Mikrogeschichte sucht nicht das Kleine, sondern das Große im Kleinen. Sie beforscht Gegenstände, die auch in anderen Sparten der Geschichtswissenschaft im Mittelpunkt stehen: Naturbeziehungen, Wirtschaftsverflechtungen, Herrschaftsformationen, Familienverhältnisse, Identitätsstiftungen und so fort. Die Mikrogeschichte zeichnet sich nicht durch das Was, sondern das Wie der Forschung – einen „mikrohistorischen Blick“ – aus: Aus der Nahsicht sucht sie an kleinen Orten und einzelnen Personen überlokale und -individuelle Phänomene „dicht“ zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Ein Dritteljahrhundert nach Carlo Ginzburgs Pionierstudie „Der Käse und die Würmer“ hat die microstoria ihre Kinder- und Flegeljahre hinter sich gebracht und ist erwachsen geworden; mit ihr hat sich auch das historiographische Umfeld gewandelt: Die Wirtschaftsgeschichte orientiert sich an makroökonomischen Modellen; die Kulturgeschichte stellt die Kategorie der „Erfahrung“ in Frage; die Welt- und Globalgeschichte lässt den historiographischen Blick in die Ferne schweifen. Wie und zu welchem Ende studiert man heutzutage Mikrogeschichte? Antworten auf diese Frage bietet der vorliegende Band, in dem Historiker/-innen unterschiedlicher Fachbereiche die Potenziale der Mikrogeschichte in Theorie und Praxis ausloten.
INHALT
Einleitung
Ewald Hiebl/Ernst Langthaler: Im Kleinen das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis (7–21)
Debattenbeiträge
Otto Ulbricht: Divergierende Pfade der Mikrogeschichte. Aspekte der Rezeptionsgeschichte (22–36)
Angelika Epple: Globale Mikrogeschichte. Auf dem Weg zu einer Geschichte der Relationen (37–47)
Margareth Lanzinger: Das Lokale neu positionieren im actor-network-Raum – globalgeschichtliche Herausforderungen und illyrische Steuerpolitiken (48–56)
Ernst Langthaler: Vom Behälter zum Netzwerk? Raum in mikrohistorischer Perspektive (57–68)
Lukaš Fasora: Mikrogeschichte und Arbeiterkulturgeschichte. Beispiele aus der neuen tschechischen Forschung (69–78)
Christoph Boyer: Geschichte als Wissenschaft? (79–91)
Fallstudien und Werkstattberichte
Andrea Griesebner: Vom Brief zum Forschungsprojekt. Rekonstruktion des Forschungsprozesses oder Mikrogeschichte angewandt (92–105)
Norbert Schindler: Die Konflikte um das Salzburger Wetterläutverbot von 1785. Zum pragmatischen Gebrauch der Mikrogeschichte (106–120)
Norbert Franz: Handlungsspielräume ländlicher Gemeinden im 19. Jahrhundert. Zwei ostfranzösische Beispiele im mikrohistorischen Vergleich (121–138)
Robert Hoffmann: „Es ist dies der Ausfluß meines ‚in sich lebens’ gegenüber des äußeren Gesellschaftslebens“. Aus dem Tagebuch eines Gemischtwarenhändlers (139–154)
Hans Heiss: Der globale Ort. Franzensfeste/Fortezza: Festung, Dorf, Metapher (155–169)
Stefan Eminger: Die „Oberen“ und die „Unteren“. Eine Fallstudie zur Dorfpolitik in Niederösterreich zwischen Monarchie und Gemeindereform (1900–1960) (170–184)
Peter Melichar: Ein Fall für die Mikrogeschichte? Otto Enders Schreibtischarbeit (185–205)
Brigitte Entner: Ein Dorf in Aufruhr – widerständiges Handeln als kollektive Praxis? (206–221)
Franz Potscher: Mauthausen – Lebenswelten neben dem Konzentrationslager. Erfahrungen aus lebensgeschichtlichen Interviews (222–234)
Niklas Perzi: Kautzen und Český Rudolec: Zwillingsorte an der Systemgrenze? (235–250)
Grazia Prontera: Aufruhr für die Demokratie. Die apulische Landarbeiterbewegung (1949–1951) (251–265)
Johannes Hofinger: Mikrogeschichte und Oral History. Das Projekt MenschenLeben – Erzählebenen lebensgeschichtlicher Interviews und Fragen der Auswertung in der Sekundäranalyse (266–280)
Abstracts (281–288)