Die mit dem zu besprechenden Sammelband gleichnamige Ausstellung stieß in Hermannstadt/Sibiu, Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca und Reschitz auf großes Zuschauer- und Medieninteresse.1 Mehr als 20.000 Besucher wurden gezählt. Die Ausstellung selbst war Tageszeitungen wie den wichtigen rumänischen Kultursendungen in Radio und Fernsehen ausführliche Besprechungen wert. Dies ist zum einen mit der Biographie Willy Praghers zu erklären, der 1908 als Sohn eines aus Rumänien stammenden Kaufmannes geboren wurde und der in der Zwischenkriegszeit zunächst mehrere Fotoreisen im Land machte, bevor er sich 1939 in Bukarest niederließ. Zum anderen ist das Praghersche Werk in Quantität und Qualität für das rumänische Publikum eine Neuentdeckung. Innerhalb des Bestandes Willy Pragher im Staatsarchiv Freiburg, der sich auf mehrere hunderttausend Fotos beläuft, stellen die etwa 13.000 Rumänienfotos einen der großen thematischen Blöcke dar (Christof Strauß, „Der Bestand Willy Pragher im Staatsarchiv Freiburg“). Die nun in Rumänien erstmals in großer Zahl zu sehenden Aufnahmen weisen Pragher als bedeutenden Vertreter des „Neuen Sehens“ und der „Neuen Sachlichkeit“ in der Fotografie aus.
Der die Ausstellung begleitende Band kann aus drei Erkenntnisinteressen heraus mit Gewinn rezipiert werden. Erstens als Technik- und Fotografiegeschichte, zu denen Kurt Hochstuhl über „Willy Pragher – Fotografiker und Bildjournalist“ sowie Wolfgang Kuback über „Willy Praghers Kamera“ Aufsätze beisteuern. Zweitens als Beitrag zur deutschen und rumänischen Sozialgeschichte des Bildjournalismus, ein Thema, dass Thomas Groß „Der deutsche Bildjournalismus der Zwanziger Jahre“, Emanuel Bădescu „Rumänische Fotografen in der Zwischenkriegszeit“, Mirian Y. Arani „Deutsche Pressefotografie im Kontext der NS-Kriegspropaganda“ sowie Mioara Anton „Kriegspropaganda in Rumänien“ behandeln. Drittens kann Praghers Werk als Reflexion von Rumäniens Aufbruch in die Moderne während der Zwischenkriegszeit gesehen werden, zu dem Bogdan und Mirela-Luminiţa Murgescu „Aufbruch in die Moderne?“, Mathias Beer „Deutsche in Rumänien 1918–1945“ und Hanna Derer „Die Naht – Städtebau und Architektur in Bukarest 1918–1945“ den Kontext liefern. Die Herausgeber des Bandes selbst befassen sich schließlich mit Praghers Rumänienbildern im engeren Sinne.
Die Ausführungen Derers und Bădescus geben einen hervorragenden Eindruck davon, weshalb die Zwischenkriegszeit Rumäniens heute im Land als Periode des technisch-wirtschaftlichen und kulturellen Aufbruchs in die Moderne verstanden wird. Architektur und Fotografie stehen stellvertretend für Techniken und Praktiken, die aus einem überwiegend agrarisch geprägten Land binnen kurzer Zeit eine von Industrialisierung und Urbanisierung geprägte Gesellschaft zu machen schienen. Insbesondere Bogdan und Mirela-Luminiţa Murgescu relativieren diese Sicht, wenn sie auf die Inselhaftigkeit dieser Phänomene innerhalb eines Meeres ländlicher Rückständigkeit verweisen. Der prekäre Parlamentarismus, eingeklemmt zwischen autoritärem Königshaus und außenpolitischem Druck des nationalsozialistischen Deutschland sowie aller revisionistischer Nachbarländer in der Frage der ethnischen Minderheiten Rumäniens in den 1930er-Jahren, verweisen zudem auf die politischen und kulturellen Grenzen des Aufbruchs.
Die Rumänienbilder Willy Praghers reflektieren sowohl die Ungleichzeitigkeiten dieses Aufbruchs in die Moderne, als auch den Blick eines zwar mit viel Empathie für Land und Leute ausgestatteten Fotografen, der sich gleichwohl auch an politischen Vorgaben orientieren musste. Pragher hatte in Berlin eine doppelte Ausbildung zum Satz-, Druck- und Produktionstechniker sowie als Gebrauchsgraphiker an der Kunst- und Kunstgewerbeschule Albert Reimanns durchlaufen. Über das Fotostudio der Reimann-Schule fand er Anfang der 1930er-Jahre zur professionellen Fotografie und veröffentlichte als freier Bildjournalist bald in zahlreichen, meist Berliner Zeitschriften und Zeitungen. Bereits seit 1926 hatte er systematisch am Aufbau eines Bildarchivs gearbeitet, wobei die Auswahl seiner Motive von der Suche nach dem Alltäglichen und nicht von der Abbildung politischer Ereignisse charakterisiert war. Obwohl er auch nach der Machtergreifung Hitlers Dank seines Bildarchivs eine weitgehende journalistische und wirtschaftliche Unabhängigkeit erhalten konnte, mag ihm das Angebot einer rumänischen Ölvertriebsgesellschaft, eine Arbeit als Fotograf und Grafiker anzutreten, wie eine Befreiung aus den enger werdenden deutschen Verhältnissen erschienen sein. Daneben arbeitete er weiter als Bildberichterstatter für mehrere rumänische und reichsdeutsche Zeitschriften, darunter auch für „Signal“, die als Instrument der deutschen Auslands- und Besatzungspropaganda während des Zweiten Weltkriegs bekannt ist.
Bis in die Zwischenkriegszeit hinein wurde Rumänien in der deutschen Öffentlichkeit als ein im Wesentlichen agrarisches Land repräsentiert, das von einer dünnen und verschwendungssüchtigen Oberschicht beherrscht wurde, die zudem minderheitenfeindlich eingestellt war. Als wichtiger Lieferant von Getreide und Rohöl erlangte Rumänien ab Mitte der 1930er-Jahre innerhalb des „Wirtschaftsraums Großdeutschland Südost“ neue Wichtigkeit. Von nun an wurde die wirtschaftliche und nach dem Kriegseintritt das Landes unter Marschall Ion Antonescu im Juni 1941 auch die politisch-militärische Komplementarität zu Deutschland betont. Dieser Kontext wirkte sich als Nachfrage nach bestimmtem Bildmaterial unmittelbar auf das Werk Praghers aus. Josef Wolf deutet dessen Rumänienbilder schlüssig als von Gegensatzpaaren wie West – Ost, Moderne – Tradition, Stadt – Land, Zentrum – Peripherie sowie Einheit – (ethnische) Vielfalt strukturiert.
Im umfangreichen Bildteil (S. 133–311) des Ausstellungskatalogs werden die Fotografien in fünf Kapiteln dokumentiert: Räume – Kulturlandschaften – Menschen; Der Siegeszug der Moderne; Gemeinsam leben; Vom Frieden zum Krieg sowie Fotografie und Wirklichkeit. Dieser Teil wird durch zahlreiche Fotografien von Pragher selbst sowie seiner deutschen und rumänischen Kollegen aus der Zwischenkriegszeit ergänzt, die den Textteil illustrieren. Insbesondere die Bildmotive aus dem 1942 im Berliner Wiking Verlag zweisprachig erschienenen Bildband „Bukarest – Stadt der Gegensätze“ deuten sowohl auf die Persistenz der traditionellen Repräsentation Rumäniens als Zwischenraum zwischen West und Ost hin, als auch auf den politisch von Deutschland und Rumänien gewollten Wandel in der Darstellung. Deutlich im Vordergrund – jedenfalls lässt der Ausstellungskatalog dies vermuten – stehen jedoch Themen wie moderne Stadtarchitektur und industrielle Arbeitswelt. Dieser Eindruck lässt sich aber für das Rumänienbild insgesamt nicht halten, denn den wenigen Fotografien von Erdölförderung, modernen Brücken, Eisenbahnbau usw. steht eine Vielzahl traditioneller Motive, wie das bis heute in der Rumänienrepräsentation unvermeidliche Pferdefuhrwerk gegenüber. Vergleicht man allerdings Praghers Fotos der frühen 1930er-Jahre mit denjenigen nach 1938, so ist klar zu erkennen, dass er den politisch motivierten Wandel in der Repräsentation Rumäniens von einem pittoresken Balkanstaat zu einem Verbündeten Nazideutschlands mit vollzogen und gestaltet hat. Die Inszenierung der Bildmotive im Kapitel „Vom Frieden zum Krieg“ changiert von reinster anti-bolschewistischer Kriegspropaganda bis hin zu einer kaum zu übersehenden mitfühlenden Darstellung von jüdischen Zwangsarbeitern oder einer zerstörten Synagoge. Letzteres kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Pragher das vollste Vertrauen sowohl der rumänischen Presse- und Informationsabteilung des Außenministeriums als auch der deutschen Gesandtschaft in Bukarest besaß.
Die Herausgeber diskutieren zwar Praghers Einbettung in die neuen politischen Kontexte seit den späten 1930er-Jahren, kommen aber – vermutlich aufgrund mangelnder schriftlichen Quellen – nicht zu eindeutigen Wertungen hinsichtlich seiner Haltung zum Nationalsozialismus und zum deutsch-rumänischen Krieg gegen die Sowjetunion. Dies bleibt dem Betrachter seiner Rumänien-Fotografien überlassen.
Anmerkung:
1 Die deutschen Stationen der Ausstellung waren bisher Tübingen, Ulm, Sigmaringen und Freiburg. Im August 2008 wird sie nach Wien und von da zu weiteren sechs Stationen nach Rumänien gehen, bevor sie im Frühjahr 2009 in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Brüssel zu sehen sein wird, anschließend in Berlin und im Spätsommer 2009 in Stuttgart.