A. Wagner: Die Entwicklung des Lebensstandards zwischen 1920 und 1960

Cover
Titel
Die Entwicklung des Lebensstandards in Deutschland zwischen 1920 und 1960.


Autor(en)
Wagner, Andrea
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 12
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Deutsches Historisches Institut Paris

Der Lebensstandard gehört zu den Konzepten, die immer unschärfer werden, je mehr man sich mit ihnen beschäftigt. Letztlich landet man bei der Frage, was eigentlich das Leben lebenswert macht. Doch wie auch immer man das Problem angeht, man endet bei der Erkenntnis, dass es sich um eine höchst subjektive Kategorie handelt – gleichwohl um eine sehr wichtige, ist doch beispielsweise jede demokratische Politik an dem Versprechen ausgerichtet, den wie auch immer definierten Lebensstandard zu halten bzw. zu erhöhen.

Der intersubjektive Nutzenvergleich, der letztlich jeder Messung des Lebensstandards einer sozialen Gruppe zu Grunde liegt, ist ein zentrales, nach wie vor ungelöstes Problem der Sozialwissenschaften. Man kann sich dem Problem nur mit mehr oder weniger geeigneten Konzepten annähern. Eine ganz klassische Lösung ist, den Lebensstandard mit dem Sozialprodukt pro Kopf zu messen. Dieses Maß hat den Vorteil, einigermaßen verlässlich erhoben werden zu können. Gleichwohl berücksichtigt es als reine Durchschnittsgröße per Definition keinerlei Verteilungsaspekte, und es hebt ausschließlich auf materielle Größen ab. Für den Vergleich des Lebensstandards insbesondere auch unterentwickelter Länder haben die Vereinten Nationen daher das Konzept des Human Development Index (HDI) entwickelt. In seiner einfachsten Variante kombiniert dieser drei Größen: erstens das Sozialprodukt pro Kopf (Zielgröße: Zugang zu Ressourcen), zweitens die Lebenserwartung bei Geburt (langes Leben) und drittens den Alphabetisierungsgrad und Schulbesuchsraten im primären, sekundären und tertiären Bildungssektor (Bildung). Das Sozialprodukt pro Kopf geht dabei lediglich in logarithmierter Form in den Index ein, das heißt ein Zuwachs an Einkommen wird zunehmend weniger stark gewichtet als ein gleich hoher prozentualer Zuwachs der Lebenserwartung oder der Bildungschancen. Über die Auswahl der einzelnen Teilindizes und ihre Gewichtung lässt sich natürlich trefflich streiten. Gleichwohl hat sich der HDI als Konvention bewährt, ähnlich wie auch die so objektiv scheinende Sozialproduktsberechnung zur besseren Handhabbarkeit auf Annahmen basiert, die kritisch hinterfragt werden können.

Andrea Wagner unternimmt in ihrer Dissertation den Versuch, den HDI auf Deutschland von 1920 bis 1960 anzuwenden und so zu neuen Aussagen über die Entwicklung des Lebensstandards in diesem Zeitraum zu kommen. Sie wählt dafür drei Untersuchungsebenen: erstens Deutschland (1950-1960 die Bundesrepublik) insgesamt und im Vergleich mit acht anderen europäischen Staaten, zweitens die deutschen Großstädte und Regionen und drittens den Vergleich von Männern und Frauen. Um mit den verfügbaren Daten zu brauchbaren Aussagen zu kommen, modifiziert sie den HDI entsprechend.

Die Ergebnisse sind auf den ersten Blick nicht besonders überraschend. Der HDI steigt in der Weimarer Zeit bis zur Weltwirtschaftskrise, fällt dann und steigt in den wirtschaftlichen Boomzeiten der 1930er- und 1950er-Jahre wieder an. Bei der regionalen Betrachtung fällt auf, dass vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bisher schlecht aufgestellte Regionen ein überdurchschnittliches Wachstum verzeichnen konnten, für das die Autorin den Finanzausgleich und andere strukturpolitische Maßnahmen verantwortlich macht.

Gleichwohl zeigen sich die spezifischen Stärken des HDI-Ansatzes in manchen Details. So schreibt die Autorin der allgemeinen Steigerung des Lebensstandards eine stärkere Wirkung für den Lebensstandard von Frauen zu als der Verringerung der geschlechtsspezifischen Unterschiede des Lebensstandards – was man auch als Beleg für die Zementierung der Geschlechterungleichheit im Betrachtungszeitraum interpretieren könnte. Besonders interessant sind Wagners Ergebnisse für die Zeit des Nationalsozialismus. Es ist schon öfters darauf hingewiesen worden, dass der Zuwachs des Sozialprodukts in den 1930er-Jahren nur unterproportional an die Bevölkerung weitergegeben wurde. Wagner kann nun zeigen, dass sich die Sterblichkeitsverhältnisse im Dritten Reich nicht annähernd so stark verbesserten wie in den 1920er- und 1950er-Jahren. Auch die Bildungsindikatoren zeigen Rückschritte an. Der HDI entwickelt sich daher für diese Zeit weniger dynamisch als die Sozialproduktsentwicklung suggeriert (obwohl diese ja zu einem Drittel in den HDI mit eingeht).

Ein wenig bedauerlich ist gerade in diesem Zusammenhang, dass in der Buchfassung von Wagners Dissertation Publikationen nach 2005 nicht mehr berücksichtigt worden sind. Es ist darüber hinaus recht lästig, dass die extrem umfangreichen Tabellen und Schaubilder alle in einen Anhang ausgegliedert worden sind. Gleichwohl sind dies Petitessen angesichts der Forschungsleistung dieser Arbeit. Wagner argumentiert ausgewogen, methodenkritisch, transparent und nachvollziehbar. Sie bestätigt Bekanntes aus einer anderen Perspektive und kommt zu wichtigen neuen Ergebnissen.