Wenn die Biografie eines Journalisten, der wie kaum ein anderer eine Person der Zeitgeschichte war, von einem renommierten Publizisten geschrieben wird, dem wir bereits etliche große Biografien verdanken und der zudem einige Jahre „Spiegel“-Mitarbeiter war, dann verspricht das eine ebenso ergiebige wie anregende Lektüre. Diese Erwartung wird mit dem vorliegenden Buch über Rudolf Augstein nicht enttäuscht. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn die richtige Balance aus verstehender Nähe und kritischer Distanz dürfte in diesem Fall besonders schwierig sein, sie scheint mir jedoch rundherum überzeugend gelungen.
Familiäre Hintergründe, ein rheinisch-katholisches Milieu, das dann in der Diaspora im protestantischen Hannover, wo Augstein aufwuchs und das Gymnasium besuchte, seine Spuren hinterließ, prägende Kriegserfahrungen an der Ostfront, die journalistischen Anfänge in Hannover mit der Förderung durch seinen Mentor Friedrich Rasche, pittoreske Zufälle bei der Lizenzierung durch die Militärregierung, die gnadenlose Verrisse seines ersten und einzigen existenzialistisch gefärbten Theaterstücks „Die Zeit ist nahe“ – das sind einige Themen der „Vorgeschichte“.
Da Anfänge zumeist von besonderem Interesse sind, fällt das Kapitel zur Entstehungszeit des „Spiegel“ ebenso ausführlich wie ergiebig aus. „Ehrfurchtsverweigerung als Programm“ ist es überschrieben. Nicht nur der bekannte schnoddrige Stil des Magazins sind das Thema, sondern auch die Nachwirkungen des Landserjargons, die Polemik gegen „die Alten“ und die langsame Herausbildung des eigenen politischen Profils. Dazu gehörten die gerade für die Anfangsphase in der bundesdeutschen Presselandschaft aus dem Rahmen fallenden großen zeithistorischen Serien (zum Beispiel 1949/50 über den Chef der deutschen Kriminalpolizei und späteren Widerständler Arthur Nebe in 30 Folgen). Auch dass Augstein bei derartigen Serien keinerlei Berührungsängste gegenüber hohen ehemaligen Nazis hatte, gehört in diesen Zusammenhang.
Unter dem Pseudonym „Jens Daniel“ profilierte sich Augstein, der bei allem linken Selbstverständnis des „Spiegel“ im Kern immer ein nationaler Liberaler war und blieb, zum wohl schärfsten Kritiker der Adenauerschen Außen- und Deutschlandpolitik. Vor allem die Wiederbewaffnung und ihre Folgen für die Wiedervereinigung bildeten den politischen Stein des Anstoßes und der sich erst allmählich herausbildenden, dann aber immer schärfer werdenden Fehde mit dem Kanzler. Die Jens-Daniel-Kolumnen wurden 1953 sogar als eigenes Taschenbuch gedruckt. Aber nicht traditioneller Nationalismus, sondern ein ausgeprägter Patriotismus lag dem „beinahe blindwütigen Engagement“ für die „Brüder im Osten“ (S. 184) nach Merseburger zugrunde. Das motivierte ihn auch früh zum Verzicht auf die Ostgebiete und macht ihn zum Anhänger von Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“. Die Härte der Gegnerschaft zu Adenauer sollte jedoch nicht verdecken, dass dahinter ein hohes Maß an politischem Respekt steckte. Merseburger zitiert Augstein aus einem seiner letzten Interviews, in dem er über seine Begegnung mit Adenauer 1966 urteilt: „Er war der größte Politiker, dem ich je begegnet bin. Wir haben uns umarmt und versöhnt.“ (S. 213)
Anders dagegen Strauß: Erst mit Augsteins jahrelangem Kreuzzug gegen den barocken Machtmenschen aus Bayern wurde dieser für die linke Intelligenz zum Symbol von Aggressivität und Machtversessenheit, zum „Abziehbild des Bösen schlechthin“ (S. 232). Die dramatische Spiegelaffäre von 1962 wird noch einmal in ihren Hintergründen und personellen Verflechtungen mit kriminalistischem Gespür dargestellt. Auch Augsteins berühmte Bibelglosse aus der Haft, die ihm eine Flut von Leserbriefen eintrug, findet gebührende Erwähnung. Die Spiegelkrise war der Höhepunkt eines ungleichen Zweikampfes und wurde mit ihrem öffentlichen und auch von Augstein nicht erwarteten Sturm der Entrüstung zu einer wichtigen Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik, wie Merseburger zu Recht nachdrücklich hervorhebt. Allerdings bezweifelt er auch, ob Augstein den massiven Vorstoß aus Bonn mit dem Vorwurf des Landesverrats ohne diese öffentliche Empörung und ohne Rebellion von FDP und SPD im Parlament durchgehalten hätte. Denn zunächst präsentierte sich Augstein keineswegs als Volkstribun, sondern versuchte sich wegzuducken, stand doch die Existenz seines Blattes auf dem Spiel. Nach zeitweiliger Versöhnung lebte die Feindschaft zu Strauß mit dessen Kanzlerkandidatur 1980 wieder auf.
Nach der Spiegelaffäre wurde zwar nicht alles aber einiges anders. Merseburger konstatiert eine neue Phase, in der Augstein nach neuen Aufgaben suchte und zunehmend zu seinem Kampagnenmagazin auf Distanz ging. Das mag überspitzt sein, aber die vielen gescheiterten Versuche mit neuen Zeitungsgründungen oder Beteiligungen an anderen Blättern sprechen dafür. „Wäre ich ein junger Mann von 23 Jahren“, schrieb er an Bucerius, „würde ich, sofern ich Journalist werden wollte, schwerlich zum Spiegel gehen, sondern viel eher zur Zeit.“ (S. 323) Dieser Satz ist wohl erhellend für Augsteins nie ganz verschwundene Zwiespältigkeit. Zu den persönlichen Ausbruchsversuchen gehörten der Ausflug in die Politik mit dem „Treibsatz“ der FDP und die intensive Betätigung als aufklärerischer Amateurhistoriker. Ein Glanzstück bissig-ironischer Präsentation ist Merseburgers Schilderung von Augsteins Wahlkampf 1972 im tiefschwarzen Wahlkreis Paderborn-Wiedenbrück, in dem er mit Rainer Barzel konkurrieren musste. Die bemerkenswerten historischen Monographien zu Friedrich II. und Jesus, aber auch die Titelgeschichten über Bismarck, Hitler, Stalin und andere Themen werden treffend und plastisch charakterisiert. Kritik an seinen historischen Büchern richtet sich vor allem auf die Methode: sie ähnelt oft der Anklage des Staatsanwalts und das Plädoyer wird allzu sehr vollgestopft mit Details. Zum größten journalistischen Erfolg rechnet Merseburger die Spiegelserie über den Reichstagsbrand von Fritz Tobias.
Mit der Studentenbewegung ergab sich für Augstein insofern eine schwierige neue Konstellation, als er zwar stets heftig gegen „das Establishment“ zu Felde gezogen war, nun aber selber dazugerechnet wurde. Dennoch sympathisierte er mit der Protestbewegung und galoppierte „gelegentlich ziemlich ungezügelt mit dem Zeitgeist“ (S. 400), obwohl er gegenüber den Zielen der radikalen Wortführer skeptisch blieb.
Die letzten Kapitel gelten neben den internen Querelen im „Spiegel“ um ein Statut für die Mitarbeiter diversen „großen Themen“ der Innen- und Außenpolitik, zu denen sich Augstein dezidiert und häufig wider aller politischen correctness äußerte. Hier wird bisweilen die Schwierigkeit sichtbar, den Stoff zu bändigen. Denn die Fülle der knapp referierten Themen, mit denen sich Augstein befasste, wirkt zuweilen etwas additiv. Die „Sorge um das Lebenswerk“ wird dann zu einem fast bedrückenden Kapitel. Das unstete Verhalten, seine Beziehungsprobleme mit Frauen, die Kämpfe um die Beteiligung der Mitarbeiter, die oft zerfasernden Kolumnen, die autoritären Allüren im Umgang mit den Redakteuren, die wachsende Einsamkeit seit Mitte der 1980er-Jahre und der allmähliche Verfall durch den Alkoholismus – das alles verursacht einen schalen Beigeschmack in der Erfolgsgeschichte eines großen Journalisten. Dennoch ist Merseburgers Fazit eindeutig: das „Verehrungsverweigerungsgenie“ hat mit dem „Spiegel“ wesentlich dazu beigetragen, „den Deutschen obrigkeitsstaatliches Denken auszutreiben“ (S. 544).
Merseburgers Buch fasziniert neben der Materialfülle durch einen glänzenden, treffenden und nie überzogenen Stil, aber auch durch eine gezielte „Uneindeutigkeit“, wenn Sachverhalte, Motive oder Zusammenhänge nicht sicher aufzuklären sind. Viele als Fragen formulierte Sätze deuten dann an, wie es gewesen sein könnte. Beeindruckend sind die stupende Personenkenntnis und die Fähigkeit, komplizierte personelle und wirtschaftliche Zusammenhänge zu rekonstruieren, ohne dass dabei der personalisierte Spiegel-Jargon entsteht. Die erkennbare Sympathie für den „Helden“ verstellt nie die ebenfalls erkennbare fragende Distanz. Insgesamt ist dem Autor erneut wie schon mit der Brandt-Biografie 1 ein hervorragender biografischer Beitrag zur jüngeren Zeitgeschichte gelungen.
Anmerkung:
1 Merseburger, Peter, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002; vgl. Siegfried Schwarz: Rezension zu: Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist. München 2002. In: H-Soz-u-Kult, 08.01.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-009>.