Die Fähigkeit, zahlreiche starke Emotionen zu empfinden, zeichnet die Menschen vor allen anderen Lebewesen aus. Positive Gefühle wie Liebe oder Glück fallen ebenso darunter wie negative, etwa Hass oder Jähzorn. Der Kirche waren diese starken Gefühle schon früh suspekt, lenkten sie die Gläubigen doch von der Konzentration auf ihr Seelenheil ab und brachten sie stattdessen dazu, ihre individuellen Interessen zu verfolgen. Und so verurteilte die Kirche gleich sieben davon als „Todsünden“ (Hochmut, Geiz bzw. Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit).
Mit „Gier. Was uns bewegt“ widmet das Haus der Geschichte Baden-Württemberg einer dieser „Todsünden“ nun eine ganze Ausstellung und legt dabei den Fokus auf die Ambivalenz des Begriffs. Denn die Einteilung der Gefühle in positiv oder negativ trügt: So kann Gier in der Spielart der Habgier großes Leid für andere verursachen; aber ohne Wissensgier oder Neugier wären viele Entdeckungen oder Erfindungen ausgeblieben. Die Ausstellung über Gier steht dabei nicht allein. Vielmehr zeigt das Haus der Geschichte in drei aufeinanderfolgenden Ausstellungen eine Trilogie der Gefühle und stellt den Drang nach dem „immer mehr“ in einen Kontext mit den nicht minder starken Gefühlen Hass und Liebe. Die Folgeausstellung „Hass“ soll am 17. Dezember 2021 beginnen; ein Katalog zur gesamten Ausstellungstrilogie ist für 2022 geplant. Das Haus setzt damit seinen Ansatz fort, die materiell schwer fassbaren, zugleich aber sehr menschlichen und durchaus geschichtsmächtigen Gefühle und Sinneseindrücke auf ihre historische Dimension hin zu überprüfen.1 Für eine Ausstellung genießt dieser Ansatz noch immer Seltenheitswert2, obwohl die Geschichte der Gefühle spätestens seit 2008 mit der Einrichtung eines eigenen Forschungsbereichs am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in der Geschichtswissenschaft angekommen ist.
Dass es sich bei Gier, Hass und Liebe keineswegs um eine bloße Aneinanderreihung dreier Ausstellungen, sondern tatsächlich um eine Trilogie miteinander verzahnter Emotionen handelt, verdeutlicht die Präsentation schon jetzt an mehreren Stellen. Gleich zu Beginn gibt es drei Videoinstallationen, die den Besucherinnen und Besuchern suggestiv verschiedene Seiten dieser Gefühle vorführen.3
Abb. 1: Eingangsbereich der Ausstellung mit der Videoinstallation zu Gier, Hass und Liebe
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
Es bleibt der individuellen Betrachtung überlassen, welche der jeweiligen Gefühlsdimensionen prägender ist, und es ist anzunehmen, dass die entsprechende Bewertung ohnehin je nach Lebenssituation variiert. Damit wird schon anfangs ein Kernthema der Ausstellung deutlich: Gefühle, ihre Bewertung und der Umgang damit bei sich selbst und bei anderen hängen von zeitgeschichtlichen, aber auch individuellen Umständen ab, die Änderungen unterworfen sind. Betroffen von den Gefühlen – in diesem Fall von der Gier – sind aber alle.
Nach dem Entrée empfängt die vom büroberlin (https://www.bueroberlin.net) gestaltete Ausstellung ihre Besucherinnen und Besucher in schimmerndem Gold, bei dem sich unmittelbar die Assoziation von Reichtum, Schmuck und Jetset einstellt. Und darum geht es dann letztlich auch in den 31 kleineren Einheiten: die Jagd nach Ruhm und Anerkennung, nach Geld und Schönheit, der sich Moral und Mitgefühl im Zweifelsfall häufig unterordnen.
Abb. 2: Blick in die Ausstellung
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
Besonders sinnfällig wird dies gleich in der ersten Einheit über den Chemiker Fritz Haber (1868–1934), der mit der Herstellung von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff die Düngemittelproduktion revolutionierte. Bis heute leistet dieses Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung. Auf Kosten seiner Kollegen und seiner Ehefrau stellte Haber sein ganzes Wissen und Können in den Dienst dieser Entwicklung. Er brachte seinen Wissensdurst und Forscherehrgeiz jedoch auch skrupellos bei der Entwicklung von Sprengstoff und Giftgas ein, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen. Der erst 1920 nachträglich für 1918 verliehene Nobelpreis an den „Vater des Gaskriegs“ stieß daher trotz dessen Verdienste um die Welternährung international auf Kritik.4
Und so geht es in der Ausstellung munter weiter mit den Niederungen menschlicher Emotionen, ohne dass diese, wie bei Haber, immer auch einen positiven Nebeneffekt haben müssten. Manchmal half der Zufall der Gier auf die Sprünge, etwa beim „Pulverkönig von Rottweil“ Max Duttenhofer, dessen Pulver vor allem dank des deutsch-französischen Krieges 1870/71 plötzlich stark nachgefragt war und seinem Hersteller immensen Reichtum, beste Kontakte und einflussreiche Ämter bescherte.
Abb. 3: Der „Pulverkönig“ Max Duttenhofer (1843–1903)
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
Manchmal sollte schlichtweg die eigene Existenz gerettet werden, wie bei Paul Mauser (1838–1914), der nur ein Sechstel einer Waffenfabrik besaß und dem ohne lukrative Waffenverträge die Fabrik von den tatsächlichen Eigentümern geschlossen worden wäre. Hier trat insbesondere die Türkei als Retterin auf, die zwischen 1887 und 1909 zur Großabnehmerin der Mauser’schen Gewehre wurde. Die geschäftlichen Kontakte zwischen Oberndorf und Konstantinopel führten aber auch zu Kontakten der Bevölkerung, auf die eine Vorschau zum Trilogie-Thema „Liebe“ anhand einer Narrenkappe verschmitzt hinweist.
Abb. 4: Mauser-Gewehr und „Fenster“ zur „Liebe“-Ausstellung
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
In vielen Fällen scheint der Drang nach materiellem Gewinn jedes Gefühl für Verantwortung und soziales Miteinander zum Verschwinden zu bringen. So werden Betrug und Steuerhinterziehungen trotz ihrer oft immensen Dimensionen mitunter immer noch als Kavaliersdelikte wahrgenommen oder in der breiteren Öffentlichkeit nicht hinreichend verstanden, wie anhand der Beispiele von FlowTex und Cum-Ex gezeigt wird. Gleichzeitig simuliert eine interaktive Computeranimation, was Steuerausfälle für die Allgemeinheit bedeuten: schlechte Bildung für alle, weniger Kulturangebote, Lücken in der Gesundheitsversorgung, kaputte Straßen mit entsprechenden Staus und bei unterfinanzierter Polizei auch mangelnde Sicherheit. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob persönliche Gier nicht zu Konsequenzen führt, die auch die Profiteure der Gier abschrecken müssten. Interessant wäre deshalb eine Ausweitung des Themas auf politische und rechtliche Folgen gewesen: Was wird unternommen, um aufgedeckte Wirtschaftsverbrechen zu ahnden und Betrugsszenarien dieser Milliarden-Ausmaße künftig zu verhindern? Und welche Strukturen fördern überhaupt das Entstehen von Gier und deren Erfolg?
Doch die Ausstellung thematisiert nicht nur fragwürdiges, teils kriminelles Gebaren von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten, sondern leuchtet auch tief in das heutige Alltagsleben hinein. Eine riesige Sneakersammlung wirft die Frage auf, wie weit Sammelleidenschaft führen kann und wie viel sie einem finanziell wert ist. Darüber hinaus zeigt die Sneakersammlung aber auch exemplarisch, dass heutzutage nahezu jeder Kleiderschrank deutlich überfüllt ist, nicht zuletzt weil Kleidung in Deutschland billig zu haben ist. Dass den Preis dafür andere zahlen, die diese Kleidung zu Hungerlöhnen in weit entfernten Ländern produzieren, wird dabei gern ausgeblendet. Leider hat dieses Thema kein eigenes Ausstellungssegment bekommen, obwohl es nahezu jeden persönlich betrifft und sich in der baden-württembergischen Textilindustrie gewiss auch einschlägige Beispiele gefunden hätten.
Abb. 5: Sneakersammlung von Danijel Balasević; siehe auch das ausführliche Interview mit ihm unter https://www.youtube.com/watch?v=8sRXidDGO6o (05.08.2021)
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
Die Konsumlust auf Kosten anderer, diesmal auf Kosten der Milchkühe, wird auch am Beispiel der „Wegwerfkuh“ gezeigt. Die Milchleistung heutiger Kühe ist zehnmal so hoch wie diejenige vor 200 Jahren, was zu miserablen Lebensbedingungen und einer deutlich verkürzten Lebenszeit der Tiere führt. Denn nicht nur Kleidung, sondern auch Lebensmittel sind für die Konsumentinnen und Konsumenten so günstig zu erwerben, dass lediglich die Ausbeutung der Tiere das Auskommen der Produzenten zu sichern scheint. Wie schwer die Schuldigen für diesen Prozess auszumachen sind, zeigt eine virtuelle Kurzführung der Ausstellungskuratorin Franziska Dunkel.5
Abb. 6: Die „Protestkuh“ namens „Resi“ kam 2015 bei einer Demonstration in Überlingen erstmals zum Einsatz.
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
An anderer Stelle steht vor allem der Drang nach Aufmerksamkeit, Rampenlicht und Schönheit im Fokus. So erfüllte sich für die Friseurin Gordana Apostoloska 2019 ein Traum, als sie sich auf Kosten des Senders Vox komplett neu einkleiden durfte und dann auch noch den ersten Preis als „Shopping Queen“ gewann. Ein gut gefüllter Kleiderschrank (oder in ihrem Fall: ein ganzer Keller voller Kleidung) ist für Apostoloska der Garant, „dazuzugehören“ – und bevor sie zu wenig habe, habe sie lieber zuviel. Brustimplantate oder das (inzwischen gelöschte) Instagram-Profil der Ex-Influencerin Katharina Weber reflektieren ebenfalls die Gier nach dem perfekten Körper und dem schönen Schein.
Auch beim Fußball dominiert die Gier, ohne die laut Jürgen Klopp oder Joachim Löw kein Sieg möglich sei. Doch schon die Vitrine daneben hält die Schattenseite bereit: Viele sportliche Höchstleistungen sind bis heute nur dank Doping zu erreichen. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, wie vielfältig verschränkt Gier sein kann, denn von den Siegen und Rekorden profitieren Sportlerinnen und Sportler, Fans sowie die gesamte Sport- und Medienbranche.
Die komplexe Struktur der Ausstellung macht eine Orientierung nicht immer ganz leicht: Dreizehn Oberthemen werden mit jeweils bis zu fünf Aspekten veranschaulicht – so umfasst das Thema „Betrug“ etwa die Aspekte FlowTex, Cum-Ex sowie die Einführung der Kassenbonpflicht im Einzelhandel. Jeder Aspekt hat zudem nicht nur ein eigenes Schlagwort, sondern auch eine eigene Jahreszahl. Insgesamt deckt die Ausstellung eine Spanne von über zwei Jahrhunderten ab und wandert dabei mäandernd in der Zeit voran. Da jeder Aspekt aber eine eigene kleine Kabinetteinheit darstellt, erschließt sich das Ganze dennoch problemlos.
Irritierend ist allerdings der zeitliche Rücksprung, um die beiden wichtigen Themen Kolonien/Rassismus und Nationalsozialismus zu behandeln, die erst folgen, nachdem die Besucherinnen und Besucher mit Shopping Queen, Influencern und Vorratsdatenspeicherung bereits in der heutigen Zeit angekommen sind. Beide Themen werden mit mehr Einzelaspekten illustriert als fast jedes andere Thema und nehmen allein dadurch schon einen besonderen Stellenwert ein. Sowohl das Thema „Kolonien“ als auch „Raub“ (bezogen auf den Nationalsozialismus) zeigen zum Abschluss der Ausstellung, dass Gier nicht nur zu persönlicher Bereicherung führt, sondern durch eine fatale Melange mit Rassismus/Antisemitismus, Habgier und Sensationslust auch in tödliche Menschenverachtung und Massenmord münden kann.
Abb. 7: Vitrine zum Raub jüdischen Eigentums und „Fenster“ zur „Hass“-Ausstellung
(Foto: Haus der Geschichte Baden-Württemberg / Daniel Stauch)
Es ist unbedingt empfehlenswert, das umfangreiche Begleitprogramm und Zusatzmaterial auf der Website des Hauses der Geschichte ebenfalls zu beachten.6 Neben einem virtuellen Rundgang durch die Ausstellung gibt es thematische Kurzführungen zu entdecken, Videoberichte stellen einzelne Objekte vor, und Interviews mit Prominenten und Psychologen leuchten unterschiedliche Facetten der Gier aus. Die Ausstellungsarchitektin Julia Neubauer von büroberlin erläutert die Ideen, die hinter der Gestaltung aus goldenen Bahnen stecken, und die baden-württembergische Staatssekretärin Petra Olschowski schildert ihren Zugang zum Ausstellungsthema. Ungewöhnlich ist vor allem die künstlerische Aufbereitung der Gier. Mitten in der Ausstellung steht eigens eine große Vitrine, deren Leere einen Gegenpol zur sie umgebenden Raffgier darstellt, die aber auch ein Podium für Performances abgibt, die Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart entwickelt haben. Die Aufführungen werden nicht vorab angekündigt – die Besucherinnen und Besucher dürfen sich einfach überraschen lassen.
Anmerkungen:
1 So unter anderem in der schon 2014 gezeigten Ausstellung „Fastnacht der Hölle – der Erste Weltkrieg und die Sinne“. Virtueller Rundgang durch die Ausstellung unter https://www.hdgbw.de/ausstellungen/ausstellungsarchiv/1-weltkrieg-und-die-sinne/ (05.08.2021). Siehe auch die Rezension von Thomas Thiemeyer, in: H-Soz-Kult, 24.05.2014, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-194 (05.08.2021).
2 Eine Wanderausstellung, u.a. konzipiert von Ute Frevert, der Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, thematisierte 2019, im Jubiläumsjahr der Weimarer Demokratiegründung, „Die Macht der Gefühle – Deutschland 19 / 19“. Die in mehreren Sprachen erhältliche Poster-Ausstellung behandelt insgesamt 20 Gefühle, darunter auch Hass und Liebe; Gier allerdings nur in der Form der „Neugier“. Siehe den Flyer unter https://machtdergefuehle.de/wp-content/uploads/2019/03/DMDG_Broschu%CC%88re_micro_190204.pdf (05.08.2021).
3 Die Videoinstallation ist auch Teil des digitalen Angebots zur Ausstellung: https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/ sowie unter https://www.youtube.com/watch?v=FMSHmQodswM (05.08.2021).
4 Als Standardwerk siehe Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998.
5 10 Minuten Gier: Profitstreben. Kurzführung in der Ausstellung „Gier. Was uns bewegt“ mit Dr. Franziska Dunkel, https://www.youtube.com/watch?v=bn-MgNoln9Y (05.08.2021). Auf YouTube sind auch Kurzführungen der anderen Ausstellungskuratoren zu sehen.
6https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/ und https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-digital/ (05.08.2021).