„Mit diesem Buch bricht Andreas Kossert ein Tabu. Er erschüttert den Mythos der rundherum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945. Erstmals erhalten wir ein wirklichkeitsgetreues Bild von den schwierigen Lebensumständen der Menschen im ‚Wirtschaftswunderland’.“ Mit diesen wenigen Sätzen (und großen Worten) wirbt der Verlag für „Kalte Heimat“. Zu Recht? Legt man die Erträge der einschlägigen Forschung zugrunde, trifft wohl keine der Aussagen zu.
Wird ein Tabu gebrochen? Nein. Das Buch selbst ist der beste Beleg dafür. Es fußt nämlich nicht auf Archivrecherchen, sondern fasst wesentliche Teile insbesondere der neueren Forschung zur Eingliederung der rund zwölf Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten zusammen. Aus diesem fruchtbaren Fundus schöpft das Buch ebenso ausgiebig wie es daraus zitiert, wobei manchmal der entsprechende Nachweis zu vermissen ist. Wenn das Thema bisher gemieden, wenn nicht schon seit Jahrzehnten nach dem Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen gefragt worden wäre, dann fehlten schlicht und einfach die Voraussetzungen für dieses Buch.
Wird ein Mythos erschüttert? Nein. Der Mythos der schnellen und rundherum geglückten Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten ist, wenn es ihn je gegeben hat, von der (westdeutschen) Forschung schon vor mehr als 20 Jahren widerlegt worden. Ungeachtet differierender Einschätzungen in Detailfragen besteht längst Konsens, dass der erste und zahlenmäßig größte Eingliederungsprozess im Nachkriegsdeutschland in hohem Maß konfliktträchtig war und auch noch nicht als vollständig abgeschlossen bezeichnet werden kann.
Wird erstmals „ein wirklichkeitstreues Bild“ der Eingliederungsschwierigkeiten geliefert? Nein. Gegen die Aussage sprechen Abertausende von Publikationen der bereits in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre einsetzenden fächerübergreifenden Forschung. Diese erfuhr seit dem Beginn der 1980er-Jahre aus alltagsgeschichtlicher Perspektive sowie stark regional, lokal und biographisch geprägt einen neuen, bis in die Gegenwart anhaltenden Schub. Das Ergebnis sind ebenso detailreiche wie überzeugende Bilder der unterschiedlichen Facetten des Eingliederungsprozesses (Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Religion, Familie, Alltag).
Trifft dann zumindest die angedeutete Inhaltsangabe zu? Leider auch nicht. Anders als die Verlagswerbung glauben machen will, ist Kosserts Blick nicht nur auf die Bundesrepublik und auch keineswegs nur auf die Zeit des „Wirtschaftswunders“ gerichtet. Zwar steht die Bundesrepublik im Mittelpunkt, doch spannt das Buch einen großen geographischen und zeitlichen Bogen, der mit Schlaglichtern auf die deutsche Geschichte im Osten Europas beginnt, dann die Flucht, Ausweisung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten des Reiches und einer Reihe von Staaten Ostmitteleuropas am Ende des Zweiten Weltkriegs skizziert sowie Facetten des Integrationsprozesses in den beiden deutschen Staaten schildert, um schließlich dem Stellenwert dieses Kapitels deutscher Geschichte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen nachzugehen.
Wird der Leser enttäuscht, wenn er aufgrund solcher (offensichtlich bewusst) übertreibenden Werbung zu diesem Buch greift? Sicher nicht. Dafür sprechen schon die Platzierungen des Bandes in den Sachbuchbestsellerlisten, die in Vorbereitung befindliche vierte Auflage und das positive Echo in den deutschen Feuilletons. Für Fachleute und Laien ist es ein lesenswertes Buch, aber aus anderen Gründen als jenen, mit denen der Verlag wirbt.
Der am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätige Andreas Kossert gliedert den riesigen Stoff seiner „Geschichte der deutschen Vertriebenen“ in zwölf Kapitel. Zunächst umreißt er das Ziel, das er mit dem Buch verfolgt: „Es geht um die Aufnahme der deutschen Opfer von Krieg und Nachkrieg in die allgemeine Erinnerung. Der Kampf um die Anerkennung der Vertriebenen als Opfer richtet sich weniger gegen die ostmitteleuropäischen Nachbarvölker als vielmehr auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft.“ (S. 15) Auch wenn eine Zweiteilung in „Mehrheitsgesellschaft“ versus „Flüchtlinge und Vertriebene“ angesichts des weit vorangeschrittenen Eingliederungsprozesses etwas anachronistisch anmutet, wird damit das erinnerungspolitische Anliegen des bewusst aneckenden und gut lesbaren Buches deutlich: Die Verlustgeschichte der deutschen Vertriebenen möchte Kossert in der deutschen Erinnerung aufgehoben wissen; dazu will er die Aufmerksamkeit für den hürdenreichen Eingliederungsprozess schärfen: „Sie mussten sich anpassen im Westen ihres Vaterlandes, das ihnen zur kalten Heimat werden sollte.“ (S. 16)
Nachdem Kossert die Vorgeschichte in zwei kürzeren Kapiteln kursorisch dargestellt hat, folgen sieben Kapitel mit eindringlichen Schilderungen. Wie die Eingangskapitel sind auch sie mit einer Reihe kleinerer und größerer Ungenauigkeiten und Fehler behaftet (ein Tribut an das riesige Thema und die Masse an Literatur?). In einem über 60 Jahre umfassenden, auf viele Beispiele gestützten Bogen behandelt Kossert die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen („Die Polacken kommen“), die staatlichen Eingliederungsbemühungen einschließlich des Lastenausgleichs, die Geschichte der Interessenvertretungen der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Politisierung und Polarisierung der Vertriebenenfrage seit den 1960er-Jahren, die „Umsiedlerfrage“ in der SBZ und DDR, die Auswirkungen der Vertriebenenintegration im Bereich der Kirchen, die Darstellung des Themas in der Literatur und den Medien und schließlich das „kulturelle Erbe der Vertriebenen“ – vom „Vermächtnis der verlorenen Landschaften“ bis hin zu „Knoblauch, Königsberger Klopsen und Mohnkuchen“. Kosserts Anspruch ist es, die Flüchtlinge und Vertriebenen selbst in den Mittelpunkt zu stellen, was allerdings gängige Praxis in der Forschung ist. Zudem ist zu fragen, wie ein Integrationsprozess angemessen analysiert werden kann, wenn der Blick vornehmlich nur auf eine der beiden am Prozess beteiligten Seiten gerichtet ist. Aus einer solchen Perspektive lassen sich die Auswirkungen auf die bundesrepublikanische Gesellschaft zwar postulieren, aber nicht belegen.
In den beiden abschließenden Kapiteln kehrt Kossert zum Anfang seines Buches zurück. Wie immer mit spitzer Feder schreibt er vom „unbewältigten Schmerz“, den Flucht, Vertreibung und Integration hinterlassen hätten, und von einer „kriegsfolgenbedingten Menschenrechtsverletzung“ (S. 352): „Im Volk der Täter konnte es, durfte es keine Opfer gegeben haben. Dieses Bewusstsein hat vermutlich die Kaltherzigkeit hervorgebracht, die die Nachkriegsgeneration gegenüber dem Schicksal der Vertriebenen an den Tag legte.“ (S. 325) Kossert plädiert vor diesem Hintergrund mit Nachdruck für eine „gesamtdeutsche Verpflichtung zu Dokumentation und Erinnerung“ (S. 335), die er geradezu stakkatohaft und mit zum Teil bemerkenswerten Beispielen einfordert: „Wenn in Schleswig-Holstein vierzig Prozent der Bevölkerung Vertriebene mit ihren Nachfahren sind, müssten streng genommen vierzig Prozent der Kulturförderung für das Land zur Pflege von deren Traditionen aufgewandt werden.“ (S. 342)
Andreas Kossert liefert (s)eine Geschichte, nicht „Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“. Eine solche bleibt auch nach diesem wichtigen Buch ein Desiderat der Forschung. Kossert liefert sie nicht, weil das offensichtlich gar nicht sein Ziel war. Er verlässt mit seinem Buch den Elfenbeinturm der Wissenschaft und drängt geradezu in den öffentlichen Raum. Er will die deutsche Geschichte im Osten Europas vor 1945 ebenso in das bundesdeutsche Geschichtsbewusstsein eingebettet sehen wie den konfliktreichen Eingliederungsprozess von rund zwölf Millionen deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen in die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Seine Adressaten sind nicht die Herkunftsstaaten der Flüchtlinge und Vertriebenen, sondern er wendet sich an die deutsche Gesellschaft, die „breite Öffentlichkeit“. Vor diesem Hintergrund wäre es von Interesse, die Rezeptionsgeschichte des Buches zu verfolgen, das auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich ist. Welchen Anteil an der Leserschaft mögen „Alteingesessene“ und „Vertriebene“ haben?
Kosserts Buch ist ein begeistertes und streitbares Plädoyer – nicht zuletzt deshalb ist von einem „Kampf um die Anerkennung der Vertriebenen als Opfer“ die Rede (S. 15). Es ist voller Appelle und Fragen, von denen zu wünschen ist, dass sie Eingang in die Debatten finden. Darüber hinaus ist das Buch ein Beleg für die weit geöffnete Schere zwischen der Erforschung der Vertriebenenintegration und der öffentlichen Wahrnehmung – ein Phänomen, das auch bei anderen zeithistorischen Themen zu beobachten ist. Schließlich ist das Buch Ausdruck und Teil einer neuen Phase der „deutschen Flüchtlings- und Vertriebenenforschung“. Dabei steht nicht mehr die Erforschung der vielgestaltigen und konfliktreichen Eingliederungsvorgänge im Mittelpunkt, sondern die Erinnerung daran.