Eine Auswahl von 320 Dokumenten legt der Herausgeberkreis mit dem ersten Band der Edition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden vor. Die in den kommenden zehn Jahren zu komplettierende 16-bändige Edition wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft langfristig finanziert und findet Unterstützung durch in- und ausländische Archive. Den vorliegenden Band zum Deutschen Reich 1933-1937 hat Wolf Gruner eingeleitet, der als Bearbeiter auch die Recherche sowie die Kommentierung der Dokumente verantwortet. Gudrun Schroeter, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin und neun studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte (Romina Becker, Giles Bennet, Natascha Butzke, Florian Danecke, Ulrike Heikaus, Ivonne Meybohm, Titus Milosevic, Remigius Stachowiak und Elisabeth Weber) haben zur Entstehung des Bands beigetragen. Die Dokumentenedition ist eine Dienstleistung für alle, die sich künftig anhand schriftlicher oder verschriftlichter Quellen mit der Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden während der Nazizeit auseinandersetzen wollen.
Die Edition macht bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der Judenverfolgung in der NS-Zeit den Rückgriff auf andere Spezialeditionen nicht entbehrlich, sei dies von Polizei- oder Sopade-Berichten, von Regierungs-, Partei-, Militär-, Kirchen- oder Nachkriegsprozessakten. Auch ersetzt sie nicht die früheren Dokumentationen, die – wie die Herausgeber im Vorwort bemerken – als thematisch übergreifende Sammlungen unter Gesichtspunkten der pädagogischen Wirkung konzipiert sind oder politisch-thematische Schwerpunkte setzen. Ihrerseits verzichten die Herausgeber innerhalb der einzelnen Bände auf thematische Bündelungen, weil sie “interpretierende und dramatisierende Abfolgen vermeiden” (S. 7) wollen. Sie stellen die mit größter Sorgfalt kommentierten Quellen ungekürzt zur Interpretation bereit, ohne zu verkennen, dass die Auswahl der Dokumente Ausdruck ihres derzeitigen Wissensstands ist. Aufgenommen werden in aller Regel nur zeitgenössische, ab 1933 in Deutschland, ansonsten ab 1938 und bis zur Befreiung vom Faschismus 1945 entstandene Quellen. Einen Überblick zu der anspruchsvollen Gesamtedition, zu den Kriterien der Quellenauswahl und zur politisch-territorialen Gliederung der Reihe hat Dieter Pohl 2005 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte gegeben und dabei die zeitlichen, geographischen und sachlichen Abgrenzungen der Bände gegeneinander und verbleibende Kompromisse und Ausnahmen von den selbstgesetzten Editionsregeln erläutert.1
Der vorliegende Band, zu zitieren als VEJ 1, ist der erste von fünf Bänden zur Judenverfolgung in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei (für den Zeitraum 1938 bis August 1939 folgt auch unter dem Titel Deutsches Reich VEJ 2, Deutsches Reich und Protektorat heißen die Bände VEJ 3 bis September 1941, VEJ 6 bis Juni 1943 und VEJ 11 bis 1945). Weitere vier Bände behandeln die Verelendung und Ermordung der polnischen Juden unter dem jeweiligen deutschen Okkupationsregime und die Vernichtung der deportierten europäischen Juden (jeweils unter dem Haupttitel Polen drei Bände, VEJ 4: September 1939 bis Juli 1941, VEJ 9: Generalgouvernement August 1941 bis 1945 und VEJ 10: eingegliederte Gebiete August 1941 bis 1945; der die Edition abschließende Band VEJ 16: Das KZ Auschwitz und die Zeit der Todesmärsche). Zwei Bände dokumentieren die Massenvernichtung der Juden nach dem Überfall auf die Sowjetunion (VEJ 7 und VEJ 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I und II). Zwei weitere Bände werden dem Schicksal der Juden unter deutscher Herrschaft in West- und Nordeuropa gewidmet sein (VEJ 5: 1940 bis Juni 1942, VEJ 12: Juli 1942 bis 1945). Drei Einzelbände vervollständigen die Edition mit der Dokumentation der Judenverfolgung unter deutscher Hegemonie in den abhängigen Staaten Slowakei, Rumänien und Bulgarien (VEJ 13: 1939 bis 1945), im okkupierten Südost- und Südeuropa (VEJ 14: 1941 bis 1945) und speziell in Ungarn (VEJ 15: 1944 bis 1945).
Für die Dokumentation der deutschen Politik des Völkermords an den europäischen Juden messen die Herausgeber den jeweiligen politischen Regimen der Unterwerfung und damaligen administrativen Grenzen infolge der deutschen Aggression, des Kriegs und der Okkupation mehr Relevanz zu, als den international anerkannten Grenzen der damaligen Völkerrechtssubjekte. Das Vorgehen ist mit Blick auf die Periodisierung der Geschichte des Völkermords an den Juden plausibel – und politisch vertretbar, weil die länderspezifische Dokumentenedition “Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945)” bereits vollständig vorliegt.2
Wolf Gruner gibt mit der Einleitung, die 34 der Dokumente einbindet, einen Überblick über die historischen Voraussetzungen der nazistischen Judenverfolgung in Deutschland, die er als Aufhebung der politischen und wirtschaftlichen Emanzipation der Juden durch eine reaktionäre Politik begreift, die Juden schrittweise entrechtete: Ihnen ab 1933 durch Berufsverbote den Zugang zum öffentlichen Dienst verweigerte, sie durch die Nürnberger Rassegesetze 1935 zu Bürgern zweiter Klasse degradierte, und deren seit dem Aprilboykott 1933 angegriffene wirtschaftliche Existenz in Deutschland sie im Jahr 1938 vollends zerstörte.
Die Quellen sind – mit begründeten Ausnahmen – in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung abgedruckt. Weder die Verzeichnisse und Register des 48-seitigen Anhangs, noch das – von diesen nicht erschlossene – auf 14 Druckseiten dem Dokumententeil vorangestellte Verzeichnis der Dokumententitel erlauben eine Orientierung über den Inhalt des Bands. Dadurch ist die als “Nachschlagewerk” und “Schriftdenkmal” empfohlene Edition gegen die Verwendung in Kompositionen von Wissensschnipseln gesperrt und, wer Aufklärung sucht, auf den zeitaufwendigen Weg der quellenkritischen Aneignung einzelner Dokumente verwiesen. Deshalb sei die erschwerte Nutzbarkeit dieses Gebrauchsgegenstands hingenommen.
Zur Struktur der wissenschaftlich fundierten Dokumentenauswahl gehört die von den Herausgebern gesetzte Parität der Quellenherkunft, die keine gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse abbilden oder historische Zeugnisse gewichten will: Den Hauptkorpus bilden Dokumente der Verfolger, denen in möglichst großem Umfang solche der Verfolgten gegenübergestellt werden. Den wenigsten Platz nehmen Schriftstücke der weder als Täter noch als Opfer am historischen Prozess Beteiligten ein. Angestrebt ist eine exemplarische Vielfalt der Art schriftlicher Quellen und der zeitgenössischen Reaktionen auf die Judenverfolgung.
Für den Zeitraum 1933 bis 1937, für den Joseph Walk 1031 behördliche Diskriminierungen gegen Juden rubriziert hat3, versammelt VEJ 1 von den Schreibtischen der Verfolger fast 200 Dokumente, von denen 16 Gesetze und reichsweit geltende Erlasse sind. Die größte Gruppe sind die mehr als 60 internen amtlichen Schreiben und Vermerke, davon sechs aus Kanzleien der NSDAP, 15 von Gestapo und SD und ansonsten mehrheitlich Vorlagen, Stellungnahmen und Berichte aus Reichsministerien. 32 Dokumente stammen aus Nazi-Zeitungen und Fachzeitschriften. Zwei Abhandlungen – in der Historischen Zeitschrift (VEJ 1/234) und vom späteren Bundesminister für Vertriebene (VEJ 1/284) – verdeutlichen, wie damalige Wissenschaftler die Judenfeindschaft als Teil ihres antikommunistischen und antisowjetischen Projekts zu legitimieren trachteten. Jeweils etwa zwei Dutzend Dokumente sind regionale amtliche Verfügungen gegen Juden, antijüdische Eingaben und Initiativen oder Schriftstücke, die abweichende Auffassungen dokumentieren, mal gepaart mit protestierender, mal mit opportunistischer Haltung.
Rund 100 Dokumente geben Reaktionen der Verfolgten auf die von 1933 bis 1937 verschärfte Diskriminierung wieder, davon in den in Deutschland erscheinenden Zeitungen publizierte Stellungnahmen jüdischer Organisationen zwölf, aus deren internen Akten 13 und von deren Eingaben an Behörden 16. Von Komitees im Exil sind weitere vier interne und zwei öffentliche der dokumentierten Berichte zur Verelendung der Juden in Deutschland verfasst worden. 55 Dokumente geben Reaktionen und Einschätzungen von Verfolgten wieder, aus Tagebüchern 14, aus privaten Briefen 11, als Petitionen an Behörden gesandte 20 und im überseeischen Exil verfasste Berichte zehn. Weitere 25 Dokumente spiegeln Haltungen amtlicher Stellen im Ausland oder dokumentieren im Ausland gegen die Judenverfolgung publizierte Artikel. Von diesen illustriert der Bericht der „New York Times“ vom 27. März 1933 über die Vorbereitung von Massenprotesten in den USA (VEJ 1/14), wie sehr die eben erst zweimonatige Terrorherrschaft der Nazis die Handlungsoptionen der verfolgten Juden in Deutschland bereits eingeschränkt hatte.
Die offene Gewalt speziell gegen Juden wird in mehreren Dokumenten erwähnt, einen rassistischen Mord schildert der Artikel der Londoner „Times“ vom 3. April 1933 (VEJ 1/22). Was fehlt ist wenigstens ein editorischer Verweis auf das Kapitel IX „Gewalttaten“ des vom Comité des Délégations Juives im Januar 1934 in Paris herausgegebenen Schwarzbuchs “Die Lage der Juden in Deutschland 1933”. Ein in Genf im Anschluss an eine Reise nach Deutschland verfasster Bericht vom 29. November 1935 (VEJ 1/213) über die Lage der Juden in Deutschland unter den Nürnberger Rassegesetzen zeigt, dass es, um die Verdrängung der Juden aus dem wirtschaftlichen Leben zu beschleunigen und deren Fluchtentscheidungen zu befördern, keiner speziellen Maßregeln der Regierung bedurfte.
Der Band enthält in großer Zahl bisher nicht publizierte Dokumente, darunter die im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau überlieferte Entwurfsfassung eines Gestapo-Berichts über die Chefbesprechung am 20. August 1935 im Reichswirtschaftsministerium (VEJ 1/189) über die nächsten Schritte antijüdischer Politik, ein Dokument, das sich – erleichtert durch die editorischen Verweise auf Fundstellen paralleler Niederschriften – eignet, um in quellenkundlicher Übung in die westdeutsche Historiographie zur antijüdischen Politik des NS-Staats einzuführen und die Wirkung von Lügen vielzitierter Zeitzeugen aus den Reihen der Ministerialbürokratie zu analysieren.
Auch eine Dokumentenedition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland kann manchen befreienden Gedanken bereit halten. Einen solchen hat Heinrich Mann mit der Begegnung eines rumänischen und eines deutschen Juden in seinen Artikel “Die Deutschen und ihre Juden” eingeflochten (VEJ 1/219), den „Die Neue Weltbühne“ im Dezember 1935 im Pariser Exil publizierte.
Weil sich „trotz aller Sorgfalt gelegentliche Ungenauigkeiten in einer solchen Edition nicht gänzlich vermeiden lassen“ (S. 9), bitten die Herausgeber um entsprechende Mitteilungen für Nachauflagen: Zum Berliner Warenhaus N. Israel ist angemerkt: „Das Kaufhaus wurde 1939 'arisiert' und in die Emil Köster AG überführt“ (S. 710). Falsch ist der Satz nicht, doch historisch zutreffender machte ihn erst ein Nachsatz zur Emil Köster AG, die ihrerseits 1933 arisiert worden war und ab 1938 vollends vom Reichswirtschaftsministerium kontrolliert wurde, weil deren gesamtes Grundkapital Gesellschaften des Berliner Unternehmers Jakob Michael zustand, weshalb die Reichsfinanzverwaltung die in Paris deponierten Unternehmensaktien 1941 vom Devisenschutzkommando Frankreich als getarntes jüdisches Vermögen konfiszieren ließ.
Von einer Fußnote über zwei arisierte Berliner Unternehmen zur Gegenwart: Nach amtlicher Statistik (Stand 31. Dezember 2007, www.badv.de) sind im Jahr 2008 noch mehr als 138.000 Ansprüche auf Restitution von Vermögen, das NS-Verfolgten vor 1945 entzogen wurde, offen. Die Dokumentenedition kommt nicht zu spät.
Anmerkungen:
1 Pohl, Dieter, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ein neues Editionsprojekt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4/2005, S. 651-659.
2 Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945). Achtbändige Dokumentenedition, hrsg. von einem Kollegium unter Leitung von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler, Bände 1 bis 5, Berlin 1988 bis 1991, Band 6, hrsg. vom Bundesarchiv, bearbeitet und eingeleitet von Martin Seckendorf, Band 7, hrsg. vom Bundesarchiv, bearbeitet und eingeleitet von Fritz Petrick, Band 8 (= Ergänzungsbände 1 und 2) zusammengestellt und eingeleitet von Werner Röhr, Berlin und Heidelberg 1992 bis 1996.
3 Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien - Inhalt und Bedeutung, hrsg. von Joseph Walk unter Mitarbeit von Daniel Cil Becher, Bracha Freundlich, Yoram Konrad Jacoby und Hans Isaak Weiss mit Beiträgen von Robert W. Kempner und Adalbert Rückerl, Heidelberg und Karlsruhe 1981.