Was erzählen Fotografien? Albert Dieckmanns Bilder aus dem besetzten Osteuropa 1941/42

Was erzählen Fotografien? Albert Dieckmanns Bilder aus dem besetzten Osteuropa 1941/42

Veranstalter
Museum Berlin-Karlshorst
PLZ
10318
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2023 - 17.12.2023

Publikation(en)

Cover
Babette Quinkert für das Museum Berlin-Karlshorst (Hrsg.): Was erzählen Fotografien?. Albert Dieckmanns Bilder aus dem besetzten Osteuropa 1941/42. Begleitheft zur Sonderausstellung anlässlich des 82. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion. Berlin 2023 : Museum Berlin-Karlshorst, ISBN 978-3-9824042-1-9 38 S., zahlr. Abb. € 4,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kolja Buchmeier, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg

Mehr als 380 auf Farbdias festgehaltene Fotografien umfasst die Sammlung des Amateurfotografen Albert Dieckmann (1896–1982). Von Juli 1941 bis Frühjahr 1942 war Dieckmann Stabsarzt des Radfahr-Wachbataillons 48 (B) in der besetzten Sowjetunion. Die Einheit war Teil des sogenannten Korücks (Kommandant rückwärtiges Armeegebiet) und operierte hinter der Front. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Sicherung von Nachschubwegen auch die Bewachung von Kriegsgefangenen sowie die Sicherung und „Befriedung“ der besetzen Gebiete. Damit war sie unmittelbar in die verbrecherische Ausplünderungs- und Sicherheitspolitik der Wehrmacht eingebunden. Der ambitionierte Hobbyfotograf Dieckmann nutzte seine im Dienst üblichen langen Fahrten durch Teile Polens, Belarus und Russlands, um zahlreiche Fotos von Landschaften, Gebäuden und Menschen anzufertigen, die in ihrer seltenen Qualität und Farbigkeit eine beeindruckende historische Sammlung im Kontext der Geschichte des deutschen Vernichtungskriegs darstellen.

Nach Dieckmanns Tod entdeckte sein Sohn die Dias in dessen Wohnung und übergab sie schließlich 2007 dem Museum Berlin-Karlshorst. Zwar wurden einzelne Fotografien aus dem Konvolut zuvor bereits kuratorisch genutzt, beispielsweise in der Dauerausstellung des Museums von 2013; in der jetzigen Schau werden sie aber erstmals in den Mittelpunkt gestellt und umfassend besprochen. Eine Besonderheit, die sich schon im Titel der Ausstellung andeutet, ist die Tatsache, dass Dieckmanns Bilder hier konsequent kritisch eingeordnet und befragt werden, um den Besuchenden Fotografien als historische Quellen näher zu bringen. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Ausstellung bildet die Verknüpfung dieser Fotos mit Graphic-Novel-Elementen des Illustrators Matthias Lehmann, die nach Aussage des Ankündigungstextes „die Dekonstruktion der Bildinhalte“ unterstützen und „eine neue Ebene für die Vermittlung“ eröffnen sollen.1


Abb. 1: Blick durch den Eingang zur Ausstellung im Museum Berlin-Karlshorst. Das Titelbild vereinigt die zwei wichtigsten Elemente der Darstellung: historische Fotografien und Graphic-Novel-Elemente.
(Foto: © Kolja Buchmeier)

Wie unter anderem Habbo Knoch dargelegt hat, ist unsere Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen in hohem Maße von Bildern geprägt.2 Fotografien spielen dabei, neben anderen Bildmedien wie Filmen oder künstlerischen Darstellungen, eine entscheidende Rolle. Ausgehend von dieser Erkenntnis hat sich die Forschung zur NS-Geschichte im Zuge des sogenannten Visual Turn in den letzten Jahrzehnten intensiv einerseits mit der „Visualität von Geschichte“ und andererseits mit der „Historizität des Visuellen“ auseinandergesetzt und dabei besonders Fotografien als eigenständige historische Quellen in den Mittelpunkt der Forschung gerückt.3 Dennoch werden Fotos in historischen Ausstellungen bis heute oft vorrangig illustrativ genutzt – eine tiefere Auseinandersetzung mit Kontext, Überlieferung und Entstehungspraktiken bleibt aus oder findet nur am Rande statt. Die vorliegende Ausstellung tritt diesem Missstand konsequent entgegen und stellt die Fotos als Quellen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hierzu nutzt sie einige kuratorische Kniffe, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.

Am wohl naheliegendsten ist die in der Ausstellung vorgenommene Kontextualisierung der Fotografien. Dennoch fällt sie hier recht umfangreich aus und bildet gewissermaßen auch den roten Faden der Darstellung. Besuchende folgen auf den Ausstellungstafeln Albert Dieckmann und dem Radfahr-Wachbataillon 48 (B) auf ihrem Weg durch die besetzten Gebiete. Dieckmanns Fotografien werden dabei einerseits mit der Geschichte des Bataillons und andererseits mit der Gesamtgeschichte der deutschen Besatzung verknüpft und so in einen größeren Rahmen eingeordnet. Dies geschieht sowohl mit Hilfe von Ausstellungstexten als auch durch die Präsentation von Dokumenten. So erfährt man durch den unter einem zunächst harmlos wirkenden Foto einer Kolonne sowjetischer Kriegsgefangener bei Orscha im August 1941 platzierten Text beispielsweise, dass solche Märsche für die Gefangenen oft ein Todesurteil waren und erschöpft zurückbleibende Gefangene erschossen wurden. Eine daneben dargestellte Aussage eines Generalleutnants der Wehrmacht, Friedrich Freiherr von Broich, legt die Beteiligung der Radfahr-Bataillone an solchen Verbrechen offen: „Alle 100 bis 200 m blieb einer bis drei liegen. Nebenher fuhren Radfahrer, Soldaten von uns, mit der Pistole; jeder, der liegen blieb, kriegte einen Genickschuss und wurde in den Graben geschmissen.“ So wird der Blick der Betrachtenden hier auf eine der entscheidenden Fragen bei der Beschäftigung mit Fotografien aus Verbrechenskontexten gelenkt: Was wird – und vor allem – was wird nicht gezeigt?


Abb. 2: Ausstellungsansicht im Mittelteil der Ausstellung
(Foto: © Museum Berlin-Karlshorst / Ann-Sophie Winterhoff)

Insgesamt bildet, neben der dargelegten Kontextualisierung, das Evozieren von Fragen ein weiteres wichtiges Mittel der Ausstellung. Als eigene, parallel zum Hauptnarrativ angeordnete Textebene werden dreizehn Fragen an die Besuchenden gerichtet, die helfen sollen, die Fotografien als Quellen zu analysieren. Diese betreffen beispielsweise die Rolle des Fotografen („Mit welchen Vorstellungen und Bildern kam Albert Dieckmann ins Land?“), aber auch die den Fotos zugrunde liegenden Machtverhältnisse („Ist Zwang auf Bildern zu erkennen?“). Diese Fragen sind einerseits dazu geeignet, Einzelbesuchende zu einer aktiven, eigenständigen Auseinandersetzung mit den gezeigten Bildern anzuregen, andererseits bieten sie sich vor allem für die pädagogische Arbeit mit Gruppen an. An dieser Stelle wird auf positive Weise deutlich, dass die Bildungsarbeit – besonders mit Schulklassen – im didaktischen Konzept der Ausstellung gleich mitgedacht wurde. Unterstrichen wird dies durch einen am Ende der Ausstellung platzierten Werkstattbereich, der mit Sitzgelegenheiten und einem interaktiven Feedbackboard ausgestattet ist.


Abb. 3: Werkstattbereich am Ende der Ausstellung. Die mit Metaplankarten zu bestückenden Pinnwände laden zum Mitmachen ein.
(Foto: © Kolja Buchmeier)

Private Fotografien von Wehrmachtsangehörigen haben – wie viele Fotografien insgesamt – die herausfordernde Eigenschaft, dass sie in hohem Maße inszeniert sind und einen bestimmten Blick auf die Welt wiedergeben, diese „Gemachtheit“ allerdings nicht immer sofort offensichtlich ist. So hat etwa Petra Bopp in ihrer Studie zu Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg darauf hingewiesen, dass solche Fotos nicht wiedergeben, wie etwas tatsächlich war, sondern vielmehr, wie etwas gesehen wurde.4 Fotografien wie diejenigen von Albert Dieckmann müssen also dekonstruiert werden. Dazu sind die bereits angesprochene Kontextualisierung und eine fragende, kritische Betrachtung, wie sie in der Ausstellung überzeugend vollzogen werden, sicherlich nötig, aber nicht ausreichend. Um die viel beschworene „Macht der Bilder“ zu brechen, werden die Fotos in der Ausstellung deshalb mit Graphic-Novel-Elementen kontrastiert. Diese ersetzen zunächst Ausstellungstexte und unterstützen das Storytelling. Vor allem werden sie aber eingesetzt, um als eigene Vermittlungsebene den Blick der Betrachtenden auf die Fotos zu schärfen. Ein Beispiel: Im August 1941 fotografierte Dieckmann eine fünfköpfige Familie in Smolensk. Für sich wirkt das Bild zunächst wie eine authentische Momentaufnahme. Auf der Ausstellungstafel wurde nun eine Zeichnung am linken Rand des Bildes platziert, die Dieckmann im Moment der Fotoaufnahme darstellt. In der rechten Hand hält er die Kamera, mit der linken gestikuliert er und gibt so offenbar ein Zeichen an die Familie, sich auf bestimmte Art zu positionieren. Die Betrachtenden schauen Dieckmann so gewissermaßen über die Schulter. Der Blick des Fotografen wie auch die Inszeniertheit der Fotografie werden offengelegt. Dieses Mittel funktioniert an vielen Stellen der Ausstellung erstaunlich gut, ist aber nicht für alle Bilder konsequent durchgehalten worden.


Abb. 4: „Wie setzte Albert Dieckmann die Familie ins Bild?“ Eine vermeintliche Momentaufnahme einer Familie in Smolensk im August 1941 wird durch zusätzliche Graphic-Novel-Elemente als inszenierte Fotografie im Kontext der Besatzung entschlüsselbar.
(Foto: © Museum Berlin-Karlshorst, Grafik: Matthias Lehmann)

Der Kuratorin Babette Quinkert und dem Museum Berlin-Karlshorst ist mit „Was erzählen Fotografien?“ so insgesamt eine wissenschaftlich gut recherchierte, kuratorisch innovative und erfrischend sehenswerte Ausstellung gelungen, die es schafft, die Fotosammlung eines Mittäters sowohl für ein Fach- als auch für ein Laienpublikum quellenkritisch und informativ zu präsentieren. Für den wissenschaftlich interessierten Leser könnte lediglich das Begleitheft zur Ausstellung etwas enttäuschend ausfallen. Im Vergleich beispielsweise zum Katalog der letzten Wanderausstellung des Museums zu den sowjetischen Kriegsgefangenen von 2021 ist das Heft mit 38 Seiten sehr knapp gehalten und dokumentiert lediglich die Ausstellungsinhalte. Es ist deshalb zu hoffen, dass weitere im Kontext der Ausstellung entstandene Forschungsergebnisse an anderer Stelle veröffentlich werden. Denn das Thema der privaten Fotografie von Wehrmachtssoldaten birgt noch viel Forschungspotential. Dies tut der Qualität der Ausstellung freilich keinen Abbruch. Ein Besuch wird an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen.

Anmerkungen:
1 Informationstext zur Ausstellung auf der Website des Museums Berlin-Karlshorst, https://www.museum-karlshorst.de/das-museum-dauerausstellung-sonderausstellung/sonderausstellungen/was-erzaehlen-fotografien (03.10.2023).
2 Vgl. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
3 Gerhard Paul, Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.03.2014, https://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de_2014 (03.10.2023). Ausführlich siehe Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des Dritten Reiches, Göttingen 2020.
4 Vgl. Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009. Zu privaten Fotografien im Zweiten Weltkrieg siehe auch: Jürgen Matthäus, Opa im Osten. Private deutsche Fotoalben zum Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte 42 (2022), Heft 165, S. 26–36.

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