Die Beiträge dieses Themenheftes beruhen auf dem Workshop Vielvölkerreiche als Erfahrungswelten. Imperiale Biografien im langen 19. Jahrhundert, der im September 2021 an der Universität Oldenburg stattfand. Im Zentrum des Workshops stand die Auseinandersetzung mit der Frage, welche besonderen Rahmenbedingungen Großreiche für die Entfaltung historischer Biographien boten. Reflektiert werden sollten hierbei insbesondere die zahlreichen theoretischen Neuerungen in der Erforschung der imperialen Geschichte in den vergangenen beiden Jahrzehnten, die gelegentlich unter den Schlagworten imperial turn (David-Fox et al. 2006) bzw. new imperial history (Hirschhausen 2015) verhandelt werden. In diesen Begriffen werden eine Reihe von innovativen Forschungstendenzen gebündelt, darunter die Abkehr von einer dichotomischen Zentrum-Peripherie-Logik, der Einbezug der Perspektive ethnischer Minderheiten sowie ein stärkerer Fokus auf die Bedeutung „mentaler Landkarten“. Insbesondere wird der imperiale Raum hier nicht als vormoderne, defizitäre Vorstufe des Nationalstaats gedacht, sondern als politisches, kulturelles und administratives Gebilde sui generis. In diesem Verständnis brachte das Großreich eigene Ordnungsvorstellungen in Bezug auf die Gesellschaft, den Staat und dessen Territorium hervor.
Letzteres bedeutet, gewendet auf die autobiographische Erfahrung jener, die in den Imperien des 19. Jahrhunderts lebten, dass diese sich fundamental von nationalstaatlich geprägten Lebensbeschreibungen unterschieden. Genau dies reflektiert das von Malte Rolf und Tim Buchen entwickelte Konzept der imperialen Biografien (Buchen/Rolf 2014, 2015), das ausschließlich die Eliten der Großreiche in den Blick nimmt. Die grundlegende These lautet hier, dass es die Personen (meistens Männer) an der Spitze von Verwaltung, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft waren, die die Großreiche im Inneren zusammenhielten. Sie entwickelten mentale Konzepte vom imperialen Raum als zusammenhängendes Ganzes und tauschten sich in öffentlichen Foren darüber aus, repräsentierten gegenüber der Bevölkerung staatliche Autorität, waren kontinuierlich beruflich wie privat über weite Distanzen mobil und verbanden auf diese Weise die verschiedenen Reichsteile miteinander.
Der Oldenburger Workshop nahm diese Prämissen der imperialen Biografien kritisch unter die Lupe: Inwiefern eignet sich der biographische Ansatz dafür, eine Art von imperialer Kollektividentität nachzuzeichnen? Reproduziert die Engführung auf „große weiße Männer“ nicht eine problematische und verzerrte zeitgenössische Perspektive, die Minderheiten, Frauen und sozial minderprivilegierte Gruppen ausschließt? Wie tragfähig ist die Unterscheidung von „nationaler“ und „imperialer“ Biographie gerade auch mit Blick auf das späte 19. Jahrhundert, in dem ein in vielen Teilregionen aufblühender separatistischer Nationalismus einerseits und ein zentralistisch gesteuerter imperialer Nationalismus andererseits die entsprechenden Kategorien vermischte? Schließlich: Lässt sich die theoretische Komplexität von historisch-biographischer Forschung mit einer ansprechenden sprachlichen Darstellung vereinbaren? Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge sind ein Resultat dieses Diskussionsprozesses und entwickeln das Konzept der imperialen Biografien in neue Richtungen weiter