis auf wenige Ausnahmen nicht auf die Sammlung des Museums zurückgegriffen. Auch Verweise und Bezüge zu den ständigen Ausstellungen im Museum werden nicht hergestellt. Die Ausstellung ist vielmehr der gelungene Versuch einer leicht zugänglichen (Re- )Popularisierung von Marx und dem „Kapital“. Sie thematisiert das Buch dabei vor allem als (pop)kulturelles Phänomen und klammert „schwerere“, problematische und kritische Aspekte weitgehend aus. Kritik an Marx oder den Verbrechen, die mit Bezug auf Marx etwa im Leninismus oder Maoismus begangen worden sind, werden gar nicht oder nur am Rande thematisiert. Als eine Ausstellung, mit der sowohl die Ausstellungsagentur als auch das Museum auf dem Markt der Freizeitangebote ein möglichst breites Publikum ansprechen wollen, ist sie, wie auch das begleitende Magazin, leicht konsumierbar und bietet, wie man mit dem Titel der Marx-Büste vor dem Museum zusammenfassen könnte, „Karl Marx light“.
Anmerkungen:
1 Diese Rezension ist im Rahmen des Seminars „Kulturerbe und Museumsforschung“ an der Universität Hamburg im Wintersemester 2017/18 entstanden. Sie wurde gemeinsam verfasst von Judith Brachem, Lilian Geyer, Lisa Kerschkamp, Julia Malert, Andreas Möllenkamp, Henriette Riese, Sukie von Seld und Paul Speckmann.
2 Jürgen Bönig, Karl Marx in Hamburg. Der Produktionsprozess des „Kapital“, Hamburg 2017, mit vielen bislang unveröffentlichten Fotos und historischen Abbildungen.