Die Erforschung des Adels in der Moderne hat in den letzten 15 Jahren ein Spektrum methodischer Neuansätze hervorgebracht, die alle den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen von den Studien der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, Rudolf Braun, Elisabeth Fehrenbach und vor allem Heinz Reif genommen haben. In der Adelsgeschichte ließ sich erfreulicherweise eine konzeptionelle Weiterentwicklung erkennen, die geradezu im Gegensatz zur um sich greifenden Ermüdung stand, historische Rekonstruktionen theoretisch neu zu fundieren. Auch Markus Kreutzmann hat sich in seiner Einleitung dieser Herausforderung gestellt und versucht, die älteren elitentheoretischen Zugriffe gegen die soziologisch neu konzeptionierten Ansätze abzuwägen. Das ist ehrenwert, aber offensichtlich komplexer, als schlicht den ausgetretenen Pfaden der etablierten Pionierstudien zu folgen.
Denn die Dissertation von Marko Kreutzmann führt in zentralen Punkten der Gedankenführung einen tragischen Kampf gegen Windmühlen. Der Verfasser legt den Fokus seines Erkenntnisinteresses auf Gemeinsamkeiten zwischen Adel und Bürgertum. Das ist vor der Hand selbstverständlich eine legitime Forschungsstrategie. Allerdings besteht deswegen keine Notwendigkeit, soziale Mechanismen zu negieren, die die Gruppenspezifik des Adels generierten. Es ist doch grundsätzlich in der gesamten neueren Adelsforschung unbestritten, dass die heraufziehende Moderne jeden einzelnen Adeligen zu Vergesellschaftungen innerhalb der sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Feldlogiken zwang. Die Bürokratisierung etwa ist ein Paradebeispiel dafür, dass ehemals nach Privileg vergebene Staatsämter neuen Vergabekriterien unterworfen wurde. Kreutzmann formuliert dies in seinem Resümee so: „Während der Adel zunächst noch seine ständischen Privilegien zu verteidigen suchte, wuchs er in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem im Bereich der höheren Beamtenschaft in eine überständische, adelig-bürgerliche Elite hinein.“ (S. 424) Dass die Spitzenbeamten bürgerlicher und adeliger Herkunft waren und in ihren Dienststuben mit grundsätzlich gemeinsamer Zielstellung agierten, ist doch inzwischen keine umkämpfte These mehr. Die spannende Frage lautet hingegen, wie die hohen Staatsbeamten aus dem Adel ihre Zugehörigkeit zu einer „überständischen, adelig-bürgerlichen Elite“ (S. 424) mit einem adeligen Selbstverständnis vereinbaren konnten. Wie gelang es ihnen, auch noch Adeligkeit herzustellen, aufrechtzuerhalten und an ihre Kinder weiterzugeben, sodass der Adel als Sozialformation fortexistieren konnte?
Diesem Kernproblem, wie die Kohäsion des Adels unter sich wandelnden Rahmenbedingungen erhalten blieb, stellt sich Kreutzmanns Untersuchung nicht. Sie verkürzt das Problem auf die Frage nach dem Obenbleiben und behauptet, die neueste sächsische Adelsforschung, die in zentralen Passagen des Buches attackiert wird (im Kapitel „Methode, Forschungsstand und Quellenlage“ S. 18 und „Zusammenfassung“ S. 421), habe das Obenbleiben zum „monokausalen Erklärungsmuster“ (S. 421) erhoben und die These aufgestellt, mit dem Übergang zur Moderne seien die „ständischen Privilegien“ des Adels „durch die Ausbildung einer adeligen Binnenkommunikation“ ersetzt worden. (S. 421) Eine vertiefte Lektüre der einschlägigen Publikationen hätte dieses Missverständnis beheben können. In Sachsen wie in den meisten deutschen Adelsregionen war das Gros der frühneuzeitlichen Privilegien gar nicht auf den Adel beschränkt. Andere Rechte, die den Adelstitel betrafen, bestanden bis 1918. Die Binnenkommunikation ist hingegen auch schon für das ausgehende 18. Jahrhundert einer der wichtigen Mechanismen zur Gruppenkonstituierung.
Ist man in der Einleitung über die Absicht des Verfassers noch erfreut, die Studie auf die Akteursebene auszurichten, um „ausgehend vom historisch besonderen Beispiel mit Blick auf die übergreifenden Prozesse ‚systematisch Fragestellungen und Analysekategorien’ zu entwickeln“ (S. 19), wundert man sich doch bei der Umsetzung immer wieder, wie unbeschwert die Geschichte der Familien v. Fritsch und v. Ziegesar pars pro toto für den gesamten Adel genommen werden. Nicht nur sind beide Familien nach Sachsen-Weimar-Eisenach zugewandert und können daher kaum als typisch für die untersuchte Adelslandschaft gelten, es wird auch nicht ernsthaft der Versuch unternommen, aufzudecken, wie denn Gruppentypisches ermittelt werden könnte. Wenn ein Vater und dessen Sohn aus der Familie v. Ziegesar am Weimarer Grundgesetz von 1816 bzw. an Reformdebatten des Landtages mitwirkten, ist das eine unzureichende Basis für die Feststellung: „Damit fand der Adel allmählich den Weg von der ständischen Interessenvertretung in den modernen bürgerlichen Konstitutionalismus.“ (S. 426)
Kreutzmann referiert zu Beginn seiner drei inhaltlichen Teile „Familie, Bildung, Geselligkeit“, „Beruf, höfische Repräsentanz und Gutwirtschaft“ und „Adel und Politik zwischen Kleinstaat und Nation“, sowie auch in den Kapiteln dieser Teile (etwa in Kapitel 3.2.1 „Adel, ‚Ganzes Haus’ und ‚bürgerliche“ Familie“) (S. 86-88) die marktgängigen Thesen der Geschichtswissenschaft. Häufig werden die Ansichten der inzwischen hinlänglich etablierten kulturhistorischen Forschung vorgetragen. Anschließend findet Kreutzmann dann fast durchgängig in seinen Quellen die Analyseergebnisse, die für andere Regionen bzw. Sozialformationen publiziert vorliegen, bei seinem sächsisch-weimarischen Adel bestätigt. Solche Überblendungen des als allgemein zeittypisch Gesetzten auf den Adel verdecken dessen Eigenprofil mehr, als sie es offen legen.
Am Ende bleiben viele der Resultate von Kreutzmanns Studie schwer nachvollziehbar. Soll man glauben, dass die Kontakte zwischen Adeligen und Bürgerlichen so zwanglos waren wie behautet (S. 422 f.), wenn andererseits die Eltern sich gegen unstandesgemäße Ehen sperrten und im Untersuchungszeitraum Ehen „praktisch ausschließlich innerhalb des eigenen Standes geschlossen wurden? (S. 116) Selbst wenn diese Ehen „nicht nur aus strategischen Überlegungen heraus geschlossen wurden“ (S. 423), fragt sich, ob Liebesheiraten innerhalb des Adels dessen Verbürgerlichung indizieren. Handelt ein Adeliger, der eine Adelige heiratet, unadelig? Ebenso müsste plausibel gemacht werden, warum eine „emotionalisierte Beziehung“ (S. 423) zwischen Eltern und Kindern oder ein weniger repräsentativer Lebensstil in der Kleinfamilie des Carl Wilhelm von Fritsch eine Nähe zur Bürgerlichkeit bedeutet. Sozialformationen können sich unterscheiden, auch wenn ihre Mitglieder ähnlich vermögend sind. Außerdem wandeln sich innerhalb von gesellschaftlichen Großgruppen auch Umgangsformen, ohne dass sich die Gruppe gleich auflöst. Ebenfalls ohne Erläuterung lässt Kreutzmann die Behauptung, dass ein bürgerlicher Theologiestudent als Hofmeister adelige „Kinder ganz nach den Bedürfnissen ihres Standes“ ausbilden und erziehen konnte. (S. 93) Wie vermittelt ein karg alimentierter zukünftiger Pfarrer Adeligkeit? Das Spektrum der Anfragen ließe sich noch ausweiten, beispielsweise wieso Jürgen Habermas’ Theorie über Lebenswelt im methodisch-theoretischen Fundament der Studien nicht auf ihre möglichen Nutzen abgeprüft wird, oder ob man ein Zitat, es habe im Jahre 1807 mit einem Jahreseinkommen von 1700 Talern nur eine „kleine, eingezogene Haushaltung“ (S. 108) geführt werden können, unkommentiert als Tatsache in einer historisch-kritische Arbeit übernehmen kann.