Titel
Lorenz von Stein. Deutsche Gelehrtenpolitik in der Habsburgermonarchie


Autor(en)
Blasius, Dirk
Reihe
Schriftenreihe des Lorenz von Stein Instituts für Verwaltungswissenschaft
Anzahl Seiten
VIII, 151 S.
Preis
€ 36,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Pinwinkler, Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Die Verlaufsformen und Folgen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts beschäftigten schon zeitgenössische Beobachter. Lorenz von Stein (1815-1890), einem ihrer scharfsichtigsten Diagnostiker, ist die hier zu besprechende Studie gewidmet. Der Gesellschaftswissenschaftler und Staatsrechtler Stein wurde vor allem wegen seiner theoretischen Konzeption des Verhältnisses zwischen „Gesellschaft” und „Staat” bekannt. Er wollte die Gesellschaft vor den Folgen der Klassenbildung bewahren und sah die eigentliche Berufung des Staates im Ausgleich sozialer Gegensätze. Damit argumentierte er aus einer Perspektive, die nach der gescheiterten Revolution von 1848 im Staat den Garant für die Bewahrung der „bürgerlichen” Werteordnung erblickte.

Dirk Blasius, emeritierter Professor für Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen, widmete sich 1970 in seiner Dissertation erstmals der „politischen Ideenwelt“ dieses Gelehrten. Er trat seither mehrfach mit Arbeiten über Stein hervor.1 In seiner jüngsten Studie geht Blasius einem bislang nur wenig beachteten Aspekt von Steins vielseitigem Schaffen nach: Er konzentriert sich auf sein politisches Schrifttum, das er in der Zeit seiner Tätigkeit als Staatsrechtslehrer an der Universität Wien (1855-1890) veröffentlichte. Blasius charakterisiert Stein als „Gelehrtenpolitiker”, dessen „Einsichten in den Ablauf historischer Prozesse [...] eine Art Kompass für die Jahre” bildeten, „in denen zwischen Österreich und Preußen um die Lösung der nationalen Frage gerungen wurde” (S. 2). Die Studie schließt damit an Trends in der wissenschaftsgeschichtlichen und zeithistorischen Forschung an, die in den letzten Jahren den Relationen von Wissenschaft und Politik zunehmend ihr Augenmerk geschenkt haben. Wissenschaftler/-innen werden in diesen Perspektiven als Akteure untersucht, die in eng miteinander verschränkten politischen und wissenschaftlichen Sphären tätig wurden.2

Dieser Befund ist für die Geschichte des ausgehenden 19. und für das 20. Jahrhundert vielfach empirisch belegt. Doch welche Formen und Auswirkungen das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im Lauf des 19. Jahrhunderts hatte, ist bislang nur wenig untersucht worden. Blasius vermag nun aufzuzeigen, dass journalistische Publizistik und die Bildung eines Netzwerks von Kontakten, die bis in Kreise der Hochbürokratie hineinreichten, Instrumente der Gelehrtenpolitik darstellten, die Steins öffentliches Wirken in seiner Wiener Zeit wesentlich kennzeichneten. Als kontinuierlicher Beobachter der Rivalität zwischen Österreich und Preußen positionierte sich Stein nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 immer mehr zugunsten Österreichs. Gleichzeitig trat er für soziale Reformen ein, womit er die bestehende bürgerliche Ordnung langfristig zu bewahren hoffte. Obgleich beide deutsche Großstaaten nach 1848 zu einer Politik des Neoabsolutismus (Österreich, 1851-1859) bzw. der antirevolutionären Reaktion (Preußen, 1850-1858) zurückkehrten, traute Stein Österreich eher als Preußen liberale Reformen zu. An Preußen kritisierte er besonders das Dreiklassenwahlrecht als Ausdruck feudaler Klassenherrschaft. Österreichs zaghafte Versuche einer Konstitutionalisierung, aber auch die in den 1850er-Jahren dort abgeschlossene „Grundentlastung” sah er hingegen als für die anderen deutschen Staaten vorbildhaft an. Außenpolitisch trat Stein vor allem deshalb für eine Führungsrolle Österreichs ein, weil er in Russland eine mögliche Gefahr für den Zusammenhalt im Deutschen Bund sah, der nur in der Versöhnung der beiden deutschen Großmächte und im Fortbestehen der staatsrechtlichen Bindung Österreichs an Deutschland begegnet werden könne.

Das großdeutsche Denken Steins rekonstruiert Blasius wesentlich anhand seiner anonymen Veröffentlichungen in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung”, die er anhand ihres überlieferten Redaktionsexemplars Stein zuordnen kann. Stein betätigte sich in diesem großdeutsch eingestellten einflussreichen Blatt als politischer Autor und kommentierte seit Beginn der 1850er-Jahre von Wien aus aktuelle politische Fragen. Bei seiner Bewerbung um den Lehrstuhl für politische Ökonomie an der Universität Wien fand er in Unterrichtsminister Leo Thun einen entscheidenden Befürworter, der Stein trotz seiner früheren Verbindungen zur antidänischen Revolution in Kiel als Kenner der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse Norddeutschlands schätzte und in ihm einen Förderer des Ansehens Österreichs sah. In der „Allgemeinen Zeitung” warb Stein in den Jahren nach seiner Berufung nach Wien tatsächlich für eine Stärkung der wirtschaftlichen Stellung Österreichs in Südosteuropa. Er verknüpfte damit das Postulat einer „zivilisatorischen” Mission der Donaumonarchie. Darüber hinaus nahm Stein in informellen Zirkeln regen Anteil an Debatten um die wirtschaftliche und politische Reform in Österreich. Blasius konstatiert insbesondere eine enge Beziehung zwischen dem Gelehrten und dem österreichischen Handelsminister Freiherrn von Bruck. Nach der Niederlage Österreichs im italienischen Krieg (1859) entwarf Bruck eine an den Kaiser gerichtete publizierte Denkschrift („Aufgaben Österreichs”), in der er den Habsburgerstaat als Motor eines zollgeeinten Mitteleuropa beschrieb. Hinweise in der Korrespondenz zwischen Bruck und Stein, aber auch der sprachliche Duktus dieser Schrift lassen es aus der Sicht von Blasius als wahrscheinlich erscheinen, dass Stein ihr aktiver Mitverfasser war. Dieses Beispiel verdeutlicht übrigens die allgemeine Problematik, „Gelehrtenpolitik” für den Untersuchungszeitraum empirisch zu fassen, wobei Blasius’ quellenkritisch-vergleichende Methodik und seine breit kontextualisierende Analyse als dem Gegenstand durchaus angemessene Zugangsweisen erscheinen.

Blasius verortet Stein in den Milieus des deutschliberalen Zentralismus und der deutschliberalen Wiener Hochbürokratie der 1850er- bis 1870er-Jahre. Sein Eintreten für den konstitutionellen habsburgischen Gesamtstaat war eng mit der Ablehnung politischer Sonderrechte für die Magyaren verknüpft. Die inneren Widersprüche der Monarchie und vor allem die gegen Österreich gerichtete preußische Zollvereinspolitik ließen die von Stein vertretene Konzeption der verfassungspolitischen Angleichung und wirtschaftlichen Anbindung Österreichs an den Deutschen Bund jedoch zunehmend unwahrscheinlicher werden. Steins Artikel in der „Allgemeinen Zeitung” dokumentieren seine zunehmende Ratlosigkeit gegenüber dieser Entwicklung, was allgemein als Ausdruck des Scheiterns der deutschliberalen Politik betrachtet werden kann. Es war somit durchaus konsequent, dass Stein nach 1866/70 als politischer Kommentator weitgehend verstummte und sich vermehrt seinen staatsrechtlichen und finanzwissenschaftlichen Studien widmete. Gerade in diesen Schriften wird jedoch deutlich, dass er weiterhin ein kritischer politischer Beobachter blieb: Preußen-Deutschland konnte sich nach seiner Auffassung nur dann „fortschrittlich” weiterentwickeln, wenn feudale Privilegien beseitigt und eine funktionierende Selbstverwaltung auf Gemeindeebene eingeführt würden. Österreichs Ausgreifen auf den Balkan deutete er – hierin überaus hellsichtig – als mögliches Problem für die fragile Struktur dieses Nationalitätenstaates. Die Habsburgermonarchie bezeichnete er in der „Allgemeinen Zeitung” als „die einzige größere Macht welche nicht homogen und dennoch verfassungsmäßig organisirt” sei. Dieses einzigartige „Experiment der Weltgeschichte” sei „bis jetzt weder gelungen noch nicht gelungen; es ist einfach nicht fertig geworden” (S. 135).

Dieses Zitat verdeutlicht nicht zuletzt, wie verhältnismäßig perspektivisch offen die jeweilige politische Lage eingeschätzt werden konnte. Blasius zeichnet ein differenzierendes Bild von Stein als politischem Kommentator und sucht Reichweite und Grenzen einer „deutschen Gelehrtenpolitik in der Habsburger Monarchie” auszuloten. Zu bedauern ist dabei, dass der Autor seine Analysen nicht mit einer stärker theoretisch reflektierenden Auseinandersetzung mit dem Begriff „Gelehrtenpolitik” untermauert. Die Bedeutung dieser Bezeichnung im Kontext der postrevolutionären Habsburgermonarchie, die sich bis zu den 1870er-Jahren wesentlich auf informelle und publizistische Praktiken bezog, wird jedoch plastisch erkennbar. Erst im letzten Lebensjahrzehnt Steins formierten sich in Österreich vermehrt sozialpolitische Ansätze, die Gelehrten als „Experten” eine längerfristige formalisierte Einbindung in Verwaltungshandeln und Politik ermöglichten. Blasius´ sorgfältig ausgearbeitete Studie beschränkt sich nicht nur darauf, anhand neu erschlossener Quellen bislang wenig bekannte Aspekte von Lorenz von Steins publizistischem Wirken herauszuarbeiten. Sie vermittelt darüber hinaus grundlegende Einblicke in das Verhältnis von Wissenschaft, Bürokratie und Politik in der krisenhaften Zeit von deutscher Reichsgründung und staatlichem Umbau des Habsburgerreiches.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Blasius, Dirk, Lorenz von Stein - Grundlagen und Struktur seiner politischen Ideenwelt. Phil. Diss., Köln 1970; ders.; Pankoke, Eckhart, Lorenz von Stein. Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven, Darmstadt 1977; ders., Zeitdiagnosen: Carl Schmitt und Lorenz von Stein, in: Drepper, Thomas u.a. (Hrsg.), Sozialer Wandel und kulturelle Innovation. Festschrift für Eckhart Pankoke, Berlin 2005, S. 71-83.
2 Vgl. Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 165-193; Ash, Mitchell G., Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Vom Bruch, Rüdiger (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik - Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deuschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-51, Fisch, Stefan; Rudloff, Wilfried (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004.