Das Themenfeld Wergeld hat in der jüngeren Forschung nur recht wenig Aufmerksamkeit erhalten. Lediglich Stefan Esders und Philippe Depreux haben der Frage nach dem fränkischen Wergeld in drei Beiträgen neue Impulse gegeben.1 Umso erfreulicher ist das Erscheinen des vorliegenden Sammelbandes, dessen Beiträge auf eine internationale Tagung in Berlin im Jahre 2014 zurückgehen. Eine große Bereicherung stellt dabei auch das Bestreben der Herausgeber dar, den Blick auch über den fränkischen Tellerrand hinaus zu werfen und sowohl der angelsächsischen Praxis als auch dem Ende des Wergeldes im frühneuzeitlichen Dänemark Raum zu geben. Alle Beiträge sind in englischer Sprache verfasst. Die zitierten Quellen sind fast durchwegs übersetzt. Jedem Beitrag ist seine Bibliographie zugeordnet. Den Band beschließt ein allgemeiner, knapp gehaltener Index. Der Band selbst ist der 2015 verstorbenen Lisi Oliver gewidmet, deren eigener Beitrag mithin nur posthum erscheinen konnte.
Es ist ein reichhaltiger Band, der, nicht zuletzt wegen der Weitung des Blickes, einige überaus bedenkenswerte Beiträge enthält. Seit geraumer Zeit schon bestehen Zweifel, ob im fränkischen Reich die von den Leges festgelegten Wergelder tatsächlich in voller Höhe gezahlt wurden oder ob sie nicht vielmehr verhandelbar waren.2 Warren Brown stellt nun in seiner Untersuchung der fränkischen Formelsammlungen fest, dass in diesen die Wergeldhöhen durchgehend durch Platzhalter ersetzt wurden. Dies deutet er als Zeichen der prinzipiellen Verhandelbarkeit der Wergelder. Dem mag man entgegenhalten, dass es eben gerade der Charakter der Formeln ist, dass Zahlenangaben (wie auch alle anderen individuellen Marker wie Namen, Orte oder Daten, zum Teil selbst die Zahl der zu bringenden Eidhelfer) in aller Regel eben durch Platzhalter ersetzt sind, dies also nicht zwingend ein Hinweis für die Verhandelbarkeit der Wergelder sein muss.
Mehr noch, nur weil der in einer Formel dargelegte Tatbestand, etwa ein Tötungsdelikt, stehen blieb, bedeutete dies nicht, dass in jedem Fall ein konstantes Wergeld anzusetzen war. Die Formeln sagen uns nichts über den sozialen Status der Opfer, an welchem sich, worauf Harald Siems in seinem reichhaltigen Beitrag unter anderem hinweist, die Wergelder etwa der Lex Salica orientierten, die für Römer regelmäßig niedrigere Wergelder ansetzte als für Franken. Lukas Bothe stellt ganz ähnliche Kategorisierungen für die Lex Ribuaria fest, deren Wergeldhöhen sich nicht nur an sozialem Status, sondern auch an der Funktion(alität) der Opfer orientieren. Kategorien, nach denen offenkundig differenziert wurde, sind hier etwa Gebär- und Waffenfähigkeit, aber auch die Inhaberschaft öffentlicher Ämter. Bothe zeigt dabei eine zunehmende Verschiebung in Richtung Funktion, insbesondere für Amtsträger, deren Ursache er mit einem Zuwachs an königlicher Autorität, die diese besonders schützen wollte, erklärt. Neben der Differenzierung der Wergelder nach dem Status des Opfers innerhalb der einzelnen Leges könnte man auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Volksrechten noch als Argument anführen, gibt doch keine Formel an, nach welchem Recht das zu zahlende Wergeld bestimmt wurde. Diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechten beseitigte, wie Karl Ubls Beitrag zeigt, auch die karolingische Gesetzgebung nicht, die die regionalen Eigenheiten nicht vereinheitlichte, sondern sich an ihnen orientierte.
Die Formeln lassen also in mehrfacher Hinsicht Spielraum, der das Ersetzen der Wergeldsummen durch Platzhalter erklären könnte. Dennoch ist Browns Erklärung nicht einfach zu verwerfen, gibt sie doch (eine) Antwort auf das von Harald Siems in seinem Beitrag angesprochene Problem, wie die exorbitanten Summen von den Tätern aufzubringen waren. Immerhin zeigen andere Beiträge des Bandes, dass Wergelder an anderen Orten und zu anderen Zeiten trotz existierender Gesetzgebung durchaus verhandelbar waren. Dies zeigt Tom Lambert in seinen Ausführungen über das Kompositionensystem (die begriffliche Vielfalt im lateinischen und volkssprachlichen Gebrauch um den Komplex „Wergeld“ zeigt Wolfgang Haubrichs auf) im Recht Æthelberhts, wo offenbar ganz entgegen der klaren Vorschriften des von diesem gesetzten Rechts in der Praxis regelmäßig die Höhe von Kompositionszahlungen verhandelt wurde. Ganz ähnliches stellt auch Helle Vogt für das frühneuzeitliche Dänemark fest, wo die Wergeldzahlungen tatsächlich erst im 16. Jahrhundert abgeschafft und durch ein modernes Strafrecht ersetzt wurden.
Wenn Wergeldhöhen dort prinzipiell verhandelbar waren, warum wurden dann überhaupt gesetzliche Regelungen über ihre Höhen geschaffen? Eine Möglichkeit beleuchtet Lambert: In Æthelberhts England scheinen demnach die Kompositionszahlungen (eine Einführung in die angelsächsische Wergeldpraxis liefert der Beitrag von Lisi Oliver) vor allem mit Ehrverletzungen verbunden gewesen zu sein, mit erheblichen Konsequenzen für die Einschätzung des Wertes solcher Zahlungen. Wer sie annahm lief offenbar Gefahr, als feige oder auch als gierig zu erscheinen. Æthelberhts Gesetze sollten, so Lamberts These, dieser Wahrnehmung die Grundlage entziehen, indem sie die Zahlungen alternativlos machten. Æthelberht wäre es mit seiner Gesetzgebung entsprechend weniger darum gegangen, die exakte Höhe von Kompositionszahlungen festzulegen, als vielmehr die Bevölkerung dazu zu bringen, das Kompositionensystem überhaupt anzunehmen. In eine ähnliche Richtung geht auch das Erklärungsmodell Helle Vogts für das frühneuzeitliche dänische Kompositionensystem: hier scheinen die gesetzlichen Regelungen vor allem als Absicherung intendiert gewesen zu sein, die die Parteien primär dazu bringen sollten, sich außergerichtlich zu einigen.
Auf die Frage, wer welchen Vorteil aus dem Kompositionensystem zog, hat auch der bereits erwähnte Beitrag von Helle Vogt erhellende Antworten. Aus dem Diskurs über die Abschaffung des Kompositionensystems im Dänemark des 16. Jahrhunderts kristallisieren sich zwei Positionen heraus: Zum einen findet sich hier die Täterseite, die das Kompositionensystem offenbar nutzte, um sich verhältnismäßig kostengünstig aus der Affäre zu ziehen. Diese Seite tritt vor allem in der Argumentation der Kritiker des Systems zu Tage, die die Möglichkeit des Freikaufes von Körperverletzungen und Tötungsdelikten als Anreizsystem interpretierten, das eben diese Vergehen eher bestärkte als bekämpfte. Kritik an der tatsächlichen Abschaffung des Kompositionensystems kam dagegen aus unerwarteter Ecke, waren es doch gerade die Angehörigen der Opfer, die das Ende der Kompositionszahlungen bekämpften. Sie sahen sich nun doppelt bestraft, nahm ihnen das Tötungsdelikt doch nicht nur einen Angehörigen und damit dessen Verdienst, sondern obendrein auch noch die Ausgleichszahlung, die diesen Verdienstausfall zumindest teilweise kompensieren konnte.
Damit ergeben sich Parallelen, die auch für die fränkische Zeit nicht außer Acht gelassen werden sollten. Dies ist nicht der Ort, diese Frage weiter zu vertiefen, doch sei der Hinweis auf die Konfliktlösungsmechanismen der fränkischen Gesellschaft gestattet, die regelmäßig auch zu außergerichtlichen Lösungen führten. Immerhin zeigt auch die in vielen Beiträgen des Bandes zitierte Formel des Marculf3 eine in einem Tötungsdelikt nach außergerichtlicher Vermittlung erfolgte Wergeldzahlung. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung durften auch Priester gespielt haben. So macht Rob Meens in seinem Beitrag die zunächst selbstverständlich erscheinende Präsenz weltlicher Strafen neben geistlichen Bußen in den frühmittelalterlichen Bußbüchern aus, die auf eine Beteiligung der Priester an der Konfliktlösung hinweisen. Mit dem Ende des 8. Jahrhunderts verlieren diese weltlichen Strafen allerdings offenbar zunehmend an Präzision während zugleich Sünde und Buße immer mehr Betonung finden.
Damit erschöpfen sich die Beiträge des Bandes jedoch keineswegs. Das bereits im Beitrag von Tom Lambert angesprochene Thema Ehre untersucht auch Han Nijdam anhand der friesischen Quellen. Ehre sieht er als Verlängerung des Körpers und des Geistes an, Wergeld deutet er entsprechend als Ausgleich für eine erlittene Ehrverletzung. Nicht nur das Wergeld selbst gleicht dabei die Ehrverletzung aus, sondern auch das mit Demütigung des Täters verbundene Übergabezeremoniell. Unvollständig wäre ein Sammelband über das Wergeld auch ohne Überlegungen zur Herkunft des Wergeldmodells. So beleuchtet Ralph Mathisen den Umgang mit Geldstrafen und Kompositionen im spätantiken römischen Recht und grenzt diesen, im Gegensatz zu Christophe Camby,4 zurecht klar von frühmittelalterlichen Praxis ab. Gewissermaßen einen Ausklang aus dem Band bietet der abschließende Beitrag von Paul Hyams, der das Wergeldkonzept in die Rechtstradition des Westens einzuordnen sucht und dabei die wesentlichen, bereits zuvor angesprochenen mit dem Wergeldsystem verbundenen Aspekte nochmals aufrollt und gedanklich weiterführt. Mit „Wergild, Compensation and Penance“ haben die Herausgeber einen bedeutenden Sammelband vorgelegt, der die Wergeldforschung noch lange beschäftigen wird.
Anmerkungen:
1 Stefan Esders, Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich, in: Steffen Patzold / Karl Ubl (Hrsg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000), Berlin u.a. 2014, S. 141–159; Stefan Esders, „Eliten“ und „Strafrecht“ im frühen Mittelalter. Überlegungen zu den Bußen- und Wergeldkatalogen der Leges barbarorum, in: François Bougard / Hans-Werner Goetz / Régine Le Jan (Hrsg.), Théorie et pratiques des élites au Haut Moyen Âge, Turnhout 2011, S. 261–282; Philippe Depreux, Wergeld, composition et rachat dans les capitulaires des rois francs, in: Jacqueline Hoareau-Dodinau / Guillaume Métairie / Pascal Texier (Hrsg.), La victime II - La réparation du dommage, Limoges 2009, S. 345–362.
2 Vgl. etwa Esders, Wergeld und soziale Netzwerke, S. 147f.
3Formulae Marculfi II,18, ed. Karl Zeumer (MGH Formulae), Hannover 1886, S. 88f.
4 Christophe Camby, Wergeld ou uueregildus: le rachat pécuniaire de l'offense entre continuités romaines et innovation germanique, Genève 2013 hingewiesen. Vgl. dazu jedoch Heinz Holzhauer, Nachhallendes Wortgefecht, in: Rechtsgeschichte – Legal History 24 (2016), S. 441–444.