Titel
Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen


Herausgeber
Hahn, Hans-Werner; Klinger, Andreas; Schmidt, Georg
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 394 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edgar Liebmann, Lehrgebiet: Neuere Deutsche und Europäische Geschichte, FernUniversität in Hagen, Historisches Institut

Zwischen 1789 und 1815 liegt 1806. Dominierten früher die Einschnitte von Französischer Revolution und Wiener Kongress die Geschichtsschreibung, so rückt seit einigen Jahren zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft zusätzlich das Jahr 1806 in den Mittelpunkt des Interesses. Begünstigt durch den ‚runden‘ Anlass der zweihundertjährigen Erinnerung kommen die entsprechenden Forschungsimpulse dabei im Wesentlichen aus drei Forschungskontexten. Aus der Perspektive des Alten Reiches stellte zuletzt prononciert Wolfgang Burgdorf das gängige Bild von dessen ‚sang- und klanglosem‘ Ende im August 1806 in Frage.1 Gleichzeitig bietet der im Juli 1806 begründete napoleonische Rheinbund einen wichtigen Bezugspunkt. Mit Ausnahme Preußens und Österreichs bildete er für fast alle übrigen deutschen Territorien bis 1813 den äußeren Rahmen politischer Ordnung; unter seinem Dach entstanden die ersten geschriebenen Verfassungen in Deutschland, wie erst jüngst nochmals in aller Deutlichkeit hervorgehoben wurde.2 Eine lange, wenn auch wechselvolle Forschungstradition hat demgegenüber die Beschäftigung mit dem auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstedt ebenfalls 1806 (am 14. Oktober) untergegangenen, ‚alten‘, friderizianischen Preußen.3

Pünktlich zum 200. Jahrestag dieser Schlacht hatte der Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ zu einer Tagung nach Jena eingeladen, deren Beiträge nun in gedruckter Form vorliegen. Dabei geht es nicht um eine Geschichte der Schlacht im engeren Sinn, die jüngst an anderen Stellen nochmals umfassend aufgearbeitet wurde.4

Stattdessen soll das Jahr 1806 „im europäischen Kontext“ beleuchtet werden, so der nicht ganz glückliche Titel des Sammelbandes: Beginnend mit der instruktiven und kompetenten Einleitung von Hans-Werner Hahn beziehen sich nämlich die Beiträge größtenteils auf die deutschen Ereignisse. Die europäischen Zusammenhänge vermag man hingegen nicht durchgängig zu erkennen; auch wird beispielweise nicht näher thematisiert, was unter der Chiffre ‚1806‘ beispielsweise in England oder Russland verstanden werden könnte.5 Ansonsten überzeugt die thematische Mischung: Breiter angelegte Beiträge zum Völkerrecht (Heinhard Steiger) und zum europäischen Gleichgewichtskonzept (Volker Sellin) werden ergänzt durch Analysen der napoleonischen Hegemonie (Etienne François) in ihrer konkreten Bedeutung für die deutschen Territorien (Tim Blanning, Georg Schmidt, Dieter Langewiesche, Michael North). Sechs weitere Beiträge (Jörn Leonhard, Horst Carl, Thomas Biskup, Andreas Klinger, Siegrid Westphal, Gerd Krumeich) stellen die Zäsur von 1806 in den Kontext politischer Kulturen des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei einmal mehr die Vielschichtigkeit – oder Unschärfe – des Begriffs der ‚politischen Kultur‘ offensichtlich wird. In sechs den Band abschließenden Beiträgen (Gerhard Müller, Klaus Ries, Temilo van Zantwijk, Marko Kreutzmann, Werner Greiling, Alexander Schmidt) werden zuletzt die Ereignisse des Jahres 1806 mit dem spezifischen Raum ‚Weimar-Jena‘ verknüpft. Abgerundet werden die Ausführungen durch ein Abkürzungs- und Abbildungsverzeichnis sowie ein Personenregister; ein Autorenverzeichnis fehlt allerdings. Sehr zu loben ist die Entscheidung, einschlägige Gemälde, Stiche und Karikaturen zwecks visueller Unterstützung einzelner Beiträge in den Band aufzunehmen, der schon durch seine prägnante Umschlagabbildung („Napoleon mit seinem Generalstab während der Schlacht bei Jena“) positiv auffällt.

Wie bei Publikationen dieser Art nahezu unvermeidlich, variiert die Qualität und der Innovationscharakter der einzelnen Beiträge erheblich. Manche Konzepte, etwa zu den Ausprägungen einer föderativen Nation im Kontext der (Dis-) Kontinuitäten bei den Übergängen vom Alten Reich zum napoleonischen Rheinbund und später zum Deutschen Bund, sind bereits früher an anderer Stelle dargelegt worden.6 Die Ausführungen zu „Jena und Auerstedt in der Geschichtsschreibung“ (Krumeich) bleiben mit ihrer Beschränkung auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert letztlich doch sehr fragmentarisch; hier wäre eine stärkere Berücksichtigung der Zeit nach Ende des Kaiserreichs durchaus wünschenswert gewesen. Begünstigt durch präzise, gut eingegrenzte Fragestellungen liefern andere Beiträge hingegen interessante Detailbefunde: So muss der Modernitätsgehalt des Code Napoléon zumindest mit Blick auf die Stellung der Frau im ehegüterrechtlichen Teil deutlich eingeschränkt werden, wie Siegrid Westphal nachdrücklich zeigen kann, ohne gleichzeitig die zum Teil erheblichen Diskrepanzen zwischen Rechtsnorm und -praxis zu übersehen. In der Diskussion um die Auswirkungen und den Erfolg der Kontinentalsperre kommt Michael North angesichts der Entwicklungen des (See-)Handels im nördlichen Deutschland bzw. im Ostseeraum zu dem Ergebnis, dass die Kontinentalsperre entgegen der Absicht Napoleons langfristig „Englands Vormachtstellung auf den Weltmeeren“ (S. 148) festigte und außerdem zu einer stärkeren politischen Zusammenarbeit der norddeutschen Hansestädte beitrug.

Mit Blick auf die stärker kulturgeschichtlich inspirierten Beiträge fällt die Ambiguität napoleonischer Herrschaft zwischen Tradition und Moderne auf: Wie Horst Carl erläutert, knüpfte Napoleon in wichtigen Einzelaspekten des höfischen Zeremoniells zwar sehr wohl an die Zeit des Ancien Régime an (S. 175), verstand es aber auch, dieses als umfassendes Medienereignis „im Zeichen der Synthese von Zeremoniell und Publizität“ (S. 182) zu inszenieren, wie z.B. angesichts der großen Fürsten- und Herrschertreffen in Erfurt 1808 und Dresden 1812 sichtbar wurde. Thomas Biskup stellt darüber hinaus mit seinen Überlegungen zur Vereinnahmung Friedrichs des Großen durch Napoleon treffend die virtuose Verwendung unterschiedlicher Legitimationsmuster seitens des Siegers von Jena und Auerstedt dar, die aber weniger einem systematischen Plan folgten, sondern vielmehr meist situativ eingesetzt wurden. Die von den Ereignissen des Jahres 1806 direkt Betroffenen gingen mit diesen Selbstinszenierungen, aber auch Identifikationsangeboten durchaus unterschiedlich um, wie der Blick auf den Raum Weimar-Jena zeigt. Während Goethe und Hegel beispielsweise Napoleon positiv gegenüberstanden (Werner Greiling und Temilo van Zantwijk), bewirkten die vergleichsweise geringfügigen Eingriffe Napoleons in die innenpolitischen Entwicklungen der mitteldeutschen Staaten erhebliche Freiräume für oppositionelle Strömungen. Letztere gewannen mit den Misserfolgen Napoleons nahezu zwangsläufig an Auftrieb und Bedeutung.

Die Rolle, die dabei der Landesherr Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach gespielt hat, wird sowohl von Werner Greiling als auch im abschließenden Beitrag von Alexander Schmidt relativiert: Im Gegensatz zu der Einschätzung einer älteren, nationalen Geschichtsschreibung scheint der Herzog keinesfalls nur der widerwillige Verbündete Napoleons und Organisator antinapoleonischen Widerstandes gewesen zu sein. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Rivalität mit anderen mitteldeutschen Staaten (vor allem Sachsen-Gotha-Altenburg) um die Gunst des Kaisers der Franzosen wählte auch der vermeintliche Napoleon-Gegner Carl August den Weg der Anpassung, deutlich sichtbar an eindeutigen Sympathiebekundungen wie großen Geburtstagsfesten zu Ehren des Kaisers.

Es sind solche Ergebnisse, die den Sammelband lesenswert machen. Dass dabei die schon so oft erörterten preußischen Reformen im Anschluss an die Ereignisse im Oktober 1806 fast gar keine Erwähnung finden, schadet dem Gesamtbild keineswegs. Ganz im Gegenteil dazu bietet gerade der Blick in den Ereignisraum ‚Weimar-Jena‘ viele neue Eindrücke, womit letztlich auch die Komplexität der Zäsur von 1806 – zumindest für die deutsche Geschichte – eine eindeutige Bestätigung findet.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, München 2006; außerdem Mazohl-Wallnig, Brigitte, Zeitenwende 1806: das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa, Wien 2005.
2 Hartwig Brandt / Ewald Grothe (Hrsg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt am Main 2007 (mit weiteren Nachweisen zu der bisherigen Rheinbundforschung).
3 Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia, 1600-1947, London 2006 (auf deutsch unter dem Titel: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München 2007).
4 Vgl. zuletzt Bernd Mütter, Jena und Auerstedt/Hassenhausen 1806 – 1906 – 2006: Orte welcher Erinnerung? In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 67 (2008), S. 1-23.
5 Eine vergleichende europäische Perspektive bei einem speziell verfassungsgeschichtlichen Zugang bieten beispielsweise Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006.
6 Dieter Langewiesche / Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000.