Eric Lindner ist eine bemerkenswerte Monographie über den Zigaretten-Konzern Reemtsma gelungen. Sie behandelt das Unternehmen aus der Sicht der Unternehmensleitung, vor allem der Brüder Philipp und Hermann Reemtsma, und beleuchtet diese beiden als Unternehmer, aber auch als private Persönlichkeiten in ihrem Familienumfeld. Der dritte Reemtsma, Alwin, war weniger entscheidend an der Unternehmensentwicklung beteiligt. Das Ergebnis ist eine mit Gewinn zu lesende Unternehmens- und Unternehmerfamiliengeschichte, die anschlussfähig an zentrale Fragen der Unternehmensgeschichte ist, wenngleich sie diese nicht analytisch, sondern die Reemtsma-Geschichte eher erzählend behandelt. Gelungen ist vor allem die Verknüpfung der Unternehmensentwicklung mit den Biographien der wichtigsten handelnden Akteure.
Die facettenreiche Entwicklung des Unternehmens kann hier nur skizziert werden. Sie begann 1909, als sich der Kolonialwaren-Großhändler Bernhard Reemtsma an der kleinen Erfurter Zigarettenmanufaktur „Dixi“ beteiligte. Reemtsma erkannte die Aussichten des Zigarettengeschäfts, übernahm 1910 auch die übrigen Geschäftsanteile und konzentrierte sich fortan auf diese Branche. Damals produzierten sieben Arbeiterinnen per Hand die nur regional abgesetzte Marke „Thüringer Gold“, während in den großen deutschen Produktionszentren Dresden, Berlin, Köln und Hamburg die Mechanisierung der Zigarettenherstellung bereits begonnen hatte. Ihren Durchbruch als „schnelles“ Konsumprodukt erlebte die Zigarette im Ersten Weltkrieg und in den 1920er-Jahren, als sie „Modernität“ symbolisierte. Der Name Reemtsma ist mit diesem Prozess eng verbunden, und der Aufstieg des Unternehmens fällt in diese Zeit.
Nach dem Ersten Weltkrieg bezog Reemtsma seine Söhne Philipp und Hermann immer stärker in die Geschäftsführung des nun „B. Reemtsma & Söhne“ firmierenden Unternehmens mit ein. Doch für die Vergrößerung des Unternehmens und für die Erzeugung hochwertiger, auch überregional absetzbarer Produkte fehlte den Brüdern trotz ihrer kaufmännischen Ausbildung in der Zigarettenbranche die erforderliche Kenntnis über das Naturprodukt Tabak und dessen Verarbeitung. Daher warben sie den Berliner Zigarettenhersteller David Schnur als Tabakeinkäufer und zur Bestimmung der Tabakmischungen ein und beteiligten ihn 1921 mit einem Drittel an der neuen „Reemtsma AG“. Die Basis für die Entwicklung zum Großkonzern lieferten die beiden Marken „R6“ und „Gelbe Sorte“, die Philipp Reemtsma, Schnur und der Werbefachmann Hans Domizlaff gemeinsam entwickelten.
1922 verlegte das Unternehmen seinen Sitz nach Hamburg. Dies hatte vor allem steuerliche Gründe, denn im Hamburger Freihafen konnte der Tabak bis zum Beginn der Zigarettenproduktion unbesteuert gelagert werden. Schon im folgenden Jahr ging eine moderne neue Fabrik in Betrieb. Reemtsmas erfolgreiche Strategie bestand darin, eine Zigarette mit durchgängig identischem Geschmack zu erzeugen und diese durch eine unverwechselbare Gestaltung der Verpackung und Werbung zu einem Markenprodukt zu machen, das die Konsumenten dauerhaft an das Produkt binden sollte. Dies war bei dem „Naturprodukt“ Zigarette keineswegs einfach, dessen Geschmack sich trotz aufwendiger Mischungen verschiedener Tabaksorten immer wieder beträchtlich unterschied. Doch mit der Expertise David Schnurs und anderer Fachleute besaß Reemtsma das entsprechende Know-how für den Einkauf sowie die Verarbeitung und mit Domizlaff einen außerordentlich kreativen Werbefachmann, die die gleichbleibende Qualität ausgezeichnet vermarkteten.
Seit der Mitte der 1920er-Jahre wuchs das Unternehmen beachtlich an. Ein Verdienst dieses Buches ist es zu schildern, mit welcher taktischen Raffinesse diese Angliederungen angebahnt und durchgeführt wurden, nämlich keineswegs immer „gentleman-linke“, sondern auch am Rande der Legalität und alle sich bietenden Möglichkeiten nutzend. Die Führungsgesellschaft des entstehenden Konzerns wurde Ende der 1920er-Jahre in die Niederlande verlegt („N.V. Caland“) und Reemtsma 1929 in eine nicht veröffentlichungspflichtige GmbH mit einem Gesellschaftsvermögen von 30 Millionen Reichsmark umgewandelt. Damals erreichte der Gesamt-Konzern mit 16.000 Beschäftigten einen Marktanteil von etwa 35 Prozent und war damit der größte Zigarettenhersteller Deutschlands. Die Unternehmen und ihre Marken wurden allerdings unabhängig voneinander geführt. Diese Marktposition konnte in der NS-Zeit gehalten und weiter ausgebaut werden. Dazu später mehr.
Im Zweiten Weltkrieg wurde ein großer Teil der Fabriken, Tabakspeicher und anderer Gebäude des Unternehmens zerstört oder schwer beschädigt. Nach Kriegsende wurde das Unternehmen von Treuhändern verwaltet, weil Philipp Reemtsma der Unterstützung des NS-Regimes verdächtig war. Er wurde zu einer Geldstrafe von zehn Millionen Mark verurteilt, führte das Unternehmen aber schnell wieder an die Spitze der Branche und erreichte bereits 1952 wieder einen Marktanteil von 35 Prozent. Der Unternehmenserbe Jan Philipp Reemtsma verkaufte 1980 seine Anteile an den Kaffeegroßhändler Herz (Tchibo), 2002 schließlich übernahm der britische Multi „Imperial Tobacco“ das Unternehmen.
Diese kurze Skizze wird der Gewichtung des Buches nicht ganz gerecht, denn der Aufstieg des Unternehmens in den 1920er-Jahren macht nur ein Zehntel des Buchumfangs aus. Sie ist hier jedoch angeführt, weil sie generelle Fragen der Unternehmensentwicklung vor allem in den 1920-Jahren streift, etwa die strategische Unternehmensentwicklung, die Funktion von Expertenwissen, das Marketing, die Konzernbildung und vieles andere mehr. Ein Problem ist dabei der etwas einseitige Aktenbestand, denn die Reemtsma-Perspektive herrscht vor. „Haus Neuerburg“ beurteilt beispielsweise seine Übernahme durch Reemtsma völlig anders, doch die Quellenbestände hierzu sind gering.
Die Dimensionen des Reemtsma-Konzerns und dessen Einbindung in die Kartellstrukturen der Zwischenkriegszeit machen das Buch im ersten Teil zu einer Branchengeschichte, die für die Zigarettenindustrie bislang nicht vorlag. Der Schwerpunkt des Buches befasst sich allerdings mit der NS-Zeit und der Frage nach den persönlichen Verstrickungen der Reemtsma-Brüder, der auch in der medialen Reaktion auf das Buch auf das größte Interesse stieß. Die beiden Reemtsma-Brüder erscheinen bei Lindner nicht als „Nazis“ (der unternehmerisch weniger wichtige Bruder Alwin war Mitglied in verschiedenen NS-Organisationen), sondern als Zigarettenfabrikanten, die alle Möglichkeiten dazu nutzten, Geld zu verdienen. Dahingehend wurden auch in der NS-Presse spätestens seit Mitte des Jahres 1932 massiv Anzeigen geschaltet, denn auch die Nationalsozialisten sollten Reemtsmas Zigaretten rauchen.
Nach der Machtübertragung an die NSDAP geriet die Firma zunächst unter Druck. Dies betraf ein jüdisches Vorstandsmitglied, aber auch die zum Teil fragwürdigen Geschäftspraktiken des Unternehmens in der Weimarer Zeit, die es ermöglichten, eine Ermittlung wegen Beamtenbestechung und Korruption einzuleiten. Gegen eine erpresste „Spende“ von drei Millionen Reichsmark schlug Hermann Göring jedoch 1934 alle Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen nieder. Den Kontakt hatte Philipp Reemtsma selbst gesucht, doch übte Göring auch in den folgenden Jahren Druck auf Reemtsma aus. Insgesamt „spendete“ ihm das Unternehmen mehr als zwölf Millionen Reichsmark, ein Betrag, der sich später vor allem in Hinsicht auf Lieferungen an die Wehrmacht auszahlte. Den späteren Vorwurf, Reemtsma habe sich „gewünscht“ erpressen lassen, konnte die Staatsanwaltschaft nicht belegen.
Die Werbung des Unternehmens richtete sich an der NS-Propaganda aus, so zum Beispiel durch Sammelbildserien wie „Deutschland erwacht – Werden, Kampf und Sieg der NSDAP“ oder „Adolf Hitler“. Mit den zugehörigen Alben wurde ein durchaus beachtlicher Ertrag erzielt. Für diese Aktivitäten ist keine Zwangslage zu erkennen, sondern sie stellten eine Anpassung an das Regime und den Massengeschmack dar, waren also erfolgreiches Marketing.
In einer gewissen Weise bestätigt also die Reemtsma-Geschichte die zuletzt verstärkt diskutierte These, dass nämlich die Unternehmen im Nationalsozialismus weniger gezwungen wurden, sich systemkonform zu verhalten, sondern die Anreiz-Strukturen der NS-Wirtschaft vielmehr günstige Gewinnmöglichkeiten schufen.1 Damit ist die Frage nach der Moral und der Verantwortung des Unternehmers (nicht des Unternehmens) gestellt. Wozu ist ein Unternehmer – oder ein Aktionär – bereit, um Geld zu verdienen? Thomas Dunning hat die Frage nach der unternehmerischen Moral schon im Jahr 1860 mit der Höhe des Profits beantwortet: „Zehn Prozent sicher, und man kann [das Kapital, A.R.] überall anwenden; [...] für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens [...] Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“2
Gegenüber der spannenden Analyse für die Zwischenkriegszeit bleibt die Behandlung der Unternehmensgeschichte nach dem Tod Philipp Reemtsmas im Jahr 1958 relativ blass. Der Schlussteil des Buches beschäftigt sich mit der Frage, was aus dem Ertrag des Unternehmens geworden ist, nachdem sich Jan Philipp Reemtsma 1980 von der Beteiligung getrennt hat. Die Geschichte ist weitgehend bekannt (Literaturförderung, Hamburger Institut für Sozialforschung etc.). Sie wäre aus einer engen unternehmenshistorischen Sicht verzichtbar, ist aber mit Blick auf die Frage nach der Verantwortung von Unternehmern dennoch interessant. Denn mit Blick auf die Verwendung des in der Vergangenheit erzielten Gewinns durch den Erben zeigt sich: Niemand ist gezwungen, sein Geld zu vermehren.
Anmerkungen:
1 Vgl. Spoerer, Mark, Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrendite der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925-1941, Stuttgart 1996; Buchheim, Christoph, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime: Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351-390.
2 Dunning, Thomas Joseph, Trades’ Unions and Strikes. Their Philosophy and Intention, London 1860, S. 35f., zit. nach: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (= MEW 23), Berlin (DDR) 1962, S. 788.