Es könnte überraschen, dass die beiden dem Titel nach so verwandten Sammelbände zur „Arisierung“ in Berlin und Leipzig schon beim Aufschlagen des Inhaltsverzeichnisses zwei völlig unterschiedliche Schwerpunkte offenbaren. Ein Blick ins Vorwort zeigt, wie breit das Spektrum dessen ist, was die Forschung mittlerweile unter dem Begriff „Arisierung“ zusammenfasst. Dabei steht der Berliner Band für die ältere und engere Definition, die unter „Arisierung“ hauptsächlich die „Übertragung von Vermögenswerten aus jüdischem in ‚arisches’ Eigentum“ versteht, wobei diese „ein zivilrechtlicher Vermögenstransfer war und als solcher auch von der Enteignung zu unterscheiden ist“ (S. 10). Der Leipziger Band fasst den Begriff dagegen wesentlich weiter und schließt die Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft, aber auch den „Prozess der radikalen kulturellen Säuberung aller Lebensbereiche der deutschen Gesellschaft“ mit ein (S. 23). Die Herausgeberin Monika Gibas verweist zu Recht darauf, dass der Begriff auch zeitgenössisch bereits in diesem Sinne verwendet wurde. Allerdings ist zu fragen, ob in der Forschung angesichts der mittlerweile inflationären Verwendung nicht die Zeit für eine terminologische Differenzierung gekommen ist. Damit könnten die doch sehr unterschiedlichen Phänomene, die momentan unter „Arisierung“ zusammengefasst werden, präziser erfasst und zugleich die Verwendung dieser aus dem Verfolgungskontext stammenden Vokabel stark eingeschränkt werden.
Die unterschiedlichen Schwerpunkte der beiden Bände erklären sich auch aus ihrem Entstehungskontext: zwei in den Jahren 2004 und 2005 abgehaltenen Tagungen. Die Berliner Tagung wurde vom Berliner Netzwerk für Unternehmensgeschichte organisiert und versammelte Forscher, die zur Verdrängung jüdischer Unternehmer aus der deutschen bzw. Berliner Wirtschaft arbeiten bzw. gearbeitet haben. In Leipzig dagegen ging die Initiative von einer Forschungsgruppe aus, die sich vorrangig mit verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut befasst hatte. Hier liegt auch der eindeutige Schwerpunkt des Sammelbandes, ergänzt durch einige Beiträge zur „Arisierung“ von Unternehmen und sozialen Einrichtungen.
Die Forschungslage ist für beide Städte bislang äußerst dürftig, nicht zuletzt infolge der Unzugänglichkeit vieler Quellen in den Jahrzehnten der deutschen Teilung. Im Falle Berlins kommt die schiere Größe des Unterfangens hinzu: Hier lebte 1933 fast ein Drittel aller deutschen Juden, über 160.000 Menschen, die etwa 28.000 bis 30.000 Unternehmen besaßen. Eine umfassende Darstellung der „Arisierung“ in Berlin ist daher nur auf der Basis vieler Einzelstudien machbar, die es noch zu schreiben gilt. Da Berlin nicht nur rein quantitativ, sondern auch in seiner wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedeutung das Zentrum des deutschen Judentums bildete, werden diese Arbeiten die Grundlage bilden, auf der erst eine vergleichende und zusammenfassende Geschichte der „Arisierung“ in Deutschland geschrieben werden kann. Der vorliegende Band ist, wie Beate Schreiber in ihrem Vorwort betont, nur ein Anfang. Ihr Versuch, aus den hier zusammengetragenen Fallstudien bereits verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen, kann daher nicht gelingen. Denn der Schwerpunkt des Bandes liegt bei führenden Großunternehmen aus Handel und Industrie, deren „Arisierung“ aufgrund ihres Wertes und ihrer Bedeutung andere Akteure auf den Plan rief als der Verkauf der vielen kleinen und mittleren Betriebe insbesondere des Einzelhandels. Auch die Instrumente zur Ausübung von Druck unterschieden sich: Während Industrie- und Großhandelsbetriebe eher durch den Entzug öffentlicher Aufträge, die Anstrengung steuerrechtlicher Strafverfahren oder die Kündigung von Bankkrediten in eine Zwangslage versetzt werden konnten (S. 33f.), litten die jüdischen Einzelhändler in erster Linie unter den wiederholten Boykottaktionen der NSDAP. Auch schalteten sich bei Großunternehmen viel häufiger die Reichsministerien in den „Arisierungsprozess“ ein, um eigene Interessen durchzusetzen.1 Nichtsdestotrotz macht es Sinn, der „Arisierung“ bedeutender Berliner Großunternehmen einen Sammelband zu widmen, stellte die Stadt doch zu dieser Zeit das Zentrum diverser Branchen dar, so der Finanz- und Versicherungsbranche, der Elektroindustrie und der Textilbranche, und war der Sitz eines Drittels der größten deutschen Aktiengesellschaften (S. 16). Die Qualität der Beiträge ist durchgehend hoch.
Die ersten beiden Aufsätze widmen sich mit der Verdrängung jüdischer Unternehmer aus wichtigen Interessenvertretungen und gesellschaftlichen Clubs zunächst dem Verfolgungskontext im Vorfeld der „Arisierung“. Der Verlust wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Netzwerke und die damit verbundene Isolation trugen in vielen Fällen dazu bei, die jüdischen Unternehmer zur Aufgabe ihrer Position zu bewegen. Christof Biggeleben untersucht unter diesem Aspekt die Berliner Industrie- und Handelskammer sowie den Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, Sebastian Panwitz die Gesellschaft der Freunde. Beide Beiträge zeigen, dass die Handlungsspielräume der Vereine gegen den Druck von Seiten der NS-Organisationen letztlich gering waren. Größer waren sie, wie Martin Münzel eindrucksvoll zeigen kann, beim Umgang der Berliner Großunternehmen mit ihren jüdischen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern. Zwar gab es erst 1938 eine offizielle Definition, der zufolge ein Unternehmen als „jüdisch“ galt, wenn nur ein Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrates Jude war, jedoch setzte die Verdrängung der jüdischen Spitzenmanager bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein. Antisemitische Energien und wirtschaftliche Profitziele verstärkten sich dabei gegenseitig. Andererseits waren es ebenfalls wirtschaftliche Interessen, die Unternehmen dazu bewogen, an ihren jüdischen Führungskräften festzuhalten. Möglichkeiten hierzu gab es, etwa durch deren Entsendung ins Ausland oder den Abschluss von Beraterverträgen. Freilich blieben diese häufig ungenutzt, selbst wenn sie Vorteile für das Unternehmen gebracht hätten.
Thomas Irmer erweitert in seinem Beitrag über die AEG den Blick von den Managern hin zu den jüdischen Angestellten. Das von Juden gegründete Unternehmen geriet 1933 wegen seines hohen Anteils jüdischer Beschäftigter unter Druck. Es kam zu Versetzungen jüdischer Angestellter ins Ausland, aber auch zu Pensionierungen und Entlassungen. Auch die jüdischen Mitglieder in Vorstand und Aufsichtsrat schieden bis 1936 aus. Im gleichen Jahr sollte eine Beteiligung der Gesellschaft für elektrische Unternehmungen – Ludw. Loewe & Co. AG (Gesfürel) die finanzielle Sanierung der AEG sichern. Die jüdischen Führungskräfte der Gesfürel verbanden mit diesem Engagement die Hoffnung, ihren eigenen Status abzusichern. Jedoch wurden die diesbezüglichen Absprachen unmittelbar nach Vollzug der Transaktion von der AEG gebrochen und die jüdischen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Gesfürel zum Verzicht auf ihre Posten innerhalb der AEG gedrängt. Kurze Zeit später gaben die Loewe-Brüder unter dem Druck der DAF auch die Führung der Gesfürel ab.
Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit „Arisierungen“ in der Bauindustrie. Mit der Firmengruppe Adolf Sommerfelds beschreibt Celina Kress den Fall einer frühen „Arisierung“ in den ersten Monaten des Jahres 1933. Sommerfeld geriet als Mitglied der linksintellektuellen Elite der Weimarer Republik und Verfechter moderner architektonischer Konzepte noch vor 1933 ins Blickfeld der Nationalsozialisten. Insbesondere sein Konzept einer „Bürgerhaussiedlung“ mit erschwinglichen Eigenheimen für die städtische Mittelschicht erwies sich Anfang der 1930er-Jahre als so erfolgreich, dass es die Nationalsozialisten zur Vorweisung eigener Erfolge im Wohnungsbau rasch vereinnahmen wollten. SA-Trupps unternahmen seit Januar 1933 gewaltsame Übergriffe gegen Sommerfeld und sein Unternehmen. Nach einem Überfall auf sein Privathaus im März 1933, bei dem Schüsse fielen, flüchtete Sommerfeld ins Ausland. Sein Vermögen wurde unter Verweis auf die zu zahlende Reichsfluchtsteuer beschlagnahmt; ein internationaler Steuersteckbrief verhinderte seinen beruflichen Neuanfang im Ausland. Unter diesen Umständen musste sich Sommerfeld 1934/35 gegen einen lächerlich niedrigen „Kaufpreis“ zu einem Verzicht auf sein Firmen- und Privatvermögen bereit erklären.
Während frühe „Arisierungen“ häufig unter Anwendung von Gewaltmaßnahmen stattfanden, steht das folgende, von Martin Krauß geschilderte Fallbeispiel der Berlinischen Boden-Gesellschaft (BBG) eher für den prozesshaften Charakter, den die Verdrängung jüdischer Führungskräfte und Anteilseigner in vielen Großunternehmen hatte. Die meisten jüdischen Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats schieden bereits 1933 aus; Kurt Haberland als letzter jüdischer Vorstand und Vertreter der Eigentümerfamilie wurde 1937 abberufen. Sein Aktienbesitz musste nach der Dritten Verordnung zum Reichsbürgergesetz im Juni 1938 auf unter 25 Prozent reduziert werden, damit das Unternehmen nicht mehr als „jüdisch“ galt. Die Anteile übernahmen zwei Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie die Dresdner Bank als Großaktionärin, die in den 1950er-Jahren die Aktien des Unternehmens fast vollständig in ihren Besitz brachte.
Die für Berlin als Finanz- und Börsenzentrum bedeutende Branche der Privatbanken behandelt Ingo Köhlers Beitrag. Er widmet sich der Verdrängung jüdischer Privatbankiers, die über 70 Prozent aller Berliner Privatbanken besaßen, darunter die fünf bedeutendsten von internationalem Rang. Über den Zeitpunkt der „Arisierung“ bzw. – in den meisten Fällen – der Liquidation entschieden sowohl die Intensität der erlittenen persönlichen und wirtschaftlichen Verfolgung, als auch die wirtschaftliche Stabilität und Betriebsgröße der einzelnen Bank. Köhler, der im Gegensatz zu den übrigen Beiträgen des Bandes eine gesamte Branche betrachtet, kann hier bereits verallgemeinernde Schlüsse ziehen. Dies gilt ebenso für die Beurteilung des Erwerberverhaltens, die er am Beispiel der beiden prominentesten „Arisierungen“ der Bankhäuser Gebr. Arnhold und Mendelssohn & Co. durch die Dresdner Bank bzw. Deutsche Bank vorführt.
Den Bezug zur gesamten Branche sucht auch Kilian J. L. Steiner, der die „Arisierung“ der Radioaktiengesellschaft D.S. Loewe in den Mittelpunkt seines Beitrags stellt. Als Hersteller von Konsumartikeln waren die als „jüdisch“ geltenden Unternehmen der Rundfunkindustrie anfällig für die nationalsozialistischen Boykottaktionen gegen „jüdische“ Produkte und sorgten daher noch 1933 für das Ausscheiden aller jüdischen Mitglieder aus ihren Vorständen und Aufsichtsräten. Nur Siegmund Loewe konnte „aufgrund seiner einzigartigen Verdienste um die deutsche Funktechnik und der laufenden Fernsehverhandlungen mit dem Propagandaministerium“ (S. 232) seinen Vorstandsposten zunächst noch behalten. Bemerkenswert ist, dass das Unternehmen nach 1933 noch einige technische Innovationen auf den Markt bringen konnte und bis 1937 überdurchschnittlich profitabel arbeitete. Anfang 1938 jedoch wurde der Druck auf jüdische Unternehmer so groß, dass sich Loewe zunächst zum Verkauf seiner Anteile an der Entwicklungsgesellschaft Fernseh-AG an den Konkurrenten Bosch gezwungen sah. Kurz darauf kehrte Loewe von einer Auslandsreise nicht mehr zurück, wurde daraufhin aus dem Vorstand abberufen und hatte nun keinerlei Möglichkeiten mehr, die „Arisierung“ seines Unternehmens zu steuern. Es ging in der Folgezeit unter der Federführung des Luftfahrtministeriums, das an einer eigenen Produktion zur Ausrüstung der Luftwaffe mit Funk- und Radargeräten interessiert war, in den Besitz des Reiches über. Hier erwies sich einmal mehr die restriktive Handhabung der Steuergesetze gegen jüdische Flüchtlinge als wirkungsvolles Instrument der Enteignung.
Einen Sonderfall stellt das Schicksal der Zigarettenfabrik Garbáty dar, das Erik Lindner behandelt. Der erfolgreiche Berliner Zigarettenhersteller wurde 1935 trotz seiner jüdischen Inhaber in die Interessengemeinschaft deutscher Zigarettenhersteller aufgenommen, ein Quotenkartell, das die Marktanteile festlegte und deren Über- oder Unterschreitung durch interne Verrechnungszahlungen ausglich. Diese Mitgliedschaft sowie die Tatsache, dass Philipp F. Reemtsma, der mit seiner Firma die Zigarettenbranche beherrschte, seit 1929 eine verdeckte Beteiligung von 50 Prozent an Garbáty besaß, rettete das Unternehmen trotz aller umsatzschädigenden Verfolgungsmaßnahmen bis 1938. Dann allerdings drängte Reemtsma auf eine „Arisierung“. Nach längerem Tauziehen, bei dem Reemtsma erfolglos versuchte, die Auswahl des Käufers zu beeinflussen, erwarb der vom Reichspropagandaministerium protegierte Jacob Koerfer im Oktober 1938 sowohl den Anteil Moritz Garbátys als auch die in Reemtsmas Besitz befindliche andere Hälfte.
Einige der Beiträge behandeln neben der „Arisierung“ auch die Restitution der jeweiligen Unternehmen. Die beiden letzten Beiträge des Bandes widmen sich explizit diesem Thema. Martin Münzel und Kilian J. L. Steiner gehen am Beispiel der Unternehmen Ullstein und Loewe der Frage nach, ob die Rückerstattung einen Beitrag zur langfristigen Reintegration emigrierter jüdischer Unternehmer leisten konnte. Sie müssen diese Frage am Ende verneinen. Zwar wurde Siegmund Loewe wieder Alleineigentümer seines nun als Loewe Opta AG firmierenden Unternehmens. Jedoch konnte er sich weder entschließen, seinen Wohnsitz ganz nach Deutschland zu verlegen, noch übernahm er wieder die Rolle des Vorstands. Nach seinem Tod im Jahr 1962 verkauften seine Erben das Unternehmen sofort an den Konkurrenten Philips. Auch im Falle Ullsteins gelang die Überwindung der durch die „Arisierung“ markierten Zäsur nicht. Die zerstrittenen Familienmitglieder konnten sich nicht über die Zukunft des Unternehmens einigen; nur wenige kehrten überhaupt nach Deutschland zurück. Nach und nach verkauften sie ihre Anteile an Konkurrenten, bis Axel Springer schließlich 1959 die Mehrheit besaß und die Firma ein Jahr später zur Tochtergesellschaft seines Konzerns machte.
Einen äußerst spannenden Einblick in einen erst im letzten Jahr abgeschlossenen Fall bietet Olaf Ossmann, der als Rechtsanwalt für Klaus Wertheim am Prozess der Wertheim-Erben gegen die KarstadtQuelle AG beteiligt war. Die Fachkenntnisse des Juristen stellen eine große Bereicherung für das Verständnis dieses äußerst komplexen Rückerstattungsfalls dar. Die Familie Wertheim hatte 1951, schlecht beraten und vom „Ariseur“ über den wahren Wert des noch existierenden Vermögens im Unklaren gelassen, einem Vergleich im Rahmen eines Wiedergutmachungsverfahrens zugestimmt. Als nach der deutschen Wiedervereinigung die Restitution der in Ost-Berlin gelegenen Wertheim-Grundstücke zur Debatte stand, wurde auch der Vergleich von 1951 sowie der darauf basierende Verkauf der Wertheim-Gruppe an Hertie in Frage gestellt. Die KarstadtQuelle AG als deren Rechtsnachfolgerin bestritt die Ansprüche der Familie Wertheim vehement, musste letztlich aber im März 2007 einem Vergleich zustimmen.
Zur „Arisierung“ in Leipzig liegen bislang noch weniger Arbeiten vor als in Berlin. Dabei beherbergte auch Leipzig mit über 11.000 Personen eine der großen jüdischen Gemeinden in Deutschland, deren einflussreichste Mitglieder vor allem im Rauchwarenhandel (Pelze) sowie im Buch- und Verlagswesen tätig waren. Offenbar ist jedoch die große wissenschaftliche Bedeutung, die eine umfassende Erforschung der „Arisierung“ in Leipzig hätte, bislang nicht ausreichend ins Bewusstsein der dortigen Entscheidungsträger getreten, denn es fehlt ein gut finanziertes und universitär betreutes Forschungsprojekt zu diesem Thema. Die engagierte Arbeit der Arbeitsgruppe „‚Arisierung’ in Leipzig“ der Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig e.V., die den vorliegenden Sammelband erstellt hat, muss ausdrücklich gewürdigt werden. Allerdings reicht ehrenamtliches Engagement nicht aus, um die vorhandenen Quellen auszuschöpfen und die Ergebnisse in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen. So bleiben die einzelnen Aufsätze isoliert und treten zu wenig in Bezug zueinander und zu aktuellen Fragen der Forschung. Stattdessen werden Leipziger Beispiele für Phänomene aufgezählt, die am Beispiel anderer Städte bereits erforscht sind, ohne dass dabei neue Erkenntnisse gewonnen werden. So geht Steffen Held in seinem Beitrag über den Zugriff der Leipziger Stadtverwaltung auf jüdisches Eigentum nicht über die Pionierarbeiten von Wolf Gruner hinaus.2 Dabei taucht das Beispiel des Israelitischen Krankenhauses im folgenden Beitrag von Andrea Lorz über „Arisierungen“ im Einzelhandel und im Gesundheitswesen gleich noch einmal auf. Leider erfährt man hier wenig über die Umstände der einzelnen „Arisierungen“, da in vielen Fällen nur der Zeitpunkt und die Namen der Käufer genannt werden, während in der Forschung mittlerweile Fragen nach den Handlungsspielräumen der Verkäufer und Erwerber bzw. nach der Beurteilung des Erwerberverhaltens im Mittelpunkt stehen.
Otto Seifert untersucht in seinem Beitrag den Wandel des „geistigen Klimas“ in der Buchstadt Leipzig. Er kann zeigen, dass große Teile des Buchhandels, der im 19. Jahrhundert für liberale Positionen und gegen die vorherrschende Zensur eingetreten war, schon vor 1933 auf eine völkische, national-konservative Haltung umgeschwenkt waren. So ließ sich auch der Börsenverein des deutschen Buchhandels vor den Karren der Nationalsozialisten spannen und stellte seine Akten für die Verfolgung und „Arisierung“ bzw. Liquidation jüdischer Mitgliedsfirmen zur Verfügung. Zugleich führt Seifert das gigantische Ausmaß der nationalsozialistischen Büchervernichtung vor Augen, die sich auch auf die besetzten Staaten Europas erstreckte und nicht nur die bekannten belletristischen Autoren betraf, sondern auch unzählige wissenschaftliche Werke, die nur in kleiner Auflage erschienen waren und unwiederbringlich verloren gingen.
Erika Buchholtz liefert in ihrem Aufsatz über die „Arisierung“ des Musikverlags C.F. Peters eine detailreiche Schilderung der sozialen und wirtschaftlichen Verdrängung und Verfolgung der Eigentümerfamilie Hinrichsen. Der Verlag, der aufgrund seines internationalen Renommees zunächst mit einer Sondergenehmigung weiter bestehen konnte, wurde schließlich 1938 aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen und von einem Schützling Hermann Görings und einem führende Mitarbeiter des Mainzer Musikverlags Schott, der über gute Beziehungen zum Reichspropagandaministerium verfügte, zu einem lächerlich niedrigen Preis erworben. Aufgrund der verzögerten Auszahlung des Kaufpreises und der Ausplünderung durch die NS-Behörden misslang dem Seniorchef Henri Hinrichsen die geplante Auswanderung in die USA. Er wurde 1942 von Brüssel aus nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Ein wenig unklar bleibt der Bezug zum Thema „Arisierung“ bei Werner Schroeders Beitrag über die Leipziger Schrifttumsstelle des SD. Hier kann nur eine Art geistige „Arisierung“ gemeint sein, lieferte doch die Leipziger Stelle die Vorarbeit für unzählige Verbote von Schriften jüdischer Autoren. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Beitrags eher auf der Schilderung der personellen Entwicklung der Leipziger SD-Abteilung und des Wandels ihrer Aufgaben und ihrer Stellung im Gefüge des SD. Spannend sind dabei die Karrieren der Mitarbeiter nach 1945, die zeigen, wie das Netzwerk „alter Kameraden“ nach wie vor intakt blieb.
Alle folgenden Beiträge beschäftigen sich mit „NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz“, so der offizielle Terminus. Grit Nitzsche beschreibt die Suche nach unrechtmäßig entzogenen Büchern in der Universitätsbibliothek Leipzig, während Cornelia Briehl am Beispiel der Bücher der Warenhausunternehmer Georg und Martin Tietz die Verstrickung der Leipziger Stadtbibliothek in die Verwertung jüdischen Eigentums untersucht. Dass diese Bücher letztlich wohl als Beutegut in der Sowjetunion landeten, wirft auch ein neues Licht auf dieses Thema, das in der Öffentlichkeit meist nur mit einigen wenigen spektakulären Objekten in Verbindung gebracht wird.
Schon diese beiden ersten Aufsätze über entzogene Bücher zeigen, was auch in den folgenden Beiträgen über Kunstgegenstände deutlich wird: Sind die gesuchten Objekte – meist prominenter Sammler – bekannt, so ist es in vielen Fällen möglich, ihr Schicksal zu verfolgen. Umgekehrt ist es äußerst mühselig und wenig erfolgreich, die Bestände von Bibliotheken und Museen auf Erwerbungen aus dem Besitz verfolgter Personen zu durchforsten. Eine eigene Einleitung für diesen Themenkomplex hätte insbesondere die Schilderungen der mühsamen Provenienzforschung zusammenfassen und in den Forschungsstand sowie die organisatorischen Strukturen dieses Bereichs einführen können, so dass lästige Wiederholungen entfallen wären. Zwar übernimmt der Beitrag von Monika Gibas über die Rolle der Leipziger Kunstmuseen und Kunsthändler bei der Enteignung jüdischer Kunstbesitzer teilweise diese Funktion. Jedoch wird hier zugleich das Fallbeispiel der Graphischen Sammlung des Leipziger Museums der bildenden Künste behandelt, das später auch im Aufsatz von Dietulf Sander über die Provenienzforschung in ebendiesem Museum noch einmal auftaucht. Eine Zusammenfassung wäre auch bei den Beiträgen von Petra Knöller und dem Autorenteam Ute Camphausen und Eberhard Patzig wünschenswert gewesen, die beide das Grassi Museum für Angewandte Kunst behandeln.
Alle Aufsätze zeigen, dass die jeweils nur für einen kurzen Zeitraum vergebenen Werkverträge bislang nur eine stichprobenartige Überprüfung der Bestände auf NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter erlaubten und dass nur wenige solcher Güter auf diese Weise sicher ermittelt werden konnten. Ein weiterer, nicht immer gelungener Schritt ist die Ermittlung der rechtmäßigen Besitzer. In diesem Zusammenhang mutet es seltsam an, dass Dietulf Sander zunächst den Wunsch äußert, „begangenes Unrecht teilweise wiedergutzumachen“, um dann im Zusammenhang mit gegebenenfalls noch anstehenden Restitutionen wertvoller Werke mögliche „bedauerliche Verluste“ (S. 286) zu beklagen. Zwar ist sein Wunsch, „einige der herausragenden Stücke für Leipzig dauerhaft zu erhalten“ (S. 287) aus Sicht des Museologen verständlich, jedoch sollte an dieser Stelle das Verständnis in erster Linie den rechtmäßigen Erben und ihren Wünschen gelten.
Wie der Berliner Band endet auch der Leipziger mit einem Beitrag zur Restitution, wobei es in diesem Fall um Kunstobjekte aus der Sammlung des Musikverlegers Henri Hinrichsen geht. Ähnlich wie im Fall der Wertheim-Kaufhäuser wurde auch hier die erste Restitution bzw. die in diesem Zusammenhang – möglicherweise unter Druck – erfolgte Schenkung einiger Werke an das Leipziger Museum der bildenden Künste in jüngster Zeit erfolgreich angefochten und die Werke ein zweites Mal zurückgegeben. Sorgfältig unterrichtet Eckhard Braun den Leser über die moralischen und juristischen Implikationen dieses Falls.
Beide Sammelbände müssen vor allem als Anregung für weitere Forschungen verstanden werden, denn verallgemeinernde Aussagen über wichtige Strukturen und Akteure wie auch über die quantitativen Dimensionen der „Arisierung“ bedürfen einer wesentlich breiteren empirischen Basis. Unabhängig davon zeigt die höchst unterschiedliche Verwendung des Begriffs „Arisierung“ in den beiden Bänden, dass eine wissenschaftliche Debatte zur Definition dieses Terminus’ dringend notwendig ist.
Anmerkungen:
1 Die Verfolgung von Eigeninteressen durch die Reichsministerien stellt keine „Besonderheit Berlins“ (S. 48) dar und kann nicht in einen Gegensatz zu den Verhältnissen in Hamburg gerückt werden, denn auch Bajohr widmet dem Eingreifen der Reichsregierung in bestimmte Hamburger „Arisierungsfälle“ ein eigenes Kapitel. Vgl. Bajohr, Frank, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997, S. 251-264.
2 Gruner, Wolf, Die NS-Verfolgung und die Kommunen. Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933-1941, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 75-126; ders.: Die Grundstücke der „Reichsfeinde“. Zur „Arisierung“ von Immobilien durch Städte und Gemeinden 1938-1945, in: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, S. 125-156; ders., Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik um NS-Staat (1933-1942), München 2002.