B. Immenhauser: Bildungswege - Lebenswege

Cover
Titel
Bildungswege - Lebenswege. Universitätsbesucher aus dem Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert


Autor(en)
Immenhauser, Beat
Reihe
Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 8
Erschienen
Basel 2007: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 68,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Gramsch, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Sozialgeschichte der mittelalterlichen Universitätsbesucher ist ein im Vergleich zu anderen Sparten des universitätsgeschichtlichen Genres relativ junges Forschungsfeld, das aber gerade in den letzten zwei Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen hat – ein Verdienst vor allem von Rainer Christoph Schwinges, der auch die hier zu besprechende Berner Dissertation von Beat Immenhauser betreut hat.1

Ausgangspunkt der Untersuchung Immenhausers ist die Gesamtheit der „Personen, die aus dem Bistum Konstanz stammten und die sich zwischen 1430 und 1550 an einer oder mehreren Universitäten immatrikulieren ließen“ (S. 15). Für 14.812 Konstanzer Diözesanen kann Immenhauser für den genannten Zeitraum ein Studium nachweisen, deren Lebenswege in einem „Schleppnetzverfahren“ weiter zu recherchieren (dazu S. 19f.) und schließlich auszuwerten waren. Was das heißt, zeigt schon eine einfache Hochrechnung: Wenn man zwei Jahre allein auf die biographische Recherche verwendet, kann man so jedem einzelnen Studenten gerade eine Viertelstunde Arbeitszeit widmen! Dass hier schon angesichts der Forschungsökonomie große Abstriche an der Vollständigkeit der Datenerhebung zu machen waren, ist mithin von vornherein klar. Doch kommt Immenhauser, der für immerhin 28 % seiner Untersuchungsgruppe mindestens eine Laufbahnstation nach dem Studium gefunden hat und der im übrigen akribische Erwägungen über die „Dunkelziffer“ anstellt (S. 246-254), zu durchweg tragfähigen und reichen Ergebnissen.

Der Ansatz, alle Universitätsbesucher einer Diözese zu untersuchen, dient vornehmlich dem Zweck, die Sozialgeschichte der Studierten mit der Kulturgeschichte einer Region zu verbinden. Der konzeptionelle Einfluss des von Rainer C. Schwinges geleiteten „Innovationsräume“-Forschungsprojekts, in dessen Rahmen die Dissertation entstand, ist hierbei unverkennbar.2 Freilich bleibt der spezifische Ertrag dieser Perspektivenerweiterung relativ diffus, schon allein, weil die Möglichkeit des überregionalen Vergleichs fehlt. Nehmen wir die Arbeit also als das, was sie ist – eine prosopographische Großstudie, die sich die Frage nach den Karrierehoffnungen und -chancen mittelalterlicher Akademiker sowie nach den sich wandelnden Bedingungen ihres Wirkens in der Gesellschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit stellt.

Die Vielzahl der Einzelergebnisse kann hier auch nicht annähernd vollständig referiert werden, vieles ist im Grundsatz auch schon aus anderen Arbeiten bekannt. Ein Vorzug der Studie von Immenhauser ist sicher die Vollständigkeit, mit der alle potentiellen Tätigkeitsbereiche von Akademikern ausgeleuchtet werden – auch solcher, die sonst mangels (akademischer) Prominenz der Akteure eher unterbelichtet bleiben. An dem so gezeichneten Bild fällt freilich vor allem eines auf – dass nämlich Studium und Akademikerkarrieren in den Dezennien um 1500 überwiegend unspektakuläre Dinge waren. Man gewinnt auch nicht unbedingt den Eindruck, dass der deutsche Südwesten, der seit 1477 immerhin drei Universitäten besaß, ein besonders exzellenter „Innovationsraum“ gewesen sei.

Nach der Einführung (Kapitel 1) untersucht Immenhauser im Kapitel 2 die allgemeine Frequenzentwicklung sowie die soziale Zusammensetzung der Universitätsbesucherschaft. Bemerkenswert ist, dass der Universitätsbesuch aus dem Konstanzer Diözesanraum erst „verhältnismäßig spät den Anschluß an den reichsweiten akademischen Bildungserwerb gefunden hat“ (S. 232). Warum das so war, bleibt offen. Immerhin wäre doch etwa zu bedenken, dass gerade die Konstanzer Diözesanen in den Jahrzehnten um 1300 einen weit überproportionalen Anteil der deutschen Besucherschaft der Universität Bologna stellten – damals der wichtigsten Anlaufstelle deutscher Studenten überhaupt.3 Gerade hier hätte man sich von einer Arbeit, die dezidiert auf eine vergleichende Bildungsgeographie zielt, etwas mehr erwartet. Da Immenhauser seine Untersuchung über die Epochenschwelle hinaus bis 1550 zieht, kann er die tiefgreifenden Umwälzungen im Studierverhalten, den zeitweiligen Zusammenbruch der universitären Besucherzahlen im Gefolge der Reformation sehr gut nachzeichnen.

Das umfangreiche Kapitel 3 unterzieht die erreichten Positionen und Funktionen Konstanzer Universitätsbesucher einer eingehenden Untersuchung. Erwartungsgemäß dominiert der kirchliche Bereich total: Etwa 80 % der Diözesanen mit bekanntem Lebenslauf waren ins kirchliche Pfründensystem eingebunden (S. 256), wobei hier natürlich die Nachweisquote tendenziell deutlich höher sein dürfte als im weltlichen Bereich. Für die ersten Jahrzehnte des Untersuchungszeitraums hätten sich zudem auf relativ bequeme Weise wohl noch zahlreiche weitere Funde machen lassen, wenn nicht unverständlicherweise die größte serielle Quelle zur Personengeschichte des spätmittelalterlichen Klerus, die bis 1471 durch das Repertorium Germanicum erschlossene vatikanische Überlieferung, außer Acht gelassen worden wäre. In städtischen und landesherrlichen Diensten lassen sich hingegen jeweils nur gut 10 % der Konstanzer Universitätsbesucher nachweisen (S. 438 und S. 506). Das Spektrum der in diesen drei übergeordneten Tätigkeitsbereichen anzutreffenden „beruflichen“ Tätigkeiten ist ausgesprochen breit und wird kenntnisreich entwickelt. Viele Befunde würden eine Erwähnung verdienen – etwa zu den ausgesprochen „professionalisierten“ Tätigkeiten von Predigern (S. 349-360) oder Ärzten (S. 421-436), aber auch zu Ämtern ohne akademisches Anforderungsprofil, in denen sich dennoch überraschend viele Studierte finden lassen, seien es städtische Ratsherren (S. 368-378) oder landesherrliche Vögte (S. 478-486).

Bilanziert werden die wichtigsten Resultate der Untersuchung in mehreren eingestreuten „Zwischenergebnissen“ und in einem knapp zehnseitigen Fazit. Beigegeben ist ein Personen- und Ortsregister, ein Sachregister fehlt, ist aber angesichts des systematischen Aufbaus des Werkes auch entbehrlich.

Immenhauser bietet dem Leser einen umfassenden Überblick über den spätmittelalterlichen Bildungsaufbruch in einer wichtigen deutschen Region, ein Bildungsaufbruch, der freilich überwiegend in die Breite, weniger in die Tiefe ging. Die „Akademisierung“ blieb in Vielem noch sehr oberflächlich, ja es gab örtlich beziehungsweise in manchen Tätigkeitsfeldern sogar rückläufige Tendenzen (S. 274ff., 386f., 401f.). Die Reformation schuf dann wiederum völlig neue Bedingungen.

Bei allem Lob, das diese Arbeit verdient, sollen doch zuletzt noch zwei Kritikpunkte angesprochen werden. Zum einen verzichtet Immenhauser auf eine Offenlegung seiner prosopographischen Datenbasis. Das schränkt die Überprüfbarkeit der Ergebnisse ein (die bei solch groß angelegten Untersuchungen zwar eher eine theoretische ist, aber dennoch). Zudem kann das Zurückhalten einmal gewonnener Rechercheergebnisse, auf die weitere Forschungen aufbauen könnten, grundsätzlich nicht befriedigen. Aber das muss ja im Zeitalter elektronischer Medien noch nicht das letzte Wort sein. Zum Zweiten sieht es so aus, als habe Immenhauser nicht alle Möglichkeiten genutzt, sein Material statistisch zu erschließen. Die zahlreichen Tabellen, Graphiken und Karten täuschen leicht darüber hinweg, dass sich aus ihnen kein Gesamtbild der Konstanzer Universitätsbesucherschaft ergibt, in welchem die einzelnen Gruppen (nach Herkunft, nach Studiengang, nach späterem Lebensweg) in ihren wesentlichen Karriereparametern (und auch noch in zeitlicher und regionaler Differenzierung) einander gegenübergestellt werden. Hier wird Erkenntnispotential verschenkt. Immenhausers Zurückhaltung gegenüber elaborierteren statistischen Methoden erweckt den Eindruck, dass er seiner Datenbasis doch nicht ganz getraut hat. Und so bleibt zuletzt ein Restzweifel bestehen, ob er mit einer derartig groß dimensionierten Untersuchung wirklich den Königsweg zur Erkenntnis gewählt hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. als jüngsten Forschungsüberblick zum Thema: Schwinges, Rainer Christoph, Das Reich im gelehrten Europa. Ein Essay aus personengeschichtlicher Perspektive, in: Schneidmüller, Bernd; Weinfurter, Stefan (Hrsg.), Heilig - römisch - deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, Dresden 2006, S. 227-250.
2 Siehe etwa S. 25-35 und 67-75. Vgl. hierzu Schwinges, Rainer C.; Messerli, Paul; Münger, Tamara (Hrsg.), Innovationsräume - Woher das Neue kommt in Geschichte und Gegenwart, Zürich 2001; sowie die Projektskizze „Innovationsräume. Wissen und Raumentwicklung im Reich des späten Mittelalters“ unter http://www.hist.unibe.ch/content/forschungsprojekte/innovationsraeume/index_ger.html (abgerufen am: 11.12.07).
3 Vgl. Schmutz, Jürg, Juristen für das Reich. Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265-1425 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 2), Basel 2000, S. 69-77. Natürlich lässt sich die Bologneser Juristenfrequenz nicht direkt mit der vor allem durch Artisten geprägten Besucherfrequenz deutscher Universitäten des 15. Jahrhunderts vergleichen. Aber wenn wir die Juristen als das „Sahnehäubchen“ auf einem breiten Sockel bildungswilliger Schichten begreifen, stellt diese hohe Juristendichte im Bistum Konstanz um 1300 doch eine bemerkenswerte Kontrastfolie zur relativen Bildungsferne der Konstanzer Diözesanen im 15. Jahrhundert dar.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch