Die Jahre zwischen 1930 bis 1960 erscheinen im Rückblick auf das "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) in Europa als agrarpolitische Wendezeit. Zwischen den protektionistischen Reaktionen auf die 'große Krise' ab Anfang der Dreißigerjahre, den Lenkungseingriffen in Kriegs- und Nachkriegszeit und der Formierung markt- und planwirtschaftlicher Agrarsysteme in West und Ost bis Ende der Fünfzigerjahre gewann ein agrarpolitisches Konzept Kontur: die Gesamtheit der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe wie einen ‚nationalen Betrieb’ zu führen. Bei allen Unterschieden war den politisch-ökonomischen Systemen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz die weit reichende und tief greifende Regulation der ländlichen Gesellschaft – bis in die Haushalts- und Betriebsabläufe auf den Höfen – gemein. Im Gemenge von Konsens und Dissens der ländlichen Akteure entstanden vielerlei Spannungen, die die Eliten an den Schalthebeln der Agrarpolitik wiederum zu ideologischen oder pragmatischen Lösungsversuchen drängten. Die Aufsätze des Bandes vermessen solche agrarpolitischen Spannungsfelder an der ländlichen Raumplanung im nationalsozialistischen und im geteilten Deutschland, der Agrarmarktordnung in der österreichischen Ersten und Zweiten Republik, der schweizerischen Ernährungspolitik und anderen Fällen. Der Forum- und Lektüren-Teil befasst sich mit neuen Wegen der Agrargeschichte. Der Band ist Ernst Bruckmüller zum 60. Geburtstag gewidmet.
Einleitung
Ernst Langthaler Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960
Aufsätze
Horst Gies Autarkie und Landwirtschaft. Der Stellenwert der Ernährungswirtschaft in der nationalsozialistischen Kriegsplanung 1933-1945
Uwe Mai Die „Scholle“ als „Blutsquell“. Ländliche Siedlung als Sozial- und Rassenpolitik im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1939
Daniela Münkel NS-Agrarpolitik vor Ort. Das Fallbeispiel Niedersachsen 1933-1945
Ulrich Kluge „Veredelungswerkstatt“ oder „Rohstofffabrik“? Westdeutsche Agrar- und Ernährungspolitik zwischen wirtschaftlicher Rekonstruktion und Römischen Verträgen 1945-1957
Andreas Eichmüller Bauernland oder Industriestaat? Agrarpolitik in Bayern 1945-1960
Andreas Dix Ländliche Siedlung als Strukturpolitik. Die Entwicklung in Deutschland im Ost-West-Vergleich von 1945 bis zum Ende der Fünfzigerjahre
Arnd Bauerkämper Umbruch und Kontinuität. Agrarpolitik in der SBZ und frühen DDR
Barbara Schier Der Weg zum „sozialistischen Dorf“. Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Wandel des Alltagslebens im thüringischen Merxleben
Ernst Hanisch Das Dilemma der Politik. Die Agrarpolitik von Engelbert Dollfuß
Gerhard Senft Vom Markt zum Plan. Die Agrarpolitik des österreichischen „Ständestaates“ 1934-1938
Stefan Eminger „Entjudete“ Güter. „Arisierung“ in der Land- und Forstwirtschaft in Niederdonau
Ernst Langthaler „Menschenökonomie“. Landwirtschaftlicher „Arbeitseinsatz“ im Reichsgau Niederdonau 1939-1945
Norbert Weigl Nicht mit leeren Händen. Forstpolitik und Forstwirtschaft in den Reichsgauen Wien und Niederdonau 1938-1945
Gerhard Siegl Griff nach dem letzten Strohhalm? Der nationalsozialistische „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ am Beispiel des Reichsgaues Tirol-Vorarlberg
Josef Redl Forderung und Förderung. Ein interessen- und förderungspolitischer Ansatz zur Nachkriegslandwirtschaft in Niederösterreich 1945-1952
Beat Brodbeck Paradigmawechsel in der Agrarpolitik. Der Erste Weltkrieg und die Agrarmarktordnungen in der Schweiz am Beispiel des Milchmarktes 1914-1922
Peter Moser Am Konsum orientiert, über die Produktion thematisiert. Schweizer Agrarpolitik als Ernährungspolitik 1914/18-1960
Forum
Verena Winiwarter Agrargeschichte als Umweltgeschichte?
Gertrude Langer-Ostrawsky Agrargeschichte als Geschlechtergeschichte?
Michael Mitterauer Agrargeschichte als interkulturell vergleichende Globalgeschichte?
Norbert Ortmayr Agrargeschichte als historische Kulturanthropologie?
Lektüren
Ernst Langthaler Der „österreichische Weg“ – und darüber hinaus. Ernst Bruckmüllers Modell der Agrarmodernisierung im 19. und 20. Jahrhundert