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Titel
Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Klein, Thoralf
Erschienen
Paderborn 2007: UTB
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 18,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicola Spakowski, School of Humanities and Social Sciences, Jacobs University Bremen

Mit der „Geschichte Chinas von 1800 bis zur Gegenwart“ hat Thoralf Klein, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Ostasiatische Geschichte der Universität Erfurt, eine in ihrem theoretischen Zugriff wohlbegründete, in der Darstellung der Fakten exakte und stilistisch klare Gesamtdarstellung der neueren Geschichte Chinas vorgelegt. Sie versteht sich als „ein für Studenten und interessierte Laien benutzbares Handbuch zur Geschichte Chinas“ (S. 9) und kann als solches uneingeschränkt empfohlen werden. Tatsächlich füllt das Buch eine Lücke im deutschsprachigen, wenn nicht sogar internationalen Raum, indem es einen Geschichtsabriss liefert, der ausführlich genug ist, um zentrale Aspekte der neueren chinesischen Geschichte plausibel und anschaulich darzustellen, und gleichzeitig kompakt genug, um als einführende Lektüre auch tatsächlich gelesen zu werden.

In einem fünfzehnseitigen theoretischen Vorspann („Die Geschichte Chinas erzählen“) legt Thoralf Klein in Auseinandersetzung mit den Meistererzählungen der neueren Geschichte Chinas seinen eigenen Ansatz dar. Hierzu gehört zunächst die Entscheidung für einen vorwiegend systematischen Zugriff, der durch den chronologischen Überblick des zweiten Kapitels („Epochen, Entwicklungen, Ereignisse: Die Geschichte Chinas seit 1800 im Überblick“) lediglich ergänzt wird. Die Systematik wiederum orientiert sich an den drei großen Meistererzählungen der China-Geschichtsschreibung (Revolution, Modernisierung/Moderne, Nation), wandelt diese aber unter Berücksichtigung jüngerer Forschungsansätze ab und fügt sie zu einem als „multiperspektivisch“ bezeichneten Ansatz zusammen. Ausgewogenheit und Facettenreichtum der Darstellung dürften in diesem Ansatz ihre Erklärung haben.

Am weitesten entfernt sich Thoralf Klein vom Revolutionsparadigma, das die China-Geschichtsschreibung und insbesondere Abrisse der neueren Geschichte Chinas bis in die 1980er-Jahre hinein dominiert hat und hierin mit dem in der Volksrepublik dominanten Deutungsschema der chinesischen Geschichte als Revolutionsgeschichte weitgehend korrelierte. Er selbst führt gegen diesen Ansatz vor allem ins Feld, dass er unmöglich für das Verständnis des gesamten Untersuchungszeitraumes taugt und zudem Brüche im Herrschaftssystem überbetont. Thoralf Klein selbst beantwortet die Frage nach den politischen Strukturen des modernen China in zwei Kapiteln. Unter der Überschrift „Politische Strukturen zwischen Kontinuität und Wandel“ (Kapitel 3) konzentriert er sich auf die „ideologischen Legitimationen, die jeweiligen Versuche, Regeln für den politischen Prozess zu entwerfen, und die Kontinuität personeller Faktoren, die das jeweilige Regelwerk unterminierten“ (S. 25). Konkret heißt dies: ideologische Strömungen, Verfassungen, informelle Politik durch Führer und Netzwerke. Das vierte Kapitel verfolgt die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Herrschaft und Gesellschaft“ – so die Überschrift –, die von Forschungen zur Zivilgesellschaft inspiriert ist. Konkret geht es um soziale Strukturen (Bevölkerungsentwicklung, gesellschaftliche Organisationsformen, Klassen und Rollen), um staatliche Kontroll- und Mobilisierungsmechanismen und um Formen von Dissens und Protest, die als Indizien für die Entstehung einer „rudimentären“ (S. 25) Zivilgesellschaft aufgefasst werden.

„Moderne“ fasst Thoralf Klein als „in sich widersprüchlichen Prozess“ (S. 28) auf. Im Gegensatz zu älteren Deutungen einer allein durch den Westen angestoßenen Modernisierung Chinas (impact-response-Modell) bzw. einer geradlinigen Entwicklung von traditionellen zu modernen Strukturen von Staat und Gesellschaft fragt Klein nach „dem sich wandelnden Verhältnis von Eigenem und Fremdem, nach dem Fortbestand des Alten in den neuen historischen Formationen, nach den unterschiedlichen räumlichen Strukturen und Geschwindigkeiten, in und mit denen sich der Wandlungsprozess vollzog, und auch nach dessen Schattenseiten“ (S. 28). Das entsprechende fünfte Kapitel heißt „Widersprüche und Spannungsfelder der Moderne“ und thematisiert Modernisierungsdiskurse und -modelle, Industrialisierungsprozesse und agrarpolitische Ansätze, Reformen von Bildung und Wissenschaft, das Verhältnis von Stadt und Land sowie Fragen von Religion, Säkularisierung und Religionspolitik.

Innerhalb der Forschungen zu Nationalismus und Nationalstaatsbildung positioniert sich Thoralf Klein auf der Seite von Postmoderne und transnationaler bzw. Globalgeschichte. Die ältere Auffassung eines Übergangs vom Kulturalismus (China als Zentrum einer von der chinesischen Kultur durchdrungenen Welt) zum Nationalismus (China als Teil eines Systems gleichberechtigter Nationalstaaten) wird hier dadurch aufgebrochen, dass auf konkurrierende Visionen einer chinesischen Nation und insbesondere die Einbindung Chinas in globale Prozesse und Ordnungen verwiesen wird. Das sechste Kapitel befasst sich somit mit „Internationalisierung und Nationalismus“ und behandelt konkret Chinas Position in und Interaktion mit der Weltgesellschaft unter den wechselnden globalen Machtkonstellationen bzw. internationalen Interaktionsfeldern von Imperialismus, internationalen Konferenzen und Kaltem Krieg sowie aktuelle Entwicklungen, die von Chinas Eingliederung in internationale Organisationen und Großmachtrivalitäten geprägt sind. Zusätzlich werden in diesem Kapitel Taiwan, Migration und die chinesische Diaspora sowie die ethnischen Minderheiten Chinas behandelt.

Die strukturelle Klarheit und Bündelung von Phänomenen unter großen Problemkreisen gewährleistet, dass trotz thematischer Vielfalt keine Verwirrung entsteht. Jedes Kapitel ist in sich geschlossen und verständlich. Kapitel und Unterkapitel werden jeweils mit einer Zusammenfassung eingeleitet, die auf die im theoretischen Teil skizzierten großen Prozesse zurückverweist. Ergänzt wird die Darstellung durch Illustrationen sowie farblich abgehobene Textblöcke, in denen bestimmte Phänomene durch Fallbeispiele, Biographien oder Primärquellen illustriert werden. In der Auswahlbibliographie am Ende des Bandes wird die einschlägige Literatur zu den behandelten Themen aufgelistet.

Thoralf Kleins „Geschichte Chinas“ unterbricht erstmals eine lange Reihe von Geschichtsabrissen, in denen sich die neuere Geschichte Chinas als Abfolge zunehmend radikaler „stages of revolution“ darstellt, die in der kommunistischen Revolution und Machtergreifung ihren Höhepunkt und ihr (vorläufiges) Ziel erreicht haben. In Thoralf Kleins Darstellung treten die kommunistische Revolution und ihre Akteure dafür sehr weit in den Hintergrund. Tatsächlich erfahren die Leser mehr über liberale Eliten und bürgerliche Gruppen als über die Bevölkerungsmehrheit von Bauern und Arbeitern sowie deren Anteil an der Transformation Chinas. Hier wird der liberalen Wende in der China-Geschichtsschreibung der letzten Jahre unnötig weit nachgegeben bzw. der Anspruch der Multiperspektivität nicht ganz eingelöst. Der Verfasser selbst liefert die Hilfsmittel, sich zusätzlich kundig zu machen. Insgesamt hat er ein Werk vorgelegt, das in seiner Bezugnahme auf die allgemeingültigen Fragen der Moderne einer Integration Chinas in den Horizont der „allgemeinen“ Geschichte äußerst zuträglich sein dürfte.

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