Titel
9/11. The Culture of Commemoration


Autor(en)
Simpson, David
Erschienen
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 11,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Ortlepp, Deutsches Historisches Institut, Washington, DC

In seinem jüngsten Buch „9/11. The Culture of Commemoration“ setzt sich David Simpson kritisch mit der Erinnerung an den 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten auseinander. Ausgehend von der Prämisse, dass die öffentliche Debatte in den USA die Bedeutung dieses Tages als weltverändernden Einschnitt überschätzt und missverstanden hat, untersucht er, wie das Ereignis seither von verschiedenen Seiten für Interessenpolitik instrumentalisiert, politisch aufgeladen, ästhetisiert und kommodifiziert wurde, während die Auseinandersetzung um eine angemessene Erinnerung an die Opfer und die Gestaltung von „Ground Zero“ als Denkmal und Erinnerungsort scheinbar im Sande verläuft. Simpson legt damit eine der ersten kritischen wissenschaftlichen Studien zum Thema vor, das bislang vor allem von Verschwörungstheoretikern, „policy makers“ und Journalisten betrachtet worden ist.

Im ersten Kapitel befasst sich Simpson zunächst mit dem Gedenken an die Todesopfer. In seinen Überlegungen konzentriert er sich auf die Betrachtung der „Portraits of Grief“, einer Serie von Nachrufen, die über Monate in der New York Times und, als Lizenzabdruck, in anderen amerikanischen Tageszeitungen erschien. Die „Portraits of Grief“ sind Kurzportraits, die, basierend auf Informationen, die die jeweiligen Angehörigen zur Verfügung gestellt haben, fast zwei Drittel der Verstorbenen vorstellen und an sie erinnern. Beschrieben werden neben ihren Lebensdaten auch Lebenssituationen, Hobbies, Wünsche, Träume und Anekdoten. Viele Portraits ähneln einander und haben einen positiven Grundtenor. Simpson sieht darin eine unangemessene Trivialisierung der Opfer und ihrer Geschichten und fordert eine stärker individualisierte Form der Würdigung ein. In einem kurzen Abriss zur Geschichte der Bestattungskultur in den Vereinigten Staaten zeigt er, wie Grabsteine und das Genre des Nachrufes dies eigentlich möglich machen. Zugleich aber verweist er auf die Besonderheit des 11. September: das Fehlen von Körpern, die hätten bestattet werden können. In diesem Zusammenhang, dies gibt er zu, kommt den „Portraits of Grief“ eine besondere Bedeutung zu: „They are all that remains in the public record. The verbal fabric of consolation seems all the more incomplete – snapshot as obituary – given the common absence of a conventional grave site for the provision of alternative and repeatable solace.” (S. 42)

Problematisch bleibt für ihn dennoch die Form der Heldenverehrung, die die „Portraits of Grief“ seiner Ansicht nach betreiben und er unterstellt den Herausgebern der New York Times und anderen, die über die Toten des 11. September sprechen, ihre Geschichte mit einem national-patriotischen Tenor zu versehen, die diese nicht aufweise. Sicher sei der Tod so vieler Menschen tragisch und nicht hinnehmbar, aber zugleich gelte es anzuerkennen, „[that] those who died surely did not think of themselves as dying for their countries, and certainly not for the greater good of the world trade system, whose symbolic identity made them targets in the first place“ (S. 49). Heldentum verlangt laut Simpson eine bewusste Hingabe und Opferung für eine Sache, die er in diesem Zusammenhang nicht zu erkennen vermag: „So we call them at once victims and heroes, those who made a sacrifice and who were the objects of a sacrifice invented by others in the aftermath of their deaths.” (S. 49) Vielmehr interpretiert er die Heldenverehrung als den Versuch, scheinbar sinnloses Sterben in einem ideologisch aufgeladenen Diskurs jenseits historischer Zusammenhänge begreifbar zu machen. Es gehe darum, die Vereinigten Staaten in einem globalen Bedrohungsszenario zu positionieren und im Rückgriff auf die Verstorbenen innen- wie außenpolitische (Verteidigungs-) Maßnahmen (Patriot Act, Irakkrieg) zu rechtfertigen. Simpson sieht darin eine unwürdige Instrumentalisierung der Toten und fordert ein kritisches Überdenken dieser Rhetorik und ihrer praktischen Folgen.

Im zweiten Kapitel setzt sich Simpson mit der Neugestaltung des World Trade Center Areals auseinander. Dabei betrachtet er den mittlerweile mehrfach überarbeiteten Entwurf zur Neubebauung von Daniel Libeskind, die PATH-U-Bahn Station von Santiago Calatrava sowie die Pläne zur Gestaltung der Gedenkstätte „Reflecting Absence“ von Michael Arad und Peter Walker. Auch in diesem Teil spart Simpson nicht mit Kritik. Nach einer kurzen Betrachtung der beiden Hochhäuser des alten World Trade Centers und ihrer Lesarten, stellt er fest: „Whatever replaces them can hardly avoid sinking into a morass of signification of the most contrived kind.“ (S. 61) Libeskinds Entwurf scheint eben dies zu passieren. Simpson wirft ihm vor, sich in genau den national-patriotischen Diskurs einzuschreiben bzw. einzubauen, den er im ersten Kapitel kritisiert. Neben der ästhetischen Gestaltung, ist es unter anderem die plakative Namensgebung der Gebäude und Gartenanlagen wie „Freedom Tower“ (mit seiner symbolträchtigen Höhe von 1776 Metern), „Wedge of Light“, „Park of Heroes“, die er verwerflich findet. Zu sehr werde Architektur hier zur Projektionsfläche von Politik und zum Mittel einer triumphalen Selbstbeweihräucherung gemacht, zu viel Bedeutung bereits vorgegeben. Er wünscht sich eine Architektur, und denkt dabei vor allem an die abstrakte Moderne, die Betrachtern und Benutzern bzw. Bewohnern mehr Interpretations- und Deutungsspielräume lässt. Genau diese erkennt er in den Entwürfen von Calatrava und Arad/Walker. Besonders Arad/Walkers Pläne für die Gedenkstätte überzeugen Simpson, da sie konzeptionell und gestalterisch an das Vietnam Memorial von Maya Lin auf der National Mall in Washington, DC anknüpfen. Lins Design ist abstrakt; es besteht aus großen Marmorplatten, die wie ein aufgeschlagenes Buch in den Boden eingelassen sind und auf denen die Namen der Gefallenen und Vermissten des Vietnam-Krieges aufgeführt werden. „Reflecting Absence“ greift die Auflistung der Namen auf Steinplatten und die abgesenkte Lage der Gedenkstätte auf. Zentrale Bestandteile sind darüber hinaus die beiden „Leerstellen“, die den Grundriss der verschwundenen Hochhaustürme des World Trade Centers markieren, ein Raum mit den sterblichen Überresten der Todesopfer sowie ein Informationszentrum. „If Arad and Walker’s plans take final form as currently projected, they may just manage to avoid and even to contest the dominant tone of the site master plan. But the power of their project will come from its explicit self-location in the vocabulary of memorial architecture and not from the uniqueness of these deaths in isolation from all others in other places.” (S. 79)

Im dritten Kapitel verfolgt Simpson die Frage nach der Instrumentalisierung des Gedenkens an die Opfer des 11. September für politische Zwecke weiter. Dabei interessiert ihn vor allem das Thema Irakkrieg. In seinem Nachdenken über diesen Konflikt entfernt er sich recht weit von den unmittelbaren Folgen der New Yorker Ereignisse. Vielmehr kreisen seine Gedanken um die bildliche Dokumentation von amerikanischen (Kriegs-)Opfern und deren Bedeutung für die öffentliche Debatte in den USA. Angesichts eines, wie er sagt, durch Regierungsstellen künstlich herbeigeführten Mangels an Bildern von verletzten Soldaten, Rückführungen von Gefallenen oder Bestattungen habe die amerikanische Öffentlichkeit sich nicht mit der nötigen Intensität mit dem Irakkonflikt auseinandersetzen können. Erst die Veröffentlichung von Bildern gefallener Soldaten in der Sendung „Nightline“ (mit Ted Koppel) des Fernsehsenders NBC sowie die Veröffentlichung der Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib hätten hier eine Wende gebracht. „Photographs of the dismembered, the dead, and the dying”, so schreibt er, “will not in themselves change the terms of the culture of commemoration, whose nationalized and mediatized attributes have usually proved more powerful than any claims for common human sympathies or responses.” (S. 119) Eine fruchtbare Debatte über zeitgenössische Politik und Erinnerungskultur aber, die nicht durch Voreingenommenheit beschränkt sei, müsse unbedingt auf Bilddokumente zurückgreifen können.

Kapitel vier schließlich ist ein Plädoyer für die kritische Theoriebildung. Ereignisse wie der 11. September seien allein durch eine literarische Darstellung nicht fassbar, sondern bedürften einer kritischen Reflexion. Es ist vor allem der Poststrukturalismus, der Simpson hier interessiert, und den er gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, die vermeintlich spezifisch amerikanische Problemlage nach 9/11 nicht ausreichend erklären zu können, da seine maßgeblichen Vertreter aus Europa stammen. Stattdessen lotet er die Reaktionen verschiedener Kritiker auf das Ereignis aus und untersucht, welche Bedeutung der Dichotomie „they versus us“ in der öffentlichen und kritischen Debatte über den 11. September und das Thema „Terrorismus“ zukommt. In einer Zeit, in der sich die Vereinigten Staaten aggressiv gegen Teile der Welt positionierten, während gleichzeitig die Mobilität von Menschen und Informationen weiter steige, verliere dieser Gegensatz seine bekannten Konnotationen. „Every imagining of the other is an encounter with the self: they are us“, schreibt Simpson (S. 136). Noch, so argumentiert er, sei Zeit zur Selbstreflexion und zur Infragestellung der Diskurse, die er kritisiert. Aber er mahnt abschließend auch: „The time is out of joint, which means that we must work all the harder to find its history and to dispel its mysteries. The time to come is unimaginable if we do not.” (S. 170)

Simpsons Buch bietet eine interessante Lektüre zu einem Thema, zu dem bislang viele tendenziöse Stellungnahmen und eine überschaubare Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen veröffentlicht worden sind. Auch er bezieht eindeutig Stellung und verhehlt seine linksliberale Einstellung nicht. Dennoch bieten seine durch kritische Theorie inspirierten Überlegungen wichtige Anstöße in einer Debatte, die auch sieben Jahre nach dem 11. September erst beginnt an Tiefenschärfe zu gewinnen. Trotz einiger Redundanzen und Wiederholungen im Text ist „9/11. The Culture of Commemoration“ daher mit Gewinn zu lesen.

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